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Hat alles seine Zeit?
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Hat alles seine Zeit?

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt
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Guten Morgen zum Jahreswechsel. Jetzt ist Zeit, um darüber nachzudenken, was im letzten Jahr war. Sicher werden die Gedanken auch schon zu dem wandern, was kommen wird oder kommen könnte. An  keinem anderen Tag im Jahr habe ich so stark das Gefühl, Zeit zu spüren. Dabei schaue ich zurück: Was ich mit meiner Zeit gemacht habe – 2023. Und was diese Zeit mit mir gemacht hat. Und noch etwas gehört für mich zu Silvester und zum Jahresanfang 2024: Was muss ich hinnehmen und damit leben? Aber auch: Was kann ich tun?

Musik: Improvisation: Peter Togni, Christoph Both: "Introduction to Communion Antiphon"

Die Zeit ist das Silvester-Thema. Was ich mit meiner Zeit anfange. Und was ich damit in den letzten zwölf Monaten getan habe. Viele schauen heute zurück auf 2023 und spüren dabei: Es war anstrengend. Es war viel los. Überall wird verändert. Betriebe und Einrichtungen sind unterwegs, sie digitalisieren, müssen Kosten senken, wollen Klimaziele erreichen und Neues entwickeln. Das braucht viel Kraft und Nerven. Sich umstellen ist oft mühsam. Manchmal tut es sogar richtig weh. Davon sind viele betroffen – bis hin zu den Kirchen. Deshalb war auch mein Jahr beruflich sehr anstrengend, denn die evangelische Kirche muss sich erheblich verändern und dabei auch verkleinern. Wir sind mittendrin, dies zu tun. Die Kirchen verlieren Mitglieder, zum einen aufgrund der Altersstruktur und zum anderen, weil leider viele aus der Kirche austreten. Entsprechend weniger Geld werden die Kirchen haben – für ihre Gemeinden, für die Kindertagesstätten, für die diakonischen Einrichtungen, für die vielen Kirchen und andere Gebäude. Wir werden weniger Menschen hauptamtlich beschäftigen können. Es schmerzt, wenn sich manches nicht mehr weiterführen lässt. Wenn wir sagen müssen: Das hat seine Zeit gehabt.

Ein Blick zurück auf Gutes und Herausforderndes

Es bleibt nicht aus, dass Menschen darüber enttäuscht sind. Und dass es immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt, was unbedingt bleiben muss und was man lassen kann. Die Anspannung ist an vielen Stellen groß. Mein Eindruck ist: In diesem Jahr war das besonders zu spüren – zum Beispiel in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, im Handel, in der Gastronomie und in vielen Betrieben. Überall ist viel zu tun.

Zum Rückblick gehört auch viel Gutes. Ich bin dankbar, dass ich auch viel Schönes erlebt habe – in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, in Kirchengemeinden, auf Reisen. Ich sehe innerlich Menschen vor mir, denen ich in diesem Jahr begegnet bin, und ich froh bin, dass sie meinen Weg gekreuzt haben.

Ein krisengezeichnets Jahr

Doch auch andere Bilder kommen mir vor Augen, wenn ich die Gedanken durch das Jahr streifen lasse. Bilder, die mich bewegt haben. Manche haben mich sogar zutiefst verstört. Anfang des Jahres war das katastrophale Erdbeben in der Türkei – mit über 50.000 Toten die schwerste Naturkatastrophe in Europa seit 100 Jahren! Im Sommer gab es verheerende Waldbrände in Kanada und rund um das Mittelmeer sowie in Hawaii. Zudem es gab gewaltige Überschwemmungen in Libyen, Slowenien und Österreich. Der Klimawandel bringt häufiger solche extremen Ereignisse mit sich, sagen die Fachleute. Da frage ich mich: Müssen wir uns wirklich an mehr Naturkatastrophen gewöhnen? Oder kann die Menschheit dagegen etwas tun?

Bei der Rückschau auf das alte Jahr stoße ich auch auf die Kriege. Wie entsetzlich sind der Krieg Russlands gegen die Ukraine, bald schon zwei Jahre. Und der Angriff der Hamas auf Israel! Wer unterbricht die Spiralen der Gewalt? Kann das jemand? Oder gehört das unabänderlich zu unserer Zeit dazu und muss hingenommen werden?

Musik: Traditional: "We shall overcome"

Wenn ich zurückschaue, wie es zu Silvester gehört, frage ich mich: Was muss ich hinnehmen und damit leben? Und beim Blick nach vorne auch: Was kann ich tun?

Mit diesen Fragen im Hinterkopf nähere ich mich einem Text in der Bibel. Er wird heute in vielen evangelischen Gottesdiensten gelesen. Viele kennen ihn. Er steht im ersten Teil der Bibel im Buch des Predigers Salomo und trägt die Überschrift: Alles hat seine Zeit!

Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit:
Eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben.

Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen des Gepflanzten.
Eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen.
Eine Zeit zum Einreißen und eine Zeit zum Aufbauen.
Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen.
Eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen.
Eine Zeit, Steine wegzuwerfen, und eine Zeit, Steine zu sammeln.
Eine Zeit, sich zu umarmen, und eine Zeit, sich zu trennen.
Eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren.
Eine Zeit zum Aufheben und eine Zeit zum Wegwerfen.
Eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen.
Eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden.
Eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen.
Eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.

(Prediger Salomo 3, 1-8)

Das sind Worte aus dem Buch des Predigers Salomo. Es enthält viele Reden und Lebensweisheiten aus der jüdischen Tradition. Die Worte über die Zeit gehören sicher zu den Bekanntesten. Sie werden oft gelesen bei Hochzeiten, Taufen, Trauerfeiern, bei Geburtstagen. Oder wenn es ums Altwerden geht. Sie beschreiben treffend, wie das Leben ist – besonders, wenn Menschen zurückschauen.

Das Leben im Wechsel der Zeit

Das war ja wirklich so: Auch im Jahr 2023 gab es Geburt und Sterben, Töten und Heilen, Weinen und Lachen, Umarmen und Trennen, Liebe und Hassen, Schweigen und Reden – und eben Krieg und Frieden und all das andere. Das ist offenbar Teil des Lebens. Manchmal kann es helfen, das Leben so zu sehen. Nämlich, dass es nun mal so ist, voller Spannungen. Und dass die Zeiten eben wechseln. Im Rückblick ist manchmal zu erkennen, dass schwere Zeiten ihren Sinn hatten, auch mancher Abschied. Das kann helfen, sich mit manchem abzufinden, was sich ohnehin nicht ändern lässt.

Aber nicht immer sehe ich das so gelassen. Viele Spannungen bleiben. Manchen Schmerz und manchen Abschied tragen Menschen immer in sich. Und manche schlimme Wunde bleibt immer eine Wunde. Ich denke dabei besonders an Menschen, die Traumatisches erlebt haben – in Kriegen oder durch die Gewalt anderer Menschen. Sie können das, was sie erlebt haben, nicht so einfach hinnehmen unter der Überschrift „Alles hat seine Zeit“. Ich frage mich, was der Prediger Salomos diesen Menschen zu sagen hat.

Musik: J. S. Bach: Choral "Aus tiefer Not" (Schlußchoral der Kantate BWV 38)

Längst nicht alle können so gelassen zurückblicken, wie es der Prediger Salomos tut. Er sagt ja: Alles hat seine Zeit, lieben, hassen, geboren werden und sterben. Andere können aus guten Gründen nicht so gelassen alles hinnehmen. Was ist mit denen, die mitten drin sind in den Wirren eines Krieges? Menschen, deren Leben jeden Tag bedroht ist von Raketen und Bomben. Menschen, die um ihr Leben fürchten.

Und was ist mit denen, die schwer krank sind? Bei ihnen stoßen die Worte des Predigers doch bestenfalls den Wunsch an, dass die böse Zeit jetzt möglichst bald ein Ende findet - die Zeit des Krieges und des Hasses, die Zeit von Krankheit und Tod. Manchmal ist auch in den schweren Zeiten ein Sinn zu erkennen, aber bestimmt nicht immer.

Ihnen würde der Prediger vielleicht antworten: „Alles hat seine Zeit – das kann ja auch bedeuten: Alles – auch das, was einen belastet - ist irgendwann einmal zu Ende. Du kannst es hinter dir lassen.“ Das kann etwas Tröstliches haben.

Der Prediger lehrt Gelassenheit

Und wenn ich diesem gelassenen Prediger der Bibel die Schatten der Vergangenheit vorhalte, könnte er sagen: „Das, was vorbei ist, ist vorbei. Jetzt geht es darum, zu leben. Lebe so, dass das früher Erlebte nicht immer wieder neu Macht gewinnt. Das raubt nur kostbare Zeit.“

Ich vermute: Der Prediger Salomo will helfen, die eigene Zeit so zu sehen und zu verstehen. Er spricht sich dafür aus, zwei Lebenserfahrungen zu akzeptieren. Zum einen: Es gibt immer Spannungen. Und zum anderen: Vergangenes soll vergangen bleiben. Es sind keine Ansagen, die für alle von vorneherein gelten, sondern es sind persönliche Worte am Ende eines Rückblicks. Wer sie liest, muss selbst spüren, ob sie für das eigene Leben zutreffen oder nicht – oder noch nicht.

Die Zeit erkennen - ein Auftrag

„Alles hat seine Zeit.“ Dieser Satz enthält für mich auch einen Prüfauftrag: Für was ist jetzt die Zeit? Und für was nicht? Kriege und der Klimawandel ereignen sich ja nicht, weil sie jetzt an der Zeit sind. Sie geschehen zur Unzeit, weil Menschen sie durch ihr fahrlässiges Verhalten verursachen.

Das wäre dann zu korrigieren, um wieder in die Zeit Gottes zurückzukehren. Dahin zurückzukehren, wie Gott diese Welt gemeint hat, als Ort von Leben, von Gespräch, von Frieden. Ich lese den Text also auch als Mahnung an alle, die nicht mehr miteinander reden, die Tischtücher zerschneiden oder gar Kriege gegeneinander führen. Ihr Auftrag lautet dann: Erkennt die Zeit zum Miteinanderreden, die Zeit zum Aufbauen und zum Zusammennähen!

Ich verstehe die Worte des Predigers so: Erkennt, was nach dem Ratschluss Gottes gerade an der Zeit ist. In diesem Sinne hat der Text des Predigers nicht nur etwas Begütigendes und Beruhigendes, sondern fordert auch einen kritischen Blick auf das, was ist.

Bleibt die Frage: Warum hat Gott das Leben so eingerichtet: mit seinen Spannungen zwischen Geburt und Sterben, Krieg und Frieden, Pflanzen und Ernten? Und wie komme ich damit zurecht?

Musik

Warum gibt es so unterschiedliche Zeiten: die Zeiten des Umarmens und Trennens, der Liebe und des Hasses, für Lachen und Weinen, für Klagens und Tanzen? Und wie komme ich mit den unterschiedlichen Zeiten des Lebens zurecht? Diese Frage hat sich natürlich auch der Prediger Salomo gestellt. Und er hat versucht, darauf zu antworten:

Ich sah das vergebliche Tun: Gott hat es den Menschen aufgegeben, damit sie sich plagen. Alles hat er so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch hat er ihnen ans Herz gelegt, dass sie sich um die Zeiten bemühen. Nur kann der Mensch das alles nicht begreifen, was Gott von Anfang bis Ende tut. So habe ich erkannt: Es gibt kein größeres Glück bei den Menschen, als sich zu freuen und sich’s gut gehen zu lassen. Jeder Mensch soll essen, trinken und glücklich sein als Ausgleich für seine ganze Arbeit. Denn auch dies ist eine Gabe Gottes. So habe ich erkannt: Alles, was Gott tut, ist von Dauer. Nichts kann man hinzufügen und nichts davon wegnehmen. Gott hat das so gemacht, damit man ihm mit Ehrfurcht begegnet.

(Prediger Salomo 3, 10-14)

Der Prediger hat ein ziemlich pessimistisches Bild vom Menschen: Der plagt sich viel und versteht wenig. Gott hat das so gemacht. So sieht das der Prediger Salomo. Aber die Zeiten sind damit nicht nur etwas, was Gott wie ein Schicksal geschehen lässt. Sicher: Manches werden Menschen nicht enträtseln können. Nicht in allem ist ein Sinn zu erkennen.

Die Zeit gestalten und genießen

Dennoch können Menschen auch etwas aus ihrer Lebenszeit machen. Denn Gott hat den Menschen ans Herz gelegt, dass sie sich um die Zeiten bemühen. Es geht darum, die Zeiten anzunehmen und sie zu gestalten. Die nicht einfach nur geschehen zu lassen. Man kann und soll die Zeiten gestalten und das genießen, was da ist: essen, trinken und glücklich sein als Ausgleich für alle Arbeit. Wer so lebt, lässt nicht einfach alles geschehen. Wer so lebt, strebt nach den guten Zeiten des Lebens. Und das sind die Zeiten des Friedens – Zeiten, in denen Menschen aufbauen, lachen, tanzen, lieben und heilen.

Daraus lässt sich was in das neue Jahr mitnehmen. Wenn das Jahr 2023 heute endet und morgen das neue Jahr 2024 beginnt. Es wird wieder ein Jahr mit wechselnden Zeiten sein. Für alle Menschen persönlich und für die ganze Welt. Wie gut, dabei die Silvesterfrage zu stellen: Das zu erkennen, was wir ändern können, und auch das, was wir nicht ändern können. Dafür braucht es Gelassenheit und natürlich die Gabe, das eine vom andern zu unterscheiden. Ich und viele andere brauchen noch etwas: Vertrauen in das gute Geleit Gottes. Was ich damit meine, hat Dietrich Bonhoeffer, evangelischer Pfarrer und Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Herrschaft, in wunderbare Worte gefasst:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben

und mit euch gehen in ein neues Jahr.

(Evangelisches Gesangbuch Nr. 65)

Diese Worte hat Dietrich Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1944 geschrieben, als er während der Nazi-Zeit im Gefängnis saß, also in einer lebensbedrohlichen Lage. Umso stärker und beeindruckender sind seine Worte. Mit ihnen bezeugt er sein tiefes Empfinden, dass Gottes Liebe durch alle Zeiten hindurchtragen kann. Es hat ihn tatsächlich im Leben und im Sterben getragen.

Von Gott getragen in das neue Jahr

Ich wünsche so sehr, dass viele Menschen sich so von Gott getragen fühlen können. Ich hoffe, dass im neuen Jahr viele Menschen wieder gesundwerden, und dass im Jahr 2024 Kriege enden und keine neuen beginnen. Ich wünsche mir, dass alle Hilfe finden, die jetzt kein Licht am Ende des Tunnels sehen.

Hinter meinen Wünschen steckt natürlich die Hoffnung, dass es eine Kraft geben möge, die alles zum Besseren wendet. Dazu können – und müssen - Menschen vieles beitragen. Aber am Ende erhoffe ich mir das Heil für mich und die Welt von Gott.

In diesem Sinne wünsche Ihnen, den Hörerinnen und Hörern von hr2 Kultur, von Herzen, dass Sie heute Abend das alte Jahr loslassen können, es hat seine Zeit gehabt. Und dass Sie zuversichtlich nach vorne blicken und nach vorne gehen können. Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen das neue Jahr viele gute Zeiten bringt und dieser Welt Frieden.

Musik: J. S. Bach: "Mass h-Moll", BWV 232

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