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Was ist mit den Wunden?
Bild: By Caravaggio - Personal image, Public Domain, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=124418425

Was ist mit den Wunden?

Dr. Willi Temme
Ein Beitrag von Dr. Willi Temme, Evangelischer Pfarrer, Martinskirche Kassel
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Dieses Bild ist zum Luftanhalten. 

Beeindruckend, wie außergewöhnlich der Barock-Maler Caravaggio den auferstandenen Jesus gemalt hat. Auf diesem sehr berühmten Gemälde ist Jesus mit nacktem Oberkörper zu sehen, wie er seine offene Seitenwunde zeigt. Diese Wunde hat ihm ein Soldat mit seinem Speer zugefügt, als er am Kreuz hing und gestorben war.

Was Caravaggios Bild vom ungläubigen Thomas zeigt

Auf dem Bild sind es drei Betrachter, die alle wie gebannt auf den klaffenden Schlitz der Seitenwunde schauen. Und einer der drei Männer, die vor Jesus stehen, schaut nicht nur, sondern tut auch etwas: mit dem ausgestreckten Zeigefinger seiner rechten Hand dringt er tief in die Wunde ein, wobei Jesus selbst ihm dabei die Hand führt. „Aua!“ möchte man rufen! „Das tut doch weh!“

So körperlich, so drastisch hat wohl kein anderer Maler die biblische Geschichte vom ungläubigen Thomas dargestellt. 
Um diese Begegnung von Jesus und seinem Jünger Thomas soll es heute Morgen gehen. Und ganz besonders um die Frage: Was ist mit der Wunde?

Musik:  D. Buxtehude: „Quid sunt plagae istae” aus: Membra Jesu nostri, BuxWV 62 

Glaube an den Auferstandenen

Das Johannesevangelium berichtet, wie Jesus nach seinem Tod am Kreuz immer wieder seinen Jüngerinnen und Jüngern erschienen ist. So kamen sie zu der Überzeugung: Jesus lebt. Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Und diese Nachricht sagten sie weiter, und viele Menschen glaubten an den auferstandenen Jesus.

Zweifel des Jüngers Thomas

Einer aber, der das nicht glauben konnte, war Thomas. Er war selber ein Jünger Jesu. Bislang war er aber nie dabei gewesen, wenn solche Erscheinungen passierten. Und nur so vom Hörensagen konnte er sich auf die Sache mit der Auferstehung nicht einlassen. Er sagte: 

"Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln
an seinen Händen sehen.
Mit meinem Finger will ich sie fühlen.
Und ich will meine Hand
in die Wunde an seiner Seite legen.
Sonst glaube ich nicht!"

Wie Thomas den Auferstandenen erkennt

Und unsere Geschichte erzählt: Thomas durfte das erleben. Jesus erschien im Kreis seiner Jünger, und diesmal war Thomas mit dabei. Wörtlich heißt es da weiter:

27 Jesus sagte zu Thomas:
"Nimm deinen Finger
und untersuche meine Hände.
Strecke deine Hand aus
und lege sie in die Wunde an meiner Seite.
Du sollst nicht länger ungläubig sein,
sondern zum Glauben kommen!"
28 Thomas antwortete ihm:
"Mein Herr und mein Gott!"
29 Da sagte Jesus zu ihm:
"Du glaubst,
weil du mich gesehen hast.
Glückselig sind die,
die mich nicht sehen
und trotzdem glauben!“

Eine überwältigende Erfahrung

Der biblische Bericht lässt im Unterschied zum Gemälde offen, ob Thomas nun tatsächlich, wie er es unbedingt wollte, die Wunden Jesu berührt und betastet hat. Aber allein die Tatsache, dass Jesus es gestattete und solche Nähe zuließ, ist für Thomas eine überwältigende Erfahrung. Er erfährt in und durch Jesus den lebendigen Gott. 

Musik: D. Buxtehude: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ BuxWV 44 

Eine überwältigende Erfahrung

Was mir an der Geschichte von Thomas und dem auferstanden Jesus besonders wichtig ist, das ist die Betonung: Glaube und Erfahrung gehören zusammen. Zwar heißt es da zum Schluss: „Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!“ Aber die Geschichte selber handelt eben doch vom Gegenteil. 

Sie zeigt uns Thomas, der glückselig wird, weil er sehen darf. Und sie handelt von Thomas, der zu einer neuen Erkenntnis kommt, weil er fühlen darf. Thomas darf sehen und fühlen. Thomas darf seine Sinne gebrauchen. Und mit diesem Thomas will ich’s selber halten. 

Mein Glaube braucht Erdung

Mir ist es wichtig, dass mein Glaube auf Erfahrung gründet. Mein Glaube ist keine Sache, die sich irgendwo über den Wolken abspielt. Sondern mein Glaube braucht immer wieder die Erdung. Mein Glaube braucht immer wieder aufs Neue – wie soll ich es sagen? Ich sage einmal: - Gotteserfahrungen. Mein Glaube braucht Erfahrungen mit dem lebendigen Gott im Hier und Jetzt. 

In der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus macht Thomas eine solche Erfahrung mit Gott. Und ich behaupte einmal: Nur wer Erfahrungen mit Gott macht, der kann auch glauben.

Thomasgeschichte eröffnet was

Mir selber ist der Auferstandene noch nie so erschienen, wie er dem Thomas begegnet ist. Aber in der Geschichte von Thomas und dem auferstandenen Jesus finde ich einen Schlüssel, der mir Türen aufschließen kann. Einen Schlüssel, der mir möglicherweise Zugang verschafft zu Erfahrungen mit dem lebendigen Gott.

Musik: D. Buxtehude:  Sonata. Adagio aus: Membra Jesu nostri 

Sehnsucht nach Gotteserfahrungen

Erfahrungen mit dem lebendigen Gott – wer wünscht sich das nicht? Manche Menschen verbinden damit die Vorstellung und die Sehnsucht: Ich möchte etwas Übernatürliches erleben, etwas, das meine bisherigen Erfahrungen des Lebens in den Schatten stellt.

Die Sehnsucht nach einer überwältigenden Erfahrung, die den Alltag hinter sich lässt, hat seit jeher Menschen angetrieben. Und oftmals hat diese Sehnsucht die Suchenden auf sehr extreme Wege geführt. 

Manchen eröffnete LSD neue Erfahrungswelten

Vor sechzig Jahren etwa, zu Zeiten der Hippie-Bewegung, haben viele Männer und Frauen das Mittel zu diesen Erfahrungen in harten Drogen gesehen.

Natürlich ging es nicht allen dabei um eine spirituelle Sinnsuche, aber für einige wurde der Trip, wie sie selber später berichteten, zu einem religiösen Erlebnis.
Mit LSD ließ man alles Bekannte hinter sich, und man erlebte neue, ungeahnte Bewusstseinswelten. 

Ungestillte Sehnsucht

Aber waren diese extremen Erfahrungen tatsächlich auch Gotteserfahrungen? Die Antworten auf diese Frage werden bei den Betroffenen sicher sehr unterschiedlich ausfallen. Für manche Männer und Frauen öffnete sich hier tatsächlich das Leben neu, und sie fanden einen Weg zu Gott.

Fest steht aber auch: so manche Gottessucherin und so mancher Gottessucher erlitt damals einen furchtbaren Absturz. Statt Gott im Himmel erlebte so mancher Drogenkonsument eine schreckliche Bewusstseinshölle. Die Sehnsucht nach dem lebendigen Gott – sie blieb bei vielen ungestillt.

Gotteserfahrungen durch Askese?

Ein anderer Weg, Erfahrungen mit dem lebendigen Gott zu machen, war seit jeher - und wohl auch in den allermeisten Religionen verbreitet – der Weg extremer Askese, der Weg des Verzichts und der Entbehrung. 

Im Christentum suchten schon früh Mönche die Einsamkeit und die Unwirtlichkeit der Wüste. Abgeschieden von der Welt wollten sie den lebendigen Gott erfahren. Wie schwer dieser Weg war, davon berichten viele alte Quellen. 

Nicht alle erreichten durch Askese ihr Ziel

Mag durchaus sein, dass einige dieser Gottessucher ihr Ziel wirklich erreichten und ihre Sehnsucht nach dem lebendigen Gott gestillt wurde. Fest steht aber auch: Viele haben dieses extreme Leben nicht aushalten können. Sie wurden überwältigt von Erfahrungen der Verzweiflung und der Depression.

Dennoch: Ohne Erfahrungen kein Glaube

Die Suche nach lebendigen Gotteserfahrungen scheint offenbar keine leichte Angelegenheit zu sein. Und doch bleibt es für mich dabei: Ohne Erfahrung kein lebendiger Glaube. 

Ganz sicher gibt es viele Weisen, wie der lebendige Gott uns Menschen begegnet. Für eine dieser Weisen kann die Geschichte von Thomas und dem auferstandenen Jesus einen Schlüssel liefern. Vielleicht passt dieser Schlüssel auch für uns.

Musik: D. Buxtehude: Sonata in tremulo aus: Membra Jesu nostri 

Thomas will Jesu Wunden ertasten

Etwas, was die Geschichte von Thomas und dem auferstanden Jesus von allen Geschichten der Bibel unterscheidet, ist die Sache mit den Wunden. Wie mit einem Zoom werden in dieser Geschichte die Wunden, die Jesus am Kreuz erlitten hat, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gezogen. 

Thomas will nicht nur die Wunden am Leib Jesu sehen, nein, er will die Wunden ertasten und erfühlen können – erst dann kann er glauben. So sagt er. Und so wird’s ihm schließlich auch gewährt.

Warum dienen die Wunden als Beweis seiner Auferstehung?

Und die Frage drängt sich auf: Warum müssen es denn unbedingt die Wunden sein? Warum beglaubigen nur und allein die Wunden am Leib des Gekreuzigten die neue Wirklichkeit der Auferstehung? Warum tut’s für Thomas da nicht ein Händedruck oder eine Umarmung? Warum muss er seinen Finger in diese Schmerzenshöhlen legen? Kann er nur so verstehen und annehmen: Ja, tatsächlich: er ist es. Jesus, der Gekreuzigte, lebt.

Unsere Wunden prägen unser Leben

Ich meine: es gibt wohl weniges in unserem Leben, das uns mehr bestimmt als die Wunden, die uns das Leben geschlagen hat. Wir alle tragen eine ganze Reihe von Wunden mit uns herum. Und weniges bestimmt unsere Art und Weise zu leben und zu reagieren mehr als eben die Wunden, die ein Teil von uns geworden sind. 

Die Meisten Wunden sind unsichtbar

Ganz sicher ist da auch die eine oder andere vernarbte Wunde dabei, die man sogar sehen kann. Aber die meisten unserer Wunden sind unsichtbar. Die meisten sind alte Verletzungen. Und je früher wir sie erlitten haben, desto mächtiger können diese Wunden unser Verhalten bestimmen. Manchmal ein ganzes Leben lang. 

Wer wir sind und was unsere Identität ist: nicht zuletzt sind es die Wunden, die uns und unser Verhalten prägen. Ohne die Wunden wären wir heute nicht die, die wir sind.

Andere verstehen, wenn wir um ihre Wunde wissen

Und so ist es natürlich auch mit unseren Mitmenschen.
Manchmal können wir das Verhalten eines Menschen überhaupt nicht verstehen: Warum tut er das jetzt? Warum verhält er sich so? Muss er denn unbedingt so schroff sein? Was habe ich ihm denn getan?

Und dann kann es vorkommen, dass uns dieser Mensch seine Geschichte erzählt. Er fasst Vertrauen zu uns, und er erzählt von seinen Wunden und von seinen Verletzungen.

Und erst dann gehen uns die Augen auf. Und erst dann erkennen wir:

Ah, das bist du also.
 

Durch Vertrauen öffnen sich neue Wege

Ja, es ist so: Verwundungen und alte Narben bestimmen unser Wesen. Und dankbar können wir sein, wenn Menschen uns Vertrauen schenken. Wenn sie bereit sind, uns ihre Wunden zu zeigen. Wenn sie sich überwinden und uns sagen: da und da bin ich verletzt. Und da und da spüre ich noch immer den Schmerz. Wo uns solches Vertrauen geschenkt wird, tut sich oft ein neuer Weg auf und mitunter auch andere Dimensionen des Lebens.

Musik: D. Buxtehude: Ich bin die Auferstehung und das Leben

Die Geschichte von Thomas und Jesus zeigt uns den Auferstandenen wie sonst in keiner anderen Geschichte. Diese Geschichte betont:

Was Thomas - Geschichte über Jesus sagt

Jesus, der Auferstandene: Er ist der, der die Wunden noch immer an sich trägt.
Jesus, der Auferstandene: Er ist der, der seine Verletzungen und Wunden zeigt. Er nimmt die Wunden an.
Jesus, der Auferstandene: Er ist der, der bereit ist, sich fremden Blicken auszusetzen und sich verletzt und schutzlos zu zeigen. 

Ja, so plastisch wird uns das erzählt, wie Jesus diese Nähe zulässt und gewährt und wie Thomas mit seinem Finger die Wunden betasten darf, dass man fast „Aua“ rufen möchte. Denn das muss doch wehtun, oder nicht, wenn da einer seinen Finger in eine Wunde legt. Aber Jesus lässt es zu. Er schenkt seinem Jünger das Vertrauen. Ein Vertrauen,das die Gegenwart Gottes erfahrbar macht.

Thomas erfährt den lebendigen Gott

Und in diesem Moment macht der Jünger die Erfahrung seines Lebens. Thomas erfährt den lebendigen Gott. In der Wahrnehmung der Wunden Jesu und in dem Vertrauen, das Jesus ihm schenkt, öffnet sich ihm das Leben neu. Die Wunden sind für ihn zu einem Ort der Gotteserfahrung geworden.

Glaube und Erfahrung gehören zusammen.
Und der Glaube braucht immer wieder die Erfahrung des lebendigen Gottes. So viel war klar.
Nur wer hätte gedacht, dass diese Erfahrung mitunter nicht in fernen Welten gemacht wird, sondern da, wo wir sie vielleicht am wenigsten suchen würden? 

In den Wunden steckt Leben

So widersinnig es scheinen mag, aber unsere Geschichte sagt es klipp und klar: Im Umgang mit den Wunden steckt das Leben. Ein Leben, dessen Grundlage Vertrauen ist. Wo Wunden auf Vertrauen stoßen, eröffnet sich eine neue, ungeahnte Dimension des Lebens. Gott hat es durch Jesus gezeigt.

Musik: D. Buxtehude: Ich bin die Auferstehung und das Leben 

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