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Geborgen im Letzten und daher zuversichtlich unterwegs
Bild: Jerzy Górecki/Pixabay

Geborgen im Letzten und daher zuversichtlich unterwegs

Dr. Michael Gerber
Ein Beitrag von Dr. Michael Gerber, Bischof von Fulda
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Liebe Hörerinnen und Hörer,

zum neuen Jahr wünsche ich Ihnen reichen Gottes Segen.

Wie ist heute Morgen unser Blick auf das nun angebrochene Jahr? Welche Stimmungslage überwiegt, wenn wir auf die Entwicklungen in unserer großen Welt wie auch im persönlichen Bereich schauen? Gespannte Erwartung oder sorgenvolle Zurückhaltung? Unser erster Musikbeitrag greift diese doppelte Stimmungslage auf.

Musik: Johann Sebastian Bach – Weihnachtsoratorium - Erste Kantate Choral „Wie soll ich dich empfangen“

Der Moment des Erwartungsvollen scheint in diesem ersten Choral des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach zu überwiegen. Dem Choral voraus geht die Ankündigung der Geburt Jesu. Zwischen diese Verse des Lukasevangeliums und den Choral fügt Bach noch ein Rezitativ ein, in dem von der Ankunft eines Bräutigams die Rede ist. In der christlichen Spiritualität gibt es eine breite Tradition, die Christus als einen Bräutigam deutet. Dabei werden Texte aus der Tradition Israels aufgegriffen, insbesondere aus dem Hohen Lied. Wo dort vom Bräutigam die Rede ist, wird dieser mit Jesus identifiziert.

Doppeldeutig: Jesus der Bräutigam

Zu Beginn der Kantate wird uns Jesus als Kind und als Bräutigam vorgestellt. Bach verschränkt damit zwei Bewegungen ineinander, die in Menschen aller Zeiten und Kulturen in der Regel die freudigste Erwartung auslösen: einerseits die Geburt eines langen ersehnten Kindes und andererseits die Begegnung von Braut und Bräutigam in der Erwartung, sich endlich gegenseitig das Jawort zu geben. Für manche Hörerin und manchen Hörer mag das am heutigen Tag zur Stimmungslage passen. Ich denke an die Menschen aus meinem Umfeld, die in den kommenden Monaten ein Kind erwarten oder die ihre Hochzeit terminiert haben.

Für viele unter uns mag diese Hochstimmung jedoch nicht zutreffen. Die weltpolitische Lage weist deutlich in eine eher tragische Richtung. Aber gerade das Sorgenvolle, ja das Dramatische lässt sich – im wahrsten Sinne des Wortes – in der Stimmung des Chorals finden. Dafür steht die Melodie, die Bach verwendet. Den in der Kirchenmusik Bewanderten ist diese Melodie vertraut, jedoch aus einem völlig anderen Kontext. Mit der Melodie unseres Eingangschorals ist auch das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ vertont. Dieses beschreibt in barocker Anschaulichkeit die Spuren, die der sterbende Jesus von der gerade erlittenen Folter am Leib trägt. In dieser Darstellung können wir auch einen Verweis auf viele Tragödien auch unserer Tage entdecken.

„Wie soll ich dich empfangen“ – darauf reimt sich das „aller Welt verlangen“. Bach drückt damit aus, dass sich in der Geburt Jesu eine Sehnsucht der Menschen erfüllt. Und doch drückt die Frage „Wie soll ich dich empfangen“ auch die Grunderfahrung einer Überforderung aus. „Wie soll das geschehen …“ hatte Maria in der Stunde gefragt, in der ihr durch den Engel angekündigt wurde, dass sie die Mutter Jesu werden soll. „Wie soll ich dich empfangen …“ könnte also auch eine Frage oder ein Gebet der Mutter Jesu selbst sein, die ihn ja, wie wir in einer alten Redewendung sagen, neun Monate vor Weihnachten empfangen hat.

Der Choral ist an jener Stelle eingefügt, an der Maria hochschwanger mit Josef nach einem Ort für die Geburt sucht. Lukas stellt dies so dar, dass die Menschen in der Stadt Bethlehem ihrerseits überfordert sind, das Paar aufzunehmen. Wo wir im Blick auf das, was im angebrochenen Jahr auf uns zukommen könnte, vom Gefühl der Überforderung geprägt sind, wo wir von Sorge geprägt sind, wohin das Jahr uns führt, dort sind wir bei Maria und Josef also in bester Gesellschaft.

Als Menschen, die ganz in der Tradition Israels aufgewachsen sind, haben Maria und Josef auf ihrem Weg nach Bethlehem mit sehr großer Wahrscheinlichkeit das getan, was gläubige Juden auch heute bei ganz unterschiedlichen Anlässen tun: Sie beten die Psalmen. Wenn in der Beschreibung des Lukas der Weg der beiden von Nazareth nach Bethlehem führt, dann folgen gut 90 Prozent der Strecke der Route, die gläubige Wallfahrer von Galiläa aus zum Tempel nach Jerusalem gepilgert sind. Nun standen sie wenige Kilometer südlich von Jerusalem – in Bethlehem – aber vor verschlossenen Türen. In der Herberge war kein Platz mehr. „Ihr Tore, hebt eure Häupter, hebt euch, ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit.“ Gut möglich, dass Maria und Josef bei ihrer erfolglosen Herbergssuche in Bethlehem diese Verse des Psalms 24 auf den Lippen oder zumindest gedanklich im Herzen hatten. Wir hören sie jetzt in der Vertonung des englischen Komponisten Samuel Coleridge-Taylor, der von 1875 bis 1912 lebte. Selbst Farbiger, erfuhr sich als Wanderer zwischen den musikalischen Welten Europas und Afrikas.

Musik: Samuel Coleridge-Taylor - Lift up your heads

In gewisser Weise verwandt mit den Psalmen, die das Motiv von der Wallfahrt nach Jerusalem aufgreifen, ist ein Wort, das den Beginn des neunten Kapitels des Buches des Propheten Jesaja markiert: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf.“ (Jes 9,1.) Wir hören diese Worte gleich in der Vertonung der Arie aus dem Oratorium „Messias“ von Georg Friedrich Händel. Die Texte bei Jesaja sind geprägt vom Eindruck der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier und die Verschleppung der Elite Israels in das Zweistromland. In doppelter Weise macht damit das Volk Israels die Erfahrung einer Ortlosigkeit. Die führenden Menschen des Volkes sind an einem fremden Ort. Dem Volk selbst ist der Ort genommen, den es als Mitte erfährt, der Tempel in Jerusalem.

Der Lebensmittelpunkt hat sich verschoben, kein Ort, sondern eine Person gibt Halt

Einige Jahrhunderte später und nur wenige Jahrzehnte nach dem Tod Jesu wird diese Erfahrung wiederum grausame Realität. Die Römer besiegen den jüdischen Widerstand. Sie zerstören Jerusalem und den Tempel. Ein großer Teil der gläubigen Juden muss Jerusalem und Palästina verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Jerusalem und der Tempel auch für jene, die im Glauben Israels groß geworden waren und nun an Jesus als den Messias glaubten, wichtige, ja entscheidende Bezugsorte. Nun sind die Tore des Tempels, von denen eben noch der Psalm gesungen hat, nicht mehr da. Wüst und leer liegt die Stadt in Trümmern.

Welcher Ort gibt nun ihrem Leben eine Mitte? Diese Frage stellt sich nach der Zerstörung Jerusalems allen, die im Glauben und damit in der Tradition Israels aufgewachsen waren. Für die einen bleibt Jerusalem der Sehnsuchtsort. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ – so drücken es gläubige Juden jedes Jahr am Pessachfest bis heute aus und stellen sich damit in die Tradition ihrer Vorfahren, die schon vor über zwei Jahrtausenden Jahren nach Jerusalem gepilgert waren.

Die anderen finden den Ort, der ihrem Leben eine Mitte gibt, nicht mehr in der Stadt mit dem nunmehr zerstörten Tempel. Für sie verändert sich das, was über Jahrhunderte selbstverständlich gewesen war. Die Mitte ihres Glaubens wird jetzt nicht mehr durch eine Stadt markiert, zu der man, wenn es möglich ist, von Zeit zu Zeit pilgert. Ihre Mitte ist nicht mehr ein geographisch bestimmbarer Ort, sondern vielmehr eine historisch fassbare Person, nämlich Jesus von Nazareth, der Christus.

In der Darstellung der Weisen aus dem Morgenland klingt diese „Ortsverschiebung“ – wie man sagen könnte – des christlichen Glaubens an. Die Sterndeuter werden als Menschen geschildert, die nach Jerusalem pilgern. Doch ihr letztes Ziel finden sie anderswo – an einem Ort, der vordergründig unbedeutend ist. Ihr letztes Ziel ist gar nicht dieser Ort, sondern es ist eine Person, es ist der neugeborene Jesus. Das ist eine Kernaussage der christlichen Botschaft. Menschliche Suche, die Erfahrung der Ortlosigkeit und die Sehnsucht nach Heimat finden ihre letzte Erfüllung nicht an einem bestimmten geografischen Ort, sondern in einer Person. Der christliche Glaube ist damit anschlussfähig an eine Grunderfahrung des Menschen. So wichtig uns Orte im Laufe unseres Lebens werden, entscheidend ist die Erfahrung, im Herzen eines Menschen zu Hause zu sein.

Musik: Georg Friedrich Händel - Oratorium - Messias „The People that walked in darkness“

Es ist der Mensch, der Heimat gibt

Unsere Morgenfeier haben wir begonnen mit dem ersten Choral aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Wir beenden sie mit dem Schluss-Choral und dort heißt es in der letzten Zeile „Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht“. Da klingt wieder diese Sehnsucht an Heimat zu finden in einem „Du“, in einem Gegenüber, das mich annimmt. Hier ist Gott selbst dieses „Du“. Die letzten im Oratorium gesungenen Verse sind Ausdruck des Glaubens, der Bach – bei allen Schicksalsschlägen, die er selbst erlebt hat – geprägt hat. Mein Weg findet sein Ziel in einem „Du“. Dies gibt meiner Wanderschaft gleichsam von Herberge zu Herberge eine innere Kraft und Dynamik. Wo ich um eine letzte Form von Geborgenheit, von Heimat weiß, kann ich meinen Weg mit einer inneren Gelassenheit gehen.

Bei Bach ist dies keine naive Weltflucht. Schon im Matthäusevangelium schließt die Beschreibung der Geburt Jesu nicht mit einem vordergründig glücklichen Ende. Vielmehr folgt die Flucht vor der Verfolgung des Herodes. Die Ortlosigkeit, die das Paar vor der Geburt erlebt hat, setzt sich also unmittelbar fort. Die Vertonung des Chorals mit Pauken und Trompeten kann darüber nicht hinwegtäuschen. Dem Schluss-Choral des Weihnachtsoratoriums liegt dieselbe Melodie zugrunde wie dem ersten Choral – eben die des Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“. Mit dieser Melodie wird das besungen, was Christinnen und Christen mit Ostern verbinden: „Denn Christus hat zerbrochen, was euch zuwider war, heißt es zuvor im Choral.“

Damit bringt Bach eine tiefe Überzeugung zum Ausdruck, die Christinnen und Christen seit dem ersten Jahrhundert prägt. Das Leid wird nicht dadurch überwunden, dass es ausgeblendet wird. Jesus, dessen Geburt wir in diesen Tagen feiern, wird als der Auferstandene gerade an seinen Wunden erkannt, die er durch die Kreuzigung erlitten hat. Er, den die Christen als den Erlöser bekennen, er kennt die Abgründe des menschlichen Daseins: Ortlosigkeit, Flucht, Verfolgung, unrechtmäßige Verurteilung, schließlich die Hinrichtung.

Dort, wo der Mensch einsam und hilfesuchend ist, dort ist Gott

„Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.“ Was Bach hier ans Ende des Weihnachtsoratoriums stellt, ist damit nicht einfach eine Vertröstung auf die Ewigkeit. Nein, Christen aller Zeiten haben dies als Gegenwart erfahren. Wo ich mich als ortlos, suchend, verfolgt, überfordert erfahre, da habe ich jetzt meine Stelle bei Gott, da zeigt Gott mir im Weg Jesu seine Gegenwart. Meine Grenzerfahrung findet bei ihm Resonanz. Musikalisch bringt dies Bach zum Ausdruck, wenn zwischen den jubelnden Trompeten immer noch die Melodie des Schmerzensliedes durchklingt, doch in einer neuen Klangfärbung.

Wie gehen wir in dieses neue Jahr? Erwartungsvoll oder sorgenvoll? So manche Schmerzensmelodie wird uns auch dieses Jahr wieder prägen. Der Schluss-Choral bringt die Zuversicht zum Ausdruck, dass wir gerade mit unserer persönlichen Schmerzensmelodie bei Gott unsere Stelle, unseren Ort haben. Dies möge dem Weg durch dieses Jahr eine eigene Klangfärbung verleihen und uns damit Kraft geben für jene Schritte, zu denen wir in den kommenden Monaten herausgefordert sind.

Musik: Johann Sebastian Bach – Weihnachtsoratorium - Schlusschoral „Nun seid ihr wohl gerochen“

Musikauswahl: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

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