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Achtung, Baustelle! Unterwegs im Leben
Bild: Pixabay

Achtung, Baustelle! Unterwegs im Leben

Stefan Wanske
Ein Beitrag von Stefan Wanske, katholischer Pfarrvikar im Pastoralraum Gießen-Stadt
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Wenn ich in diesen Tagen mit dem Auto los muss, dann brauche ich viel Geduld: 

Seit ein paar Monaten hab ich das Gefühl, überall auf meinen gewohnten Wegen gibt es Baustellen: Vor dem Elternhaus daheim in Buseck ist der Gehweg aufgegraben; im Dorf werden neue Glasfaserkabel für schnelles Internet verlegt. In Gießen, wo ich lebe und arbeite, hält ein Verkehrsversuch die Menschen und die Kommunalpolitik in Atem. Der innere Anlagenring wurde zur Fahrradstraße umgebaut, und als der Umbau fast fertig war, da haben die Verwaltungsgerichte entschieden, dass alles zurückgebaut werden muss. 

Die verschlungenen Lebenswege

Und im ganzen oberhessischen Umland schließlich, da werden Autobahnen grundhaft erneuert, sind marode Straßenbrücken gesperrt und werden weite Umleitungen eingerichtet. 

Wenn ich unterwegs nicht gerade in Zeitdruck bin, dann denke ich in letzter Zeit am Steuer oft: Eigentlich ist so eine Baustellenserie, die mich auf der Straße öfter mal ausbremst, auch ein schönes Bild dafür, wie es ist, im Leben und im Glauben unterwegs zu sein. Das klingt sogar in der Bibel immer wieder an, besonders wenn es um Kirche und christliche Gemeinde geht. Aber auch sonst: die manchmal verschlungenen „Lebenswege“, auf denen Menschen unterwegs sind, die kennen auch ihre „Baustellen“, und manchmal nicht wenige. 

Musik 1: Johann Sebastian Bach: Cantata No. 68 / Arie “Mein gläubiges Herz” für Trompete und Orgel; CD: „Trumpet & organ”, Maurice André / Jane Parker-Smith, Warner Classics Red Line (50999 6 36560 2 2), Track 05, 02:34  

 

Bauarbeiten auf dem Lebensweg und die Kirche als Baustelle: Diesen Bildern will ich heute in der Morgenfeier nachgehen. 

 

Sie nahm später ein gutes Ende

Auch in der Musik und in der religiösen Dichtung taucht dieser Gedanke des Bauens und der Baustelle immer wieder auf, quer durch die Jahrhunderte. Sehr bekannt ist ein Choral, mit dem ich heute beginnen möchte: „Wer nur den lieben Gott lässt walten.“ 

Georg Neumark schrieb diesen Choral um 1641. Und schon am Ende der ersten Strophe wird ausgeschachtet und fundamentiert: „Wer Gott dem Allerhöchsten traut, der haut auf keinen Sand gebaut.“ Neumark hat die Entstehungsgeschichte seines Liedes selber erzählt. Es war im Dreißigjährigen Krieg. Neumark, damals ein junger Student von kaum zwanzig Jahren, war auf dem Weg nach Königsberg, der Universitätsstadt. Unterwegs wurde er Opfer eines Raubüberfalls und verlor seine sowieso bescheidene Studentenhabe. Die schlimme Geschichte nahm aber später ein gutes Ende. Neumark fand in Kiel eine Anstellung als Hauslehrer und gab später in diesem Lied weiter, wie er in einer schweren Lebensphase Gottes Hilfe erlebt hat. 

„Ihr seid Gottes Bau"

Hier ist das Lied, in der Chorfassung von Johann Sebastian Bach. 

Musik 2: Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“; Heinrich-Schütz-Kantorei Freiburg / Martin Gotthard Schneider. CD 1/2: Ich bete an die Macht der Liebe. Große Geistliche Chöre; Label hänssler classic (98.912) Track 13; 02:12 

 

„Wer Gott, dem allerhöchsten traut, der haut auf keinen Sand gebaut“. Georg Neumark erinnert mit diesem Vers aus seiner ersten Choralstrophe an eine Stelle im Neuen Testament. Paulus, der große Glaubensbote, schreibt in seinem Brief an die Gemeinde von Korinth:

„Ihr seid Gottes Bau. Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“ (1. Korintherbrief, Kapitel 3, Verse 9 und 11) 

Worauf verlasse ich mich?

Jesus selbst hat dazu in der Bergpredigt ein Gleichnis erzählt. Es handelt von einem Bauherrn, der sein Haus auf Sand baut. Und als ein Unwetter einsetzt, da fällt alles zusammen. (Matthäus-Evangelium, Kapitel 7, Verse 24 bis 27)

Für mich sind das wichtige Fragen. Worauf baue ich mein Leben auf? Was ist meine Grundlage? Worauf verlasse ich mich? Wem vertraue ich?

Meine Alltagserfahrung ist, dass ich nicht immer stark sein kann. Meine eigenen Kräfte darf ich nicht überschätzen. Wenn ich zur Krankensalbung in die Klinik gerufen werde und im Krankenzimmer mit Kranken und besorgten Angehörigen bete oder wenn ich zu einer Trauerfeier auf dem Friedhof bin, um Menschen beizustehen, die jemanden beerdigen müssen, dem sie nahestanden, spätestens dann spüre ich:

Ich selbst brauche auch ein Dach

Ich selbst brauche auch ein Dach über meinem Lebenshaus, unter das ich mich stellen kann, wenn es rau zugeht. Ich brauche jemanden, der größer ist als ich selbst und auch größer als gute Freundinnen und Freunde oder meine Familie. Für die bin ich dankbar, weil auch sie mich nicht im Regen stehen lassen würden.

Genauso wichtig ist aber für mich mein Glaube als Fundament für mein Leben. Mein Glaube sagt mir: Ich muss mich nicht aus eigener Kraft und an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, wie der Baron Münchhausen. Das funktioniert sowieso nur in den Geschichten des legendären Lügenbarons. 

„Trost eines schwermütigen Christen“

Vom Glauben als verlässlicher Basis für das eigene Lebenshaus singt auch das folgende Lied. Das Gedicht mit dem Titel „Trost eines schwermütigen Christen“ stammt von Christian Fürchtegott Gellert. Seine vierzehn Strophen wurden Mitte des 18. Jahrhunderts von Carl Philipp Emanuel Bach vertont. 

Ich finde es gut, dass das Lied das Empfinden der Gottverlassenheit angesichts von Schicksalsschlägen sehr ernst nimmt und eindrücklich formuliert:

„Mühselig“, sprichst du, „und beladen
hör ich den Trost vom Wort der Gnaden
und ich empfind ihn nicht.
Bin abgeneigt, vor Gott zu treten,
ich bet, und kann nicht gläubig beten;
ich denke Gott: doch ohne Licht.“

Zuletzt erinnert er die verzagten Beterinnen und Beter, die sich in einer solchen Lage wiederfinden:

„Vertrau auf Gott. Er wohnt bei denen,
die sich nach seiner Hülfe sehnen;
er kennt und will dein Glück!“ 

Musik 3: C.P.E. Bach: „Trost eines schwermütigen Christen“, CD: Carl Philipp Emanuel Bach / Johann Christoph Friedrich: Geistliche und weltliche Lieder; Gotthold Schwarz / Sabine Bauer, Label capriccio (10 856), Track 16,04:19 insgesamt, Schluss nach 4. Strophe bei ca. 03: 40  

Ein sicheres Fundament für mein Lebenshaus

„Vertrau auf Gott, er will dein Glück!“ – Ich wünsche mir, dass ich mich in meinem Alltag immer wieder an diese musikalische Botschaft erinnere: Ein solches Vertrauen auf Gott kann mir ein sicheres Fundament für mein Lebenshaus sein.

Das Bild vom Hausbau und dem Gebäude hat in der Bibel sehr oft aber auch noch eine Bedeutung, die über die individuelle Frage hinausgeht, worauf ich persönlich in meinem Leben bauen kann.

In seinen Briefen im Neuen Testament versteht Paulus Kirche und christliche Gemeinde insgesamt als Baustelle. Wahrscheinlich war es schon einer seiner Schüler, der im ausgehenden ersten Jahrhundert an die Gemeinde in Ephesus schrieb: 

Der Eckstein ist Christus Jesus selbst

„Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst. In ihm wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes im Geist miterbaut.“ (Epheserbrief, Kapitel 2, Verse 20-22)

Dieses Bild von christlicher Gemeinde und der Kirche als einer Baustelle finde ich sehr sympathisch.

In vielen Regionen Deutschlands, in den katholischen Bistümern ebenso wie in den evangelischen Landeskirchen, wird an kirchlichen Reformprozessen gearbeitet.

Anders als in früheren Jahrzehnten geht es dabei nicht nur um Äußerlichkeiten wie Schönheitsreparaturen oder um Rationalisierung im „Unternehmen Kirche“. Die Leitungspersönlichkeiten sind sich darüber einig: Die innere Einstellung, die Prioritäten, die Selbstwahrnehmung und dadurch auch die Arbeitsweisen der Volkskirchen müssen sich ganz erheblich verändern, damit künftig überhaupt noch Menschen erreicht werden. 

Ganz fertig wird sie auf Erden nie

Der Blick in die Bibel, finde ich, kann in solchen Zeiten historischer Umbrüche sehr entlastend wirken. Denn: Kirche ist in einer solchen Sichtweise von Anfang an immer etwas Provisorisches. Etwas für unterwegs. Ganz fertig wird sie auf Erden nie. Muss sie auch nicht, im Gegenteil.

Seit ungefähr 2000 Jahren arbeiten da die unterschiedlichsten Leute. Frauen, Männer und Kinder, Konservative und Bahnbrecher, Pragmatiker und Sinnsucherinnen, Menschen mit verschiedenen Ideen und Begabungen und mit einer ganz eigenen Geschichte. Manches darf über Jahrzehnte und Jahrhunderte reifen – und manchmal wird auch improvisiert und etwas Neues ausprobiert. Mancher Stein wird nach einiger Zeit besser wieder entfernt. Oder an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt. Für Versuch und Irrtum gibt es auf einer solchen Baustelle Raum, weil es für den ganzen Bau einen schlüssigen Masterplan gibt.

Und, zugegeben: Manche Sanierung ist verschleppt worden, manches gehört ganz dringend repariert und umgebaut. 

Wie kriegen wir das am besten hin?

Es ist spannend, auf so einer großen alten Baustelle herauszufinden: Was ist jetzt in unserer Zeit die Aufgabe, für die ich den Bau fit machen will? Wem ist damit geholfen? Wo bauen wir weiter, wie und warum? Und wie kriegen wir das am besten hin?

Die Väter und Mütter im Glauben haben diese Fragen für ihre Zeit beantwortet. Wir Heutigen versuchen, sie für unsere Zeit zu beantworten.

Der Apostel Paulus erklärt in einem Brief nach Korinth, an die Gemeinde in der Hafenstadt auf dem griechischen Peloponnes, die er selbst gegründet hat: Es gibt viele Leute, die an dem Bau der christlichen Kirche mitarbeiten. Aber letztlich kommt es auf den Grund an, auf dem dieser Bau steht. Und das ist eben Jesus Christus selbst. 

Gottes Gegenwart in ihrer Zeit sichtbar machen

Paulus hatte gehört, dass sich in Korinth gegnerische Gruppen gebildet haben, die einander vorhalten, den Glauben nicht richtig zu vertreten. In seinem Brief erinnert er alle miteinander daran, dass sie nicht für sich allein auf der „Baustelle Kirche“ am Werk sind. Dass es nicht ihr Job ist, sich selbst bequem einzurichten. Als Gemeinde und in der Art und Weise, wie sie zusammenleben und miteinander umgehen, sollen sie vielmehr Gottes Gegenwart in ihrer Zeit sichtbar machen.   

Er schreibt:

„Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“ (1. Korintherbrief, Kapitel 3, Verse 16 und 17)

Felix Mendelssohn Bartholdy schuf 1832 im Auftrag des Frankfurter Cäcilienvereins sein Oratorium „Paulus“. Darin hat er in einem Rezitativ diese Worte vertont. 

 

Musik 4: Rezitativ „Wisset ihr nicht“; Felix Mendelssohn Bartholdy: Paulus (Nr. 36) CD 2/2: Helmuth Rilling / Gächinger Kantorei / Prager Kammerchor / Tschechische Philharmonie: Paulus, Label hänssler classic (98.991), Track 14, ca. von 2:00 bis „Er schaffet alles, was er will“, ca. 04:28 (fade out); 02:28 

Manchmal denke ich daran, wie sehr mich in meiner Kindheit Baustellen fasziniert haben. Ich hatte sogar etliche Baustellenfahrzeuge als Spielzeugautos.

Wenn ich heute auf der Straße unterwegs bin, bin ich von Baustellen meistens weniger begeistert: Der Lärm nervt, dauernd kommt etwas dazwischen, und nichts geht voran! 

Nicht auf den Straßen und Schienen...

Im Grunde verbinde ich bis heute beides mit Baustellen, wie viele andre Menschen auch: Sie sind schon faszinierend; es ist toll zu sehen, wie mit Maschinen- und Menschenkraft etwas Neues entsteht. Und zugleich sind Baustellen für alle, die damit zu tun haben, auch mit viel Anstrengung, Frust und Unverständnis verbunden. Nicht zuletzt beim Auto- oder Bahnfahren.

Ganz vermeiden lassen sich die Umbaumaßnahmen „im laufenden Betrieb“, wie sie heute vielerorts stattfinden, kaum. Nicht auf den Straßen und Schienen, aber auch nicht im eigenen Lebenshaus, und ebenfalls nicht in der Kirche, die immer unterwegs und im Wandel ist. Wenn nicht erneuert und instandgehalten wird, dann werden absehbare Schäden nur immer größer. 

Eine Kirche...."Baustelle der Zukunft"

Worauf es dabei ankommt, das hat der Frankfurter Dichterpfarrer Lothar Zenetti, vor über 40 Jahren in einen schönen Sinnspruch gekleidet, mit dem ich schließen möchte:

 "Hier wird gebaut: Eine Kirche. Baustelle der Zukunft.
Schauplatz kommender Ereignisse.
Unbefugte haben Zutritt. Niemand ist an der Leine zu führen.
Spielende Kinder sind erwünscht.
Es darf gelacht werden.
Menschen, entfaltet eure Anlagen.
Das Betreten des Rasens ist angeboten.
Hier wird gebaut: Eine Kirche."
(aus: Lothar Zenetti, Die wunderbare Zeitvermehrung, München 1979) 

Musik 5: Johann Sebastian Bach, Choral: „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“ (BWV 649), CD 11/12: Bach. The Organ Works / Helmut Walcha. Label polydor (463 723-2), Track 09, 03:06

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