Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Die Ruhe nach dem Sturm
Bild: medio.tv Striepecke

Die Ruhe nach dem Sturm

Tina Oehm-Ludwig
Ein Beitrag von Tina Oehm-Ludwig, Evangelische Pfarrerin, Versöhnungskirche-Matthäuskirche Fulda
Beitrag anhören:

Ich habe den Propheten Jona aus dem Alten Testament ganz neu für mich entdeckt. Seine Geschichte ist schnell erzählt:
Jona bekommt von Gott den Auftrag, in die Stadt Ninive zu reisen. Dort glauben die Menschen an viele Götter und handeln gegen Gottes Gebote. Jona soll sie zur Umkehr bewegen. Andernfalls wird Gott die Stadt in vierzig Tagen untergehen lassen. Doch Jona weigert sich. Er hat Angst vor dem Zorn der Bewohner Ninives. Deshalb besteigt er ein Schiff, das ihn ans andere Ende der Welt bringen soll – weit weg von Ninive und von Gott.

Jona und das Unwetter auf hoher See

Als das Schiff auf offener See ist, bricht ein Unwetter los. Die Mannschaft ist einiges gewöhnt, doch selbst den erfahrenen Seeleuten wird es angst und bange. Mit aller Kraft rudern sie gegen den Sturm an. Sie werfen unnötige Ladung über Bord und bitten ihre Götter um Hilfe. Doch nichts nützt. Das Schiff droht auseinanderzubrechen. Das würde für die gesamte Mannschaft den sicheren Tod bedeuten.

Jona bekennt sich schuldig

Jona hat bislang unter Deck geschlafen und von dem Unwetter nichts mitbekommen. Die Seeleute wecken ihn und fragen: „Hast du irgendetwas getan, dass es uns so übel geht und irgendeine Macht uns bestrafen will?“ Jona weiß sofort, woher der Wind weht, nämlich von Gott. Er bekennt sich schuldig. Er weiß auch, was nun zu tun ist: „Nehmt mich und werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen“, sagt er zu den Männern. Diese zögern, doch ihnen bleibt schließlich keine andere Wahl. Sie werfen Jona über Bord, und der Sturm verstummt augenblicklich. Das Meer beruhigt sich. Die Seeleute sind gerettet.

Jona im Walfisch

Doch auch Jona wird gerettet. Gott schickt einen großen Fisch, der ihn verschlingt. In dessen Bauch beginnt Jona zu beten. Er ruft zu seinem Gott, dessen Auftrag er nicht ausführen wollte. Und Gott erhört ihn. Nach drei Tagen und drei Nächten spuckt der Fisch Jona unbeschadet zurück an Land. Jona bekommt eine zweite Chance. Diesmal nimmt er Gottes Auftrag an und macht sich auf den Weg nach Ninive.

Schon oft ist mir die Jona-Geschichte begegnet. Aber erst neulich ist mir darin die „Ruhe“ aufgefallen. Nicht die sprichwörtlich gewordene „Ruhe vor dem Sturm“ – diese stille, angespannte Atmosphäre vor einem besonderen Ereignis. Sondern die „Ruhe nach dem Sturm“.

Musik: Sylvius Leopold Weiss, Suite in A-Dur für Laute: Allemande 

Die Ruhe nach dem Sturm

Nachdem die Seeleute Jona über Bord geworfen haben, tritt augenblicklich Ruhe ein – die „Ruhe nach dem Sturm“, nach dem schlimmsten Sturm ihres Lebens. Eine solche „Ruhe nach dem Sturm“, wie sie die Männer in der Geschichte von Jona erleben, kennen viele Menschen – jedenfalls im übertragenen Sinn. Sie haben schon einmal eine Zeit der Ruhe, eine Zeit der Erholung und Entspannung nach einer großen Anstrengung erfahren. Für die einen kommt die Ruhe nach einer bestandenen Prüfung, für die anderen nach einem erfolgreich abgeschlossenen Projekt im Beruf und für die nächsten nach irgendeiner anderen körperlichen oder seelischen Herausforderung. Viele Menschen erleben auch ihren alljährlichen Urlaub als eine solche „Ruhe nach dem Sturm“ – eine Ruhe, die ihnen gut- und nottut.

Menschen heute und ihre Ruhe nach dem Sturm 

Aus Erfahrung wissen viele Menschen aber auch: Es ist manchmal gar nicht so leicht mit dieser „Ruhe nach dem Sturm“. Wenn der Sturm vorüber, wenn die besondere Situation geschafft ist, dann ist man selbst oft geschafft. So sind nicht wenige Menschen zu Beginn ihres Urlaubs erst einmal krank. Andere fallen nach der Herausforderung, die sie soeben gemeistert haben, in ein tiefes Loch.

Helmut

Ich denke an Menschen, die eine solche „Ruhe nach dem Sturm“ erlebt haben, zum Beispiel Helmut. Er hat seinen Ruhestand erreicht. Lange hat er sich darauf gefreut. In den letzten Monaten hat er ihn sogar regelrecht herbeigesehnt. Nun ist er endlich da. Aber nun ist auf einmal auch so viel Zeit da – so viel Zeit, die nicht einfach totgeschlagen, sondern die gestaltet sein will. Allerdings mit ganz anderen Dingen als den gewohnten und vertrauten.

Sabine

Ich denke auch an Sabine. Sie hat eine schwere Erkrankung überstanden. Sie kann das Krankenhaus nach vielen Wochen zwischen Hoffen und Bangen, nach unzähligen Operationen, Therapien und Reha-Maßnahmen endlich verlassen. Sie ist glücklich. Aber zu Hause erscheint ihr alles ganz fremd. Sie erscheint sich selbst ganz fremd. Vieles geht nicht mehr so wie vor der Erkrankung, und manches geht überhaupt nicht mehr.

Klaus

Und ich denke an Klaus. Er hat vor kurzem seine Ehefrau verloren. Als der Sturm noch tobte, als es noch so viele Wege zu gehen galt und es so viele Dinge gab, um die er sich kümmern musste, da hat er das Loch gar nicht bemerkt. Aber irgendwann war alles erledigt und das letzte Kondolenzschreiben beantwortet, und da war es auf einmal da – dieses große Loch der Traurigkeit, der Einsamkeit und der Leere. Ein Loch, das ihn nun zu verschlingen droht.

Musik: Adam Falckenhagen, Sonata c-moll op. 1: Largo

Jona findet Ruhe im Bauch des Wals

In der Geschichte von Jona erleben nicht nur die Seeleute an Bord des Schiffes eine „Ruhe nach dem Sturm“. Jona erlebt sie auch. Diese „Ruhe nach dem Sturm“ sieht für ihn allerdings ganz anders aus als für die Seeleute. Diese erleben sie oberhalb der Wasseroberfläche, Jona unterhalb – im Bauch des Fisches, wie auch immer man sich dies vorstellen mag. Als Jona von dem Fisch verschluckt wird, ist auch für ihn der Sturm mit einem Mal vorüber. Der Erzählung nach ist auch er dem Wüten des Meeres von einem Moment zum anderen entzogen. An Jonas „Ruhe nach dem Sturm“ im Bauch des Fisches ist mir klargeworden: Sie kann ganz bewusst eine Zeit mit Gott sein, genauer gesagt: eine Zeit des Gebets. Denn in der „Ruhe nach dem Sturm“, die Jona im Bauch des Fisches erlebt, ist das einzige, das von ihm berichtet wird, dass er betet. Er dankt Gott für die Bewahrung, die er erfahren hat. Jona sagt:
Bibeltext (Jona 2,4-7

Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben.
Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich,
dass ich dachte, ich wäre von deinen Augen verstoßen,
ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen.
Wasser umgaben mich bis an die Kehle,
die Tiefe umringte mich, Schilf bedeckte mein Haupt.
Ich sank hinunter zu der Berge Gründen,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.
Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt,
HERR, mein Gott!
(Jona 2,4-7)

Es ist ein langes Gebet, das Jona an Gott richtet. Jetzt hat er endlich Zeit dafür. Jetzt hat er endlich die nötige Ruhe dazu. Am Ende legt Jona sein Leben ganz bewusst in Gottes Hand, obwohl er noch nicht weiß, wie es weitergehen wird. Er beschließt sein Gebet mit den Worten: „Hilfe ist bei dem HERRN.“ (Jona 2,10)


Meine „Ruhe nach dem Sturm“ - unterschiedliche Erfahrungen

Meine ganz persönliche „Ruhe nach dem Sturm“ kann ich unterschiedlich empfinden – als Zeit der Erholung und Entspannung, die mir guttut, oder aber als Loch, in das ich hineinzufallen drohe. Aber sie kann immer eine Zeit mit Gott, eine Zeit des Gebets sein. Gott ist da in meiner Ruhe. Inmitten meiner Ruhe ist er ansprechbar. Er ist ansprechbar für meine Freude darüber, dass ich die Herausforderung gemeistert habe. Er ist ansprechbar für meinen Dank, weil ich bewahrt wurde. Er hört zu, wenn ich traurig bin. Denn mein Leben hat sich durch einen Abschied oder eine Krankheit vielleicht stark verändert. Es ist nicht mehr so, wie ich es kenne und liebe. Gott hört auch meine Erschöpfung – wenn das, was ich geschafft habe, über meine Kräfte gegangen ist. Gott ist da und er hört mein Gebet aus der „Ruhe nach dem Sturm“. So wie er Jonas Gebet aus dem Bauch des Fisches gehört hat.

Zwischenraum statt Dauerzustand

An Jonas „Ruhe nach dem Sturm“ ist mir noch etwas klargeworden: Sie ist kein Dauerzustand, sondern lediglich ein Zwischenraum. Jonas „Ruhe nach dem Sturm“ im Bauch des Fisches dauerte drei Tage und drei Nächte. Drei Tage und drei Nächte befindet er sich in jenem eigentümlichen Zwischenraum unter der Wasseroberfläche. Danach geht es für Jona zurück an Land, zurück ins Leben: „Der HERR sprach zu dem Fisch und der spie Jona aus ans Land.“ Jona wird im wahrsten Sinne des Wortes ins Leben „zurückgespuckt“.

Meine ganz persönliche „Ruhe nach dem Sturm“ kann kürzer oder auch sehr viel länger sein als drei Tage und drei Nächte. Doch egal, wie lange sie auch dauern mag: Sie ist kein Dauerzustand, sondern lediglich ein Zwischenraum – ein Zwischenraum, den ich früher oder später wieder verlassen muss bzw. den ich früher oder später wieder verlassen darf. Jeder Urlaub endet irgendwann einmal und ich muss zurück in meinen Alltag – mit all den Sorgen und Nöten, mit all den Anforderungen und Herausforderungen, die zu ihm gehören. Andererseits darf ich aber auch hoffen: Die Löcher, in die ich nach manch einem Lebenssturm hineingerate, sind kein Dauerzustand, sondern nur ein Zwischenraum.

Zwischenräume von Helmut, Sabine und Klaus

Ich denke wieder an Helmut. Er war zwei volle Jahre in seinem Zwischenraum. So lange hat er gebraucht, bis er sich neu orientiert hatte. Bis ihm klargeworden ist: Was will ich anfangen mit meiner Zeit? Was ist mir wirklich wichtig und was auch nicht oder nicht mehr?

Sabine hat ihren Zwischenraum nach sechs Monaten verlassen. Sie hatte sich mit dem Leben, wie es geworden ist, neu arrangiert.

Klaus ist noch mittendrin im „Bauch des Fisches“. Er braucht noch viel Raum, in dem er weinen und klagen kann. In dem er seinen Schmerz und seine Wut darüber, dass der Tod mitten in sein Leben eingebrochen ist, zulassen kann.

Musik: Adam Falckenhagen, Sonata c-moll op. 1: Allegro un poco 

Der Zwischenraum ist eine Zeit der Verwandlung

Die „Ruhe nach dem Sturm“, jener Zwischenraum, den der Prophet Jona im Bauch des Fisches verbracht hat, ist eine Zeit der Verwandlung. Ich schöpfe wieder Kraft. Ich orientiere mich neu. Ich arrangiere mich mit dem, was ist. Ich gewinne neuen Lebensmut. Vielleicht werde ich aber auch enttäuscht ins Leben „zurückgespuckt“. Das muss jedoch nicht zwangsläufig negativ sein. 

Eine Enttäuschung kann auch was Positives sein

Denn wenn man sich das Wort „enttäuschen“ einmal genauer anschaut, kann man einer Enttäuschung auch etwas Positives abgewinnen. Das liegt an der Silbe „ent“, die die Bedeutung „von etwas weg“ hat. Wenn ich meinen Wasserkocher ent-kalke, dann bringe ich ihn weg vom Kalk. Ich befreie ihn davon. Wenn ich meinen Körper ent-wässere, dann bringe ich ihn weg von unguten Wassereinlagerungen. Ich befreie ihn davon. Und wenn ich selbst ent-täuscht werde, dann werde ich von einer Täuschung weggebracht. Ich werde befreit von einer Täuschung, der ich erlegen war. Bin ich vielleicht darüber enttäuscht, dass ein anderer mich anlügt oder versetzt, dann werde ich von der Täuschung befreit, dass Menschen immer die Wahrheit sagen und immer zuverlässig sind. Bin ich darüber enttäuscht, weil mir ein solches Unglück widerfahren ist, obwohl ich mir nichts habe zu Schulden kommen lassen und nach Gottes Geboten und in Frieden mit anderen gelebt habe, dann werde ich von der Täuschung befreit, dass im Leben immer alles gerecht zugeht und ein Christ stets auf der Sonnenseite des Lebens steht. Wenn ich eine Enttäuschung aus diesem Blickwinkel heraus betrachte, tut sie immer noch weh, aber sie hindert mich nicht daran, ins Leben zurückzukehren.

Musik: Sylvius Leopold Weiss, Suite A-Dur für Laute: Sarabande 

Eines steht für mich fest: Wie auch immer ich aus meiner „Ruhe nach dem Sturm“ ins Leben zurückkehre – gestärkt, neu orientiert, getröstet oder enttäuscht: Ich werde kein völlig neuer Mensch sein. Aber ich bin auch nicht mehr der alte. Meine Verwandlung hat begonnen. Das war auch bei Jona so. 

Jonas beginnende Verwandlung

Auch bei ihm ist die Verwandlung, die im Bauch des Fisches begonnen hat, nach drei Tagen und drei Nächten noch nicht abgeschlossen. Als er von dem Fisch an Land gespuckt wird, geht er zwar gemäß seinem Auftrag nach Ninive. Doch er nimmt viele seiner alten Vorurteile, Missverständnisse und Widerstände mit. Er richtet zwar seinen Auftrag aus und kündigt den Bewohnern von Ninive den Untergang an. Doch er hat seinen Auftrag noch nicht wirklich verstanden. Er hat Gott noch nicht verstanden. Jona erwartet, dass seinen Worten Taten folgen: Gott soll die Stadt und alle, die in ihr leben, zerstören. Doch Jonas Worten folgen ganz andere Taten: Die Menschen ändern sich. Sie kehren von ihren bösen Wegen um und bekehren sich zu Gott. Daher schenkt Gott ihnen das Leben neu. Das kann Jona nicht begreifen. Er kann Gottes Barmherzigkeit nicht begreifen, die er doch am eigenen Leib erfahren hat. Jona hat noch einen weiten Weg vor sich, aber er steht auch nicht mehr am Anfang. Jona ist nicht gänzlich verwandelt, aber er ist auch nicht mehr der alte.

Der nächste Sturm kommt bestimmt

In der Bibel erfahren wir nicht, wie es mit Jona weitergegangen ist – ob er weitere Aufträge von Gott bekommen und diese dann unverzüglich ausgeführt hat oder ob er von einem Sturm in den nächsten geraten ist und in jeder „Ruhe nach dem Sturm“ ein bisschen mehr verwandelt wurde. Vielleicht ahnen wir aber: Der nächste Sturm für uns kommt bestimmt – der nächste Wettersturm und vermutlich auch der nächste Lebenssturm. Und mit ihm kommt auch die nächste „Ruhe nach dem Sturm“. Vielleicht machen wir es dann wie Jona und machen aus der „Ruhe nach dem Sturm“ einen „Zwischenraum mit Gott“. In diesem Zwischenraum vertraue ich darauf: Gott lässt mich neue Kraft schöpfen. Er hilft mir, mich neu zu orientieren, mich zu arrangieren mit dem, was ist. Gott gibt mir die Stärke, eine Enttäuschung zu überwinden und neuen Lebensmut zu gewinnen. Meine „Zwischenräume“ sind nicht leer. Gott ist da. Er ist bei mir. Im Gebet bin ich mit ihm verbunden.

Musik: Sylvius Leopold Weiss, Suite A-Dur für Laute: Courante
 

 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren