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Davon kann ich ein Lied singen
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Davon kann ich ein Lied singen

Dr. Fabian Vogt
Ein Beitrag von Dr. Fabian Vogt, Evangelischer Pfarrer in der Öffentlichkeitsarbeit, Frankfurt
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Musikkonzeption: Kantor Uwe Krause

Ich glaube: Jede und jeder macht es. Gut, die einen mehr, die anderen weniger. Aber irgendwann machen wir es alle. Selbst diejenigen, die behaupten, sie könnten es überhaupt nicht, selbst die können es bei bestimmten Gelegenheiten nicht lassen: im Stadion zum Beispiel, unter der Dusche, im Wald oder am Lagerfeuer, beim Wandern oder wenn im Radio ein Evergreen läuft, mit dem wir persönlich was verbinden. Dann fangen wir an zu singen.

Gesang ist Dasein

Weil Singen eine besondere Form der Sprache ist: emotional, leidenschaftlich, ermutigend, tröstend, verbindend. Und spürbar mehr als nur Worte. Singen: Das sind klingende Worte, die unsere Seele erreichen – und das manchmal deutlich leichter, als ein Text allein das könnte. Vermutlich hat der Dichter Rainer Maria Rilke deshalb geschwärmt: Gesang ist Dasein!1 Starker Satz, oder? Gesang ist Dasein! Wer singt, die oder der erlebt die eigene Existenz intensiver. Wer singt, lebt auf!

Singen verändert die Welt

Aber warum ist Singen so intensiv und kraftvoll? Darum geht es mir heute Morgen. Denn Singen ist ja nicht nur ein äußerst sinnliches Vergnügen, es hat auch die Kraft, die Welt zu verändern. Und wie! Zum Beispiel haben die Lieder, die 1989 in Leipzig bei den Friedensgebeten gesungen wurden, zur friedlichen Revolution in der DDR und zum Fall der Mauer beigetragen. Könnte sein, dass wir öfter singen sollten.

50.000 Chöre in Deutschland

Wobei das ja – grob geschätzt – rund 2 Millionen Menschen in Deutschland ganz regelmäßig tun. Nämlich in rund 50.000 Chören. Und dass es solche Chöre überhaupt gibt, hat in Deutschland auch mit der Reformation zu tun. Als der Reformator Martin Luther im 16. Jahrhundert die Kirche erneuert hat, legte er einen besonderen Schwerpunkt auf das gemeinsame Singen im Gottesdienst. Was bei Laien damals absolut unüblich war. Wenn vorher überhaupt gesungen wurde, dann von Profis und auf Latein. Luther dagegen war der Meinung: „Alle sollen singen dürfen – und zwar auf Deutsch, damit sie auch verstehen, was sie da von sich geben.“ Es war also eine neuartige Erfahrung: „Es tut unfassbar gut, seine Gefühle und Überzeugungen beim Singen zum Ausdruck zu bringen“. Und diese Erfahrung motivierte bald immer mehr Menschen, in Chören zu singen.  Insofern wurde der Druck des ersten evangelischen Gesangbuchs 1524 in Nürnberg zu einem Wendepunkt in der Geschichte. Plötzlich gab es gemeinsames Singen nicht mehr nur in verrufenen Festzelten, sondern mit himmlischem Segen. Das ist bald fünfhundert Jahre her. Und das Jubiläum dieser musikalischen Zeitenwende ist ein perfekter Anlass, um der Faszination des Singens nachzuspüren. Los geht’s!

Musik: Johann Ebeling: Die güldne Sonne Bach-Chor Siegen Ltg. Ulrich Stötzel
 

Friedrich Nietzsche war überzeugt: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Ich finde: Er hat Recht. Und Gesang ist für viele Menschen die innigste Form der Musik. Schon deshalb, weil wir beim Singen selbst anfangen zu klingen. Dazu kommt, dass wir als Sängerinnen und Sänger unser Instrument immer mit dabeihaben. Immer! Wie schön! Das heißt: Wem spontan nach Musik zumute ist, die oder der kann einfach anfangen zu singen. Und wenn wir etwas halbwegs Bekanntes singen, dann werden wir sogar erleben, dass andere fröhlich mit einstimmen.

Gründe für Singen: Raubtiere, Balz, Gemeinschaft?

Interessanterweise diskutieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon lange, warum Menschen überhaupt singen. Spannende Frage. Eine, zu der es verschiedene Theorien gibt: Vielleicht haben wir angefangen zu singen, um Raubtiere abzuschrecken. Oder um unsere Angst zu vertreiben. Oder um, wie die Vögel, eine Partnerin oder einen Partner anzulocken. Oder um das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe zu stärken. Oder um beim Arbeiten bestimmte Bewegungen zu koordinieren. Darum gibt es ja so viele Ernte- oder Handwerkerlieder. Wie ein amerikanisches Sprichwort sagt: Ein Shanti, also ein Seemannslied, ist so stark wie zehn Matrosen. Seeleute, die zusammen singen – "Hey ho, hey ho", können perfekt ein Segel hissen oder einen Anker lichten.

Martin Luther hat das geistliche Singen populär gemacht

Wie gesagt: So ganz geklärt ist die Frage nicht, warum wir gerne singen – aber das Gesänge etwas bewirken können, hat schon der Reformator Martin Luther erlebt. Er war fest davon überzeugt: Gott hat unser Herz und unser Gemüt durch seinen lieben Sohn fröhlich gemacht. Wer das wirklich glaubt, der kann gar nicht anders, er muss fröhlich und mit Lust davon singen, damit andere es auch hören und dazukommen.2 Also: Wer von etwas leidenschaftlich überzeugt ist, der fängt an, davon zu singen.

Singen als Protest, für die Märtyrer der Reformation

Aber das war noch nicht alles: Am 1. Juli 1523 wurden in Brüssel zwei reformatorisch gesinnte Mönche hingerichtet. Luther schrieb darüber ein Lied. Eines, das bald in vielen Kneipen des Landes gesungen wurde. Mit einer unglaublichen Wirkung: Nicht nur, dass in kürzester Zeit alle im Land die Geschichte kannten, es änderte sich auch die Stimmung vieler Menschen. Vorher hatten sie nur am Rande davon gehört, dass da dieser Martin Luther, ein Mönch aus Wittenberg, die Kirche reformieren wollte – jetzt sangen sie selbst davon, wie wichtig es ist, sich gegen Fehlentwicklungen in der Kirche und in der Gesellschaft zur Wehr zu setzen. Jetzt war die Reformation ihr Lied.

Paul Gerhardt als Liederdichter der Seele

Diese Erfahrung Luthers hat sich in den darauffolgenden Jahrhunderten vielfach bestätigt: Alle wichtigen geistlichen Aufbrüche waren im Herzen auch Sing-Bewegungen: Menschen haben von dem gesungen, was sie im Innersten bewegt – und fühlten sich dadurch so sehr mit anderen verbunden, dass es tatsächlich zu gesellschaftlichen und religiösen Erneuerungen kam. Wie das funktioniert, hat der berühmte Liederdichter Paul Gerhardt prägnant zusammengefasst; natürlich in einem Lied: Ich singe dir mit Herz und Mund, / Herr, meines Herzens Lust; / ich sing und mach auf Erden kund, / was mir von dir bewusst.

Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Du meine Seele singe, Berlin Vocal Ensemble, Ltg.: Bernd Stegmann, Orgel: Stefan Göttelmann
 

Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen3. Behauptet zumindest der Geiger Yehudi Menuhin. Vielleicht, weil Singen Gemeinschaft schaffen kann, ein Wir-Gefühl erzeugt und Identität stiftet. Das haben schon die Reformatorinnen und Reformatoren am eigenen Leib erlebt. Insofern wundert es mich nicht, dass allein im 16. Jahrhundert rund 500 Liederbücher veröffentlicht wurden. Alle wollten auf einmal singen.

Singen hilft, Not zu überstehen

Allerdings – und jetzt werfen wir einen Blick in die weitere Geschichte des geistlichen Singens – wich die Aufbruchs-Euphorie der Reformation bald einem anderen Lebensgefühl. Kriege, Hungersnöte und die Pest forderten die Liederdichter nämlich neu heraus, besonders der Dreißigjährige Krieg. Sie machten eine weitere Erfahrung: Lieder können trösten. Und das auf einzigartige Weise. Wer traurig ist und singt, erlebt, dass seine Trauer von ihm weichen kann. In dieser barocken Phase der Kirchenlieder ging es deshalb auch weniger um die Gemeinschaft als um den Einzelnen, der sich fragt: Wie kann ich mit Hilfe meines Glaubens die Herausforderungen des Alltags überstehen. Jetzt heißen die Eröffnungszeilen: Ich steh an deiner Krippe hier, Du, meine Seele singe oder Mein König und mein Bräutigam. Es geht um Musik, die der Seele hilft, widrige Umstände auszuhalten.

Mit Singen den Glauben bekennen

Da wundert es auch nicht, dass die Menschen die darauffolgenden Jahre nach dem 30-jährigen Krieg größtenteils wie einen Neuanfang erlebten. Und viele wünschten sich jetzt zugleich einen geistlichen Aufbruch. Eine neue Leidenschaft des Glaubens. In dieser Zeit entstand der Pietismus – nach dem lateinischen Wort Pietas, Frömmigkeit, nach dem Motto: Lasst uns nochleidenschaftlicher glauben. Und wie können derart Glaubende ihre Hingabe gut ausdrücken? Genau: mit Gesang. Also haben auch die Pietisten angefangen, inbrünstig zu singen. Sie waren wahre Sängerinnen und Sänger vor dem Herrn.

Lobe den Herren war ein Gassenhauer

Auch die darauffolgende Zeit der Aufklärung ab dem 17. Jahrhundert, in dem kritische Denker viele Traditionen grundsätzlich in Frage stellten, war eine sangesfreudige Epoche. Die Menschen fanden im Singen einen emotionalen Ausgleich zu der intellektuellen Auseinandersetzung mit den großen Lebensfragen. Plötzlich entdeckten die Menschen zudem die Kraft der Natur ganz neu. Der wahre Mega-Hit dieser Zeit war "Lobe den Herren" und stammt vom Dichter Joachim Neander, der sich mit Gleichgesinnten am liebsten in einem lauschigen Tal traf. Einem Tal, das seither seinen Namen trägt: nämlich das Neandertal. Genau! Neanders Lied "Lobe den Herren" wurde zum Gassenhauer und war auch nicht für den Gottesdienst gedacht. Er selbst schrieb: Dieses Lied ist auf Reisen, zu Hause oder bei christlichen Treffen im Grünen zu singen.4

In den Schrecken des 20. Jahrhunderts von guten Mächten wunderbar geborgen

Im 20. Jahrhundert brauchten die Menschen dann die geistlichen Lieder wieder, um besonders schwere Zeiten zu ertragen, diesmal die Düsternis des Nationalsozialismus. Poeten wie Jochen Klepper schrieben damals: Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. Und der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer war überzeugt, er sei auch in dunkelsten Zeiten von guten Mächten wunderbar geborgen. Der Gedanke dahinter lautet: Gott wird das Dunkle vielleicht nicht vertreiben, aber durch seine Gegenwart kann es trotzdem hell werden. In mir!

Singen von Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit

Seit den 1960er Jahren weht in der Kirchenmusik dann ein neuer Wind. Auf einmal werden Lieder in Gottesdiensten mit Schlagzeug und Band begleitet, sie klingen groovig und gehen ins Ohr. Viele kennen vielleicht Songs wie "Danke für diesen guten Morgen". Interessant ist: Die Themen, denen sich diese Lieder zuwenden, standen vorher oft nicht so im Zentrum: Schöpfung, Umwelt, Frieden und Gerechtigkeit. Sodass die Lieder jetzt auch auffordern, sich aktiv für die Gesellschaft zu engagieren.

Musik: Joh. Seb. Bach, Lobe den Herren, BWV 137, Mazaaki Suzuki, Bach Collegium Japan

Früher haben fürsorgliche Großmütter ihren Enkelkindern gerne gesagt: Wenn du im Dunkeln Angst hast, fang an zu singen. Dann geht die Angst weg. Inzwischen ist neurologisch nachgewiesen: Sie hatten Recht. Tatsächlich werden beim Singen im Gehirn wesentliche Zentren, die für die Angst zuständig sind, einfach abgeschaltet. Das heißt: Wer singt, hat weniger oder sogar keine Angst. Unglaublich, oder?

Glückshormone dank Singens

Aber das ist noch nicht alles. Wer singt, der verbessert auch nachweislich seinen Gemütszustand. Warum? Weil beim Singen Glückshormone freigesetzt und Stresshormone abgebaut werden. Schon nach dreißig Minuten Singen produziert unser Gehirn zum Beispiel das sogenannten Kuschelhormon Oxytocin. Wer regelmäßig voller Freude singt, der weiß, wie gut man sich danach fühlt.

Ein Herz und eine Seele 

Aber auch die Erfahrung, dass gemeinsames Singen die Gemeinschaft stärkt, wurde inzwischen wissenschaftlich bestätigt. Tatsächlich ist es so: Wenn Menschen zusammen singen, dann atmen sie nicht nur gleichzeitig, auch ihr Herzschlag passt sich nach und nach aneinander an – so dass sie gegenseitig ihre Kreisläufe stabilisieren. Menschen, die zusammen singen, werden im wahrsten Sinne des Wortes ein Herz und eine Seele. Darum sind so viele Sängerinnen und Sänger begeistert von ihrem Hobby.

Singen weckt schöne Erinnerungen

Irgendwie weckt Singen in uns besondere Kräfte. Selbst Menschen, die unter Demenz leiden, erinnern sich beim Singen oft spürbar besser an ihre Lebensgeschichten als vorher. Möglicherweise wegen einer Erfahrung, die die meisten Menschen kennen: Bestimmte Situationen, die wir erlebt haben, verbinden wir direkt mit einer Musik, die wir dabei gehört haben. Da war dieses Lied, bei dem wir unsere Partnerin oder unseren Partner zum ersten Mal geküsst haben. Oder das Lied, das wir so gerne beim Arbeiten gehört haben. Oder diese Filmmusik, die uns an eine besondere Zeit unseres Lebens erinnert. Man könnte sogar sagen, dass wir alle einen Soundtrack des Lebens haben: Lieder und Musikstücker, die unsere Lebensgeschichte prägen. Offensichtlich hatte Rainer Maria Rilke recht, als er sagte: Gesang ist Dasein. Weil Singen tatsächlich unseren Körper und unsere Seele positiv beeinflusst. Weil es Menschen zusammenbringt und ihnen Mut macht, Herausforderungen miteinander anzugehen.          

Musik: Arranged By Michael Reif, Bewahre uns Gott, EG 171, Rundfunkchor Berlin, Simon Halsey / Jörg Strodthoff
 

Wir sind heute Morgen auf einem Streifzug durch die Bedeutung und die Geschichte des Singens. Weil 1524, also vor bald 500 Jahren, das erste evangelische Gesangbuch erschienen ist – und weil Singen in guten Zeiten hilft, das Leben zu feiern. So wie es in schlechten Zeiten trösten und tragen kann.

Singende Revolutionen

Welche Dimensionen die Kraft des gemeinsamen Singens haben kann, wurde auch in der Geschichte vielfach deutlich. Von der Wiedervereinigung Deutschlands habe ich ja schon gesprochen – denn die wäre ohne die sangesfreudigen Menschen bei den Montagsgebeten vermutlich ganz anders abgelaufen. Aber auch in anderen Ländern sind solche Phänomene zu beobachten: Die Unabhängigkeitsbewegung in den baltischen Staaten zum Beispiel heißt bis heute die "Singende Revolution". Weil im August 1989 zwei Millionen Menschen in Estland, Lettland und Litauen für die Unabhängigkeit ihrer Staaten auf die Straße gegangen sind und dort die alten verbotenen Volkslieder gesungen haben.

We shall overcome

Nicht zuletzt wurde auch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den USA maßgeblich vom Gesang mitbestimmt. Als Martin Luther King am 28. August 1963 beim berühmten Marsch auf Washington seine Rede "I have a dream" hielt, in der er von einer Welt ohne Unterdrückung und Rassentrennung träumte, da war es das Lied "We shall overcome", mit dessen Hilfe die 200.000 Teilnehmenden ihre Hingabe an diesen Traum zum Ausdruck brachten, zusammen mit der Sängerin Jean Baez. We shall overcome – wir werden das überwinden: all das Unrecht, das Leid, den Schmerz, die Angst und die Verzweiflung. We shall overcome. Da war das gemeinsame Singen wie ein gemeinsamer Hoffnungsruf: Wir werden das Böse überwinden. Wer das erlebt, der findet auch den Mut, tatsächlich für seine Ideale einzustehen und etwas zu verändern.

Gott liebt das Singen

Warum hat Gesang so eine besondere Kraft? Ein paar Erfahrungen haben wir uns angeschaut, vielmehr angehört: Das Singen, gerade das gemeinsame Singen bringt in uns etwas zum Klingen: Es ermutigt, es tröstet, es verbindet, es hilft, den eigenen Gefühlen und Glaubenserfahrungen Ausdruck zu verleihen – und es hat im Lauf der Jahrhunderte Menschen geholfen, mit den Herausforderungen ihrer Zeit nicht nur zurechtzukommen, sondern sie sogar zu verändern. Vielleicht hat der bengalische Dichter und Literatur-Nobelpreisträger Tagore deshalb gesagt: Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe.

Musik: Bernhard Sanders, Deutsche Messe, daraus: “Ehre sei Gottin der Höhe“

 

1Rainer Maria Rilke „Die Sonette an Orpheus”

2Martin Luther, Vorrede zum Leipziger Gesangbuch des Valentin Babst (1545)

3Jehudi Menuhin, Zur Bedeutung des Singens.

4Joachim Neander, Vorwort zur Liedersammlung „Glaub und Liebesübung“

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