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Der gute Hirte oder:  Und ob ich schon wanderte im finstern Tal...
Bild: Pixabay / conderdesign

Der gute Hirte oder: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal...

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Ich besuche eine ältere Dame im Hospiz. Ich klopfe und warte, aber sie scheint mich nicht gehört zu haben. Vorsichtig öffne ich die Tür. Sie liegt in ihrem Bett. Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich neben sie. Als ich beginne zu sprechen, geht ihr Blick ins Leere. Kaum reagiert sie auf das, was ich sage. Sie ist ganz woanders. Die Schwestern haben mir schon von ihrer Demenz erzählt. Aber ich möchte ihr doch gern etwas Gutes dalassen.

Wort für Wort kennt sie den 23. Psalm auswendig

Ich spreche laut und langsam den dreiundzwanzigsten Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“. Nach einigen Sätzen scheint es, als erwache die alte Dame. Sie öffnet den Mund und spricht den Psalm mit. Wort für Wort, Vers für Vers kennt sie ihn auswendig. Die vertrauten Worte erreichen eine tiefe Schicht in ihr. Wahrscheinlich hat sie ihn im Religionsunterricht gelernt oder als Konfirmandin. Vielleicht hat er sie durch manche Lebenslagen hindurch begleitet.

They know it by heart

Nicht zum ersten Mal erlebe ich das mit diesen uralten Worten. Ich freue mich, wenn Patienten, die ich als Krankenhauspfarrerin besuche, diese Verse beim Beten mitsprechen. Er ist ihnen wirklich in Fleisch und Blut übergegangen. Im Englischen sagt man dazu: they know it by heart – sie wissen es im Herzen. Das Auswendig-Wissen geht über die Kopf- oder Vernunftebene hinaus. Es trifft wirklich das Herz und wird zum Inwendig-wissen. Menschen murmeln die Worte dieses Psalms mit, wenn ich sie mit ihnen bete. Auch wenn vieles andere nicht mehr geht: Dieser Psalm ist und bleibt in ihrem Herzen: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Musik: Franz Schubert, Gott ist mein Hirt, D. 706 

Der 23. Psalm

Worte des 23. Psalms:

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Was den 23. Psalm so beliebt macht

Der dreiundzwanzigste Psalm ist einer der wichtigsten Psalmen aus der Bibel. Das höre ich in vielen Gesprächen. Jugendliche suchen ihn sich als Konfirmationsspruch aus. Ehepaare wählen ihn als Trauspruch – und zwar bis heute. Solch ein Spruch wird ausgewählt, um einen Menschen durch sein Leben zu begleiten. Um immer mal wieder Orientierung zu geben, ein Plus zusätzlich zum täglichen Einerlei. Er steht als ein kirchliches Motto über dem Leben. Wer ihn auswählt, verknüpft damit die Hoffnung, Gott möge als Begleiter in allen Lebenslagen da sein und als Gegenüber ins Leben hineinsprechen. Auch auf vielen Grabsteinen ist er zu lesen oder doch zumindest ein Bild des Hirten abgebildet. Die Verstorbenen sollen auch im Tod gut begleitet sein.

Der Herr ist mein Hirte.

Hirtenalltag in Israel und Palästina

Ich hatte das große Glück, im Theologiestudium in Jerusalem zu studieren. Auch später bin ich immer mal wieder nach Israel und Palästina gereist. Dort gibt es sie tatsächlich noch im täglichen Bild: die Hirten. Sie hüten in einem unwegsamen Gelände ihre Schafe oder Ziegen. Sie üben einen rauen Beruf aus. Wenn sie auf ihre Herde aufpassen, bringen sie sich in Gefahr. Nicht das idyllische Leben, wie wir es in Kinderbibeln finden. Hirten sind Nomaden und ziehen mit ihren Tieren von Futterplatz zu Futterplatz. Dabei geraten sie oft in Streit mit anderen Hirten oder aber mit ansässigen Bauern.

Hirten müssen zuverlässig sein

Die Tiere sind in Gefahr, von wilden Tieren gerissen oder aber von Räubern gestohlen zu werden. Um das zu verhindern, müssen Hirten zuverlässig sein. Im Notfall riskieren sie sogar ihr Leben für die Herde. Die Schafe und Ziegen spüren: hier sind sie sicher und geschützt.

Tiefes Vertrauen zeichnet das Verhältnis zwischen Hirten und Herde aus. Egal wohin sie ihre Tiere führen, sie folgen. Auch wenn es ein tiefes Tal ist.

Musik: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate No. 15 D-Dur op. 28 “Pastorale”, 1. Satz: Allegro   

Guten Hirten können die Tiere vertrauen. Sie gehen ihnen voran und führen sie zu fetten Weideplätzen. Wenn nötig, setzen sie sogar ihr Leben für die Herde ein. Das Vertrauen zahlt sich aus.

Nicht alle Hirten sind zu ihren Tieren gut

Aber leider sind nicht alle Hirten gut. Das Vertrauen muss erst erarbeitet werden. Manche vernachlässigen die Herde und haben eher ihren eigenen Profit im Blick.

Schon in der Bibel wird vor diesen schlechten Hirten gewarnt. So sagt der Prophet Hesekiel (34,2):“ So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?“  

Die Hirten, die er vor Augen hat, haben ihre Aufgaben mangelhaft wahrgenommen. Dadurch haben sie ihre Herde in Gefahr gebracht und Krankheiten riskiert. Sie haben ihren Beruf in egoistischer Weise ausgeübt. Sie haben zu viel an sich gedacht und sich selbst bereichert. Dabei haben sie die Schafe aus dem Blick verloren. Hesekiel zeichnet das Bild vom schlechten Hirten.

Auch Menschen, die Macht missbrauchen, sind schlechte Hirten

Damit kritisiert er alle Großen: Menschen, die in religiöser, politischer oder sozialer Verantwortung stehen und sie missbrauchen. Im Blick auf das Israel seiner Zeit sind das König, Priester, Propheten und andere. Sie sind schlechte Hirten, wenn sie nur auf das eigene Wohl bedacht sind. Stets in Sorge für sich selbst – statt für die ihnen anvertraute Herde. 

Im Neuen Testament werden diese schlechten Hirten Mietlinge genannt: Sie übernehmen den Dienst wegen des Lohns und nicht wegen der Tiere. Wenn es hart auf hart kommt und ein Wolf in die Herde einbricht, bringen sie sich selbst in Sicherheit und fliehen. Es geht ihnen nicht um die Schafe, nicht um ihre Herde. Es geht ihnen in allererster Linie um sich selbst, um ihre Macht.

Gewaltfreier Einsatz in Israel für mehr Demokratie 

Auf Anhieb fallen mir auch bei uns Institutionen oder Menschen ein, die mit dieser harschen Kritik gemeint sein können.

Ich habe im März diesen Jahres Israel bereist. Dort habe ich mehrere Kundgebungen besucht, auf denen Menschen sich für Demokratie eingesetzt haben. Sie wollen mitbestimmen und befürchten, ihr Land könne sich unter der augenblicklichen Regierung in eine Diktatur verwandeln. Menschen unterschiedlichen Alters oder politischer Couleur, Männer und Frauen, Religiöse und Säkulare. Zehn- ja, Hunderttausende. Auf sehr kreative Art und Weise lassen sie sich gewaltfreien Widerstand einfallen. Sie blockierten den Flughafen, als ich da war, um die Regierung am Losfliegen zu hindern. Die Reservisten verweigerten ihren regelmäßigen Armeedienst. Ganze Berufsgruppen wie Ärzte, Krankenhausangestellte, Rechtsanwälte legten ihre Arbeit nieder. Das Philharmonische Orchester Tel Aviv spielte aus Protest die israelische Nationalhymne.

Wir brauchen gute Hirten

Auf den wöchentlichen Kundgebungen schwenken Menschen die israelische Fahne und singen zum Abschluss jedes Mal die Nationalhymne. Damit wollen sie zum Ausdruck bringen: Wir sind Israel. Wir brauchen gute Hirten.
Sie schließen sich zusammen und werfen ihrer derzeitigen Regierung genau dasselbe vor wie Hesekiel damals:

„Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?“

Ich wünsche mir viele gute Hirten auf der Welt und in der Kirche, die das Vertrauen der Menschen nicht missbrauchen und für sie da sind in ihrer Not. 

Musik: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate No. 15 D-Dur op. 28 “Pastorale”,  2. Satz: Andante

Tiefe Täler in der Wüste

Wir sind im Heiligen Land oft gewandert: Täler in der Wüste sind eng und steinig. Wadi heißen sie. Wer sich hier verirrt oder abstürzt, dem ist kaum zu helfen. Die tiefen Täler sind so schmal und eng, dass sie schnell volllaufen, wenn plötzlicher Regen einsetzt. Menschen können sich oft nicht schnell genug in Sicherheit bringen und ertrinken. Ertrinken in der Wüste, das passiert jedes Jahr. 

„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal“ – das ist Realität! Täler sind gefährlich, angsteinflößend, einsam.

Wo Menschen heute tiefe Täler erleben

Doch nicht nur beim Wandern erleben Menschen solche finsteren Täler.

Angst kann ein solches Tal sein. Panikattacken, die einen durcheinanderwirbeln. Da bleibt einem die Luft weg, und es ist schwer, zur Ruhe zu kommen.

Oder die Trennung von einem geliebten Menschen fühlt sich an wie ein finsteres Tal. Einsamkeit macht sich breit. Mit wem kann ich sprechen? Wer hört mich, wenn mir die Decke auf den Kopf fällt?  

Ich denke an den Krieg, der seit einem Jahr vor unserer Haustür tobt. Er fordert täglich Opfer: sowohl bei den Menschen in der Ukraine als auch weit darüber hinaus. Die Kämpfe dort sind wie tiefe Täler. Aber auch wer fliehen kann, nimmt die Verletzungen und Ängste mit.

Was helfen kann, um einen Ausweg zu finden

Menschen durchschreiten tiefe Täler. Sie wissen manchmal nicht, wo sie einen Ausweg finden. Ich wünsche ihnen, dass sie nach guten Menschen Ausschau halten. Menschen, die sie unterstützen und ihnen zuhören. Die einfach an ihrer Seite bleiben und sie dadurch spüren lassen: Du bist nicht allein. Es ist nicht alles finster um dich herum. So werden sie zu guten Hirten.   

Es kann ein Trost sein, wenn der Psalmist verspricht, Gott lässt uns nicht im finsteren Tal. Er zeigt einen Weg heraus. „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück.Das ist ein großartiger Kontrapunkt. Was für ein Vertrauen! Ein Gegenpol. Möge dieses Vertrauen in uns stärken.

Musik: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate No. 15 D-Dur op. 28 “Pastorale”,  2. Satz: Andante

Tiefe Täler durch Krankheit erleben

Ich sitze an einem Krankenbett und bete den Psalm 23: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal. Kranke Menschen wandern durch manche finsteren Täler. Sie erleben oft Finsternis: wenn die Krankheit ausbricht, bei einer aussichtslosen Diagnose, bei starken Schmerzen. Sie wissen, wie ein Tal sich anfühlt, wenn es nicht mehr aufwärts geht. 

Auch ihre Familien und Freunde, die Angehörigen erleiden diese Täler mit ihnen. Da fehlen mir oft die Worte. Aber zum Glück muss ich mir den Trost nicht selbst ausdenken. Ich kann mir Worte aus der Bibel ausleihen und sie ermutigen, bei ihren Kranken zu bleiben. „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal.“

„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal“

Ich erlebe, wie auch Ärzte und Ärztinnen, Krankenschwestern und Pfleger es wie ein finsteres Tal empfinden, den Patienten eine schlimme Diagnose mitteilen zu müssen. Es ist schwer, ihre Reaktion und ihre Fragen auszuhalten. Da kann es auch ihnen eine Hilfe sein, wenn sie das nicht allein aushalten müssen. Wenn sie Gottes Zusage spüren, in allem bei ihnen zu sein.

In der Krankenhauskapelle treffe ich immer wieder Patienten und Patientinnen, Angehörige und eben auch Pflegepersonal. Für einen Augenblick kommen sie zur Ruhe, zünden eine Kerze an und sprechen ein kurzes Gebet.

„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir“.  

Musik: Franz Schubert, Der Herr ist mein Hirte 

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“.

Es gibt einen Ausweg 

Ich höre diesen Satz so: Es gibt einen Ausweg. Auch wenn es finster um mich herum ist, bin ich dieser Dunkelheit nicht ausgeliefert. Die Dunkelheit kann mich nicht in ihren Bann schlagen, sie verschluckt mich nicht, denn Gott ist bei mir. Ich fürchte kein Unglück, denn du, Gott, bist bei mir. So simpel. Und doch so atemberaubend und umwälzend.

Gott ist bei mir. Diese Gewissheit möchte ich in mich hinein sickern lassen. Ich möchte lernen, mit ihr zu leben.

Lernen mit dieser Gewissheit zu leben: Gott ist bei mir

Mir hilft es, mir Zeit zu nehmen. Ganz still an einem ruhigen Ort zu sitzen. Gern ohne Worte. Oder vielleicht dabei ein Gebet zu sprechen, gerne den Psalm 23. „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du, Gott, bist bei mir“.

Ich nehme gern ein Gesangbuch in die Hand und singe ein Lied. Es ist eine ganze Fülle, ein Schatz an wunderschönen Texten und Melodien, die immer wieder das sagen wollen: Du, Gott, bist bei mir.

Ich versuche, den Tag unter Gottes Wort zu stellen und lese morgens die Losungen. Bibelverse für jeden Tag. Da spüre ist, Gott ist bei mir.

Eigene Wege suchen, um diese Gewissheit zu finden

Jeder und jede kann eigene Wege finden, um zu erfahren:
Es gibt die finsteren Täler im Leben, aber der gute Hirte geht mir voran und beschützt mich. Gott ist an meiner Seite. Er geht mit mir. Mit ihm brauche ich kein Unglück zu fürchten. Er führt mich heraus. Du, Gott, bist bei mir.    

Dennoch...

Du führst mich durch unwegsame Schluchten,
großen Schrecken bin ich ausgeliefert
und bin dennoch behütet.

Meine Kraft ist längst erschöpft,
aber du trägst mich hindurch

(Antje Sabine Naegeli)

Musik: Franz Schubert, Der Herr ist mein Hirte 

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