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Eigentlich ist es doch ganz schön
Bild: unsplash / Benjamin Brunner

Eigentlich ist es doch ganz schön

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Sie will nicht mehr, sagt sie. An der Bushaltestelle. Sie will nicht mehr leben. Neunzig Jahre ist sie, sieht aber aus wie fünfundsiebzig. Feine Haut, elegante Frisur, wie aus dem Ei gepellt.

Verlorenen Lebensfreude

Das Laufen, sagt sie, die Luft. Seit vierzig Jahren ist sie Witwe. Der Mann starb von einer Minute zur andern. Die Arbeit lenkte mich ab, sagt sie. Heute aber sind viele Tage gleich. Sonntags Kirche, das war gut. Geht aber nicht mehr. Das Laufen, die Luft. Zur Bank und zum Einkaufen fährt sie mit dem Bus, das geht. Kerzengerade steht sie da. Wenn doch der Herrgott ein Einsehen hätte, sagt sie. Soll man ihr das ausreden?

Sie hat das Recht so zu fühlen

Nein, soll man nicht. Jede und jeder hat ein Recht auf diese Empfindung. Der alten Dame wird das Leben zu viel. Das Sorgen und Putzen, das Einkaufen und Waschen. Sie hat das Recht, so zu fühlen. Sie darf den Herrgott bitten: Hol mich zu dir. Und zum Ehemann, der schon so lange tot ist. Wieder bei dem sein, der ihr Liebster war. Das redet man ihr nicht aus.

Jemanden zuhören, nicht urteilen

Besser hört man einfach zu und achtet auf die Gefühle hinter den Worten. Die wollen ja eigentlich raus. Alleinsein, verborgene Schmerzen, vielleicht Weltmüdigkeit. Das muss raus. Ist ja niemand in der Wohnung, der das mal hört. Dann eben auf der Straße, an der Haltestelle. 

Da hört es jemand. Und redet nicht dagegen. Die alte Frau putzt sich die Nase. Muss Luft holen. Man hört den schweren Atem der Traurigkeit. So schön war das mit meinem Mann, sagt sie. Leider ohne Kinder.

Veränderung durch Rückblick aufs ganze Leben

Sonst aber nur Glück. Sie strahlt jetzt ein bisschen. Mein Nachbar fährt mich immer zum Friedhof. Seine Mutter liegt dort. Überhaupt die Nachbarn, sagt sie dann und zählt alle auf. Früher war mehr Streit, heute mögen wir uns. Weihnachten geht sie nach nebenan. So ein Glück, sagt sie und sieht ihr Leben. Ihr ganzes Leben. Nicht nur die Traurigkeit. Lange schaut sie nur, vergisst Haltestelle und Zuhörer. „Eigentlich“, sagt sie dann und holt Luft, „eigentlich ging’s mir immer gut. Eigentlich ist es doch ganz schön, mein Leben.“

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