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Kleine Dinge wie diese
Bild: B. Hirt

Kleine Dinge wie diese

Dr. Annette Wiesheu
Ein Beitrag von Dr. Annette Wiesheu, Theologische Referentin des Bischofs von Mainz
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Weihnachtsgeschichten – das sind meist stimmungsvolle Erzählungen, die zur Weihnachtszeit spielen, in der Regel gut ausgehen und anschaulich machen sollen: Weihnachten ist irgendwie doch das Fest der Liebe. Jetzt, in der Adventszeit sind diese Geschichten besonders beliebt, zum Vorlesen für Kinder, beim gemütlichen Adventskaffee oder als Film im Kino.

Eine schockierende Entdeckung

Kürzlich habe ich eine Geschichte gelesen, die auch in der Weihnachtszeit spielt, aber doch ganz anders ist. „Kleine Dinge wie diese“, heißt der Roman der irischen Autorin Claire Keegan. Er spielt in einer Kleinstadt in Irland in den 1980er Jahren. Im Mittelpunkt steht der Kohlenhändler Bill Furlong, kurz vor Weihnachten macht er zufällig eine schockierende Entdeckung: Bei einer Lieferung an das örtliche Nonnenkloster trifft er auf eine Gruppe verwahrloster Mädchen, die dort leben und ihn verzweifelt um Hilfe bitten. Und er findet in einem Kohlenschuppen des Klosters eine völlig verängstigte, frierende junge Frau, später stellt sich heraus, dass sie vor kurzem ein Kind geboren hat, das ihr wohl weggenommen worden war.

Das ist traurige Realität

Der historische Hintergrund der Geschichte sind die Magdalenenheime, die es in Irland bis weit ins 20. Jahrhundert gab. Diese Heime wurden von Nonnen betrieben, dort wurden Mädchen und Frauen untergebracht, deren Leben nicht zu den Moralvorstellungen der Zeit passte: die unverheiratet ein Kind bekommen haben, die anders leben wollten, als die Gesellschaft es von ihnen erwartete, oder auch behindert oder psychisch krank waren. Sie wurden in diese Heime abgeschoben, mussten dort schwer arbeiten, meist in Wäschereien, unter schlechten Bedingungen und ohne gerechte Bezahlung. Und auch das ist keine Erfindung, sondern traurige Realität: Unverheirateten Müttern wurden oft ihre Babys nach der Geburt weggenommen, um sie zur Adoption freizugeben, wie es in dem Roman angedeutet wird.

Beim Versteckspiel im Kohlenschuppen vergessen

Mich hat der Roman „Kleine Dinge wie diese“ sehr beeindruckt, er ist großartig erzählt. In knappen Worten schildert er die Erlebnisse des Kohlenhändlers Bill  Furlong: seine Begegnungen mit den jungen Frauen, die Andeutungen über ihr Schicksal, die er immer wieder in der Stadt hört; sein Gespräch mit den Nonnen, die ihm bei Tee und Kuchen glauben machen wollen, die junge Frau wäre nur beim Versteckspiel im Kohlenschuppen vergessen worden; die Warnungen aus seinem Umfeld, sich ja nicht mit den Nonnen anzulegen. Die haben ihre Finger überall drin. Seine eigenen Töchter würden dann bestimmt keinen Platz mehr in der Schule der Nonnen bekommen, der einzigen höheren Schule am Ort. 

Das Herz auf dem rechten Fleck

Weihnachtliche Gemütlichkeit lässt diese Geschichte nicht aufkommen. Aber dennoch finde ich: Es ist eine Weihnachtsgeschichte. Denn: Bill Furlong in dem Roman lässt sich vom Elend der Frauen berühren, er hinterfragt, was er sieht und was ihm erzählt wird – und er schlägt sich am Ende auf die Seite der Schwachen. Ich möchte sagen: Er nimmt die Botschaft von Weihnachten, die Botschaft des Evangeliums wirklich ernst: Gott kommt als kleines schwaches Kind, und er steht auf der Seite der Schwachen. Die Nonnen gehen jeden Tag zur Kirche und hören das Evangelium, aber trotzdem verstehen nicht sie diese Botschaft, sondern der Kohlenhändler, der einfach das Herz auf dem rechten Fleck hat. Und das lässt mich auch denken: Die Botschaft von Weihnachten wird vielleicht nicht nur oder vor allem von den Frommen gelebt, sondern von all den vielen Menschen, die auf der Seite der Schwachen stehen und Gutes tun. 

Claire Keegan, Small things like these; deutsche Ausgabe: Kleine Dinge wie diese, Steidl Verlag, 2023.

 

 

 

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