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Die dunkle Seite der Begeisterung
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Die dunkle Seite der Begeisterung

Anja Harzke
Ein Beitrag von Anja Harzke, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt am Main
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Heute stelle ich eine Vase mit einem Buchsbaumzweig auf den Frühstückstisch. Denn es ist Palmsonntag, und da gehören Zweige für mich dazu. Mein Buchsbaumzweig ist nur eine kleine Erinnerung an die großen Zweige, die in der biblischen Geschichte zum Palmsonntag vorkommen.

Palmzweige für Jesus

Da wird erzählt: Die Menschen in Jerusalem haben Zweige von den Bäumen abgeschnitten und auf die Straße geworfen. Die Zweige bildeten sozusagen einen grünen Teppich, auf dem Jesus in Jerusalem eingezogen ist. Damals waren es oft Palmzweige, die verwendet wurden, um Könige und siegreiche Feldherren zu begrüßen. Daher kommt der Name des Sonntags heute: Palmsonntag.

Begeisterung liegt in der Luft

Jesus wird begrüßt wie ein König. Begeisterung liegt in der Luft. Ich stelle mir vor, wie das wohl damals war. Die Stadt ist voll, denn es ist Passahfest. Dafür kommen Jüdinnen und Juden aus dem ganzen Land und sogar darüber hinaus aus dem Mittelmeerraum nach Jerusalem. Den Menschen, die zum Fest nach Jerusalem strömen, steht die Vorfreude ins Gesicht geschrieben. In den Gassen herrscht Trubel und Stimmengewirr.

Alle wollen Jesus sehen

Auf einmal ruft einer: „Da kommt er!“ Die Menge gerät in Bewegung. Alle wollen zum Stadttor, um ihn zu sehen. Er, das ist Jesus. Ihm geht der Ruf voraus: Dieser Mensch spricht von Gott, wie es noch keiner vor ihm getan hat. Er kann Kranke heilen und Dämonen austreiben. Er soll sogar ein totes Mädchen zum Leben erweckt haben. Diesen Mann wollen sie sehen und dabei sein, wenn er das nächste Wunder vollbringt. Wer weiß, ob er nicht jetzt hier in der Hauptstadt Jerusalem seine ganze Macht zeigt?

Jesus reitet auf einem Esel in die Stadt

Als sie Jesus kommen sehen, trauen sie ihren Augen nicht. Er kommt genau so, wie es in der Heiligen Schrift vorausgesagt ist: Er reitet auf einem Esel. Denn so steht es geschrieben bei einem der Propheten: „Freue dich, Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel.“ (Sacharja 9,9) Die Leute sehen, wie Jesus auf einem Esel in die Stadt reitet, und sind außer sich. Sie jubeln und schreien Jesus zu: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen Gottes!“

Hemmungslose Begeisterung. Die höre ich in der biblischen Geschichte zum Palmsonntag heute. Begeisterung ist ein herrliches Gefühl. Man ist Feuer und Flamme für jemanden oder für etwas. Man kann nicht stillsitzen, sondern muss die Begeisterung rauslassen. Hören Sie, wie das am Palmsonntag in der Bibel klingt:

Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.

Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.“

Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: 
Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der? Das Volk aber sprach: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa. (Matthäus 21,1-11)

Musik: Johann Sebatian Bach, Bourrée aus Orchestersuite Nr. 3 (La Stravaganza Köln und Andrew Manze, Violine)

Der lang erhoffte Retter

Zum Palmsonntag heute gehört Begeisterung. Begeistert begrüßen die Menschen Jesus, als er auf einem Esel in Jerusalem einzieht. Sie streuen Zweige auf seinen Weg und jubeln ihm zu, weil sie in ihm den lang erhofften Retter sehen. Ihre Begeisterung steckt an, sie reißt mit, greift um sich.

Was begeistert mich?

Ich frage mich: Was begeistert mich – so richtig? Wann hat es mich mal mitgerissen? Mir fällt das Konzert meiner Lieblingsband bei einem Open-Air-Festival ein. Bei dem stimmte alles: ein Sommerabend draußen auf freiem Feld, der Geruch von Gras und Erde, die knisternde Atmosphäre, die Freunde um mich herum. Das Warten auf den Auftritt, die Spannung und die Vorfreude, die sich entladen hat, sobald die Band auf die Bühne kam. Und dann war alles Musik! Tanzen und Mitsingen, bis die Kehle heiser ist. Es riss alle im Publikum mit. Zur Begeisterung gehörte, dass wir so viele waren, die in diesem Augenblick das Gleiche erlebt und getan haben. Wenn ich heute daran denke, spüre ich diese Begeisterung immer noch.

Begeisterung ist der Glanz im Alltag

Begeisterung ist etwas Wunderbares. Wir brauchen sie ab und zu. Sie ist der Glanz im Alltag. Ein Leben ohne Begeisterung wäre eintönig. Ich kann mich für ein bestimmtes Musikstück begeistern oder für einen Film, der mich berührt. Auch Fußballfans wissen, was es heißt, gemeinsam im Stadion das eigene Team anzufeuern und zu feiern, wenn es ein Tor schießt.

Sich für Menschen begeistern

Es gibt die Begeisterung für einen Menschen, wenn man frisch verliebt ist. Dann ist erst einmal alles an ihm faszinierend und anziehend. Man möchte die Augen nicht von ihm lassen und genießt jeden Moment, den man mit ihm verbringt. So kann Verliebtsein sein. Begeisterung von Kopf bis Fuß. Man hat das Gefühl: Meine Träume und meine Wünsche werden wahr. Alles stimmt. Alles ist perfekt.

Auch ohne dass Liebe im Spiel ist, können mich andere Menschen begeistern. Wenn jemand etwas besonders gut kann und ich sein oder ihr Können einfach genieße. Bei der Arbeit kann eine Kollegin, ein Kollege begeistern, wenn sie mich mitreißen mit ihrem Elan und eine Idee davon geben: Da wollen wir hin und das erreichen wir auch gemeinsam. Ich finde, Menschen begeistern, wenn sie Ausstrahlung haben und die Gabe, andere mitzuziehen und zu gewinnen.  

Jesus -  die große Hoffnung auf Rettung

Etwas von diesen Gefühlen muss damals an Palmsonntag in der Luft gelegen haben, als Jesus in Jerusalem eingezogen ist. Die Leute haben gedacht: Jetzt erfüllen sich die großen Hoffnungen, die in der Heiligen Schrift stehen. Dieser Jesus muss der Retter sein, auf den wir warten. Jetzt wird alles anders, jetzt wird alles gut.

"Hosianna" - Hilf doch

Sie rufen ihm zu: „Hosianna!“ Das bedeutet übersetzt: Hilf doch! Es gab viele Gründe, warum Jesus helfen sollte. Die verhassten Römer, die das Land besetzt hatten. Sie herrschten mit Gewalt. Jüdinnen und Juden waren nicht frei, ihren Glauben zu leben. Hosianna – Hilf doch!

Außerdem erlebten die Leute damals jeden Tag den krassen Unterschied zwischen Reich und Arm. Hosianna – hilf doch, damit es mehr Gerechtigkeit gibt! Und da sind die Schicksale, die damals wie heute einzelne Menschen zu ertragen haben: Krankheiten, die einen fest im Griff haben und vom Leben abschneiden. Ängste und Zwänge, die einen wie Dämonen verfolgen. Hosianna – hilf doch!

Hosianna - ein Ruf, der auch heute passt

Dieser Ruf passt für mich auch zum Palmsonntag heute. Ich hoffe mit vielen Menschen gemeinsam, dass der Krieg in der Ukraine endlich ein Ende findet und dass Frieden gelingt. Hosianna – hilf doch! Und ich hoffe, dass die Menschen im Iran Wege aus einem Unrechtsregime herausfinden und viele andere sie dabei unterstützen. Ich warte darauf, dass es auch bei uns gerechter zugeht. Ich wäre begeistert, wenn einer kommt, der weiß, wie wir die vielen und großen Probleme lösen. Hosianna – hilf doch!

Musik: Johann Sebastian Bach, Osanna aus Messe in h-Moll, BWV 323 (Bach Collegium Japan unter Masaaki Suzuki)

Begeisterung kann kippen, wenn die Hoffnung nicht erfüllt wird

Sich für einen Menschen begeistern, ist herrlich. Aber Begeisterung kann kippen. Wenn derjenige nicht das bringt, was ich von ihm erwarte, wenn sie anders ist als das, was ich in ihr sehe, dann ist die Enttäuschung groß. Und Enttäuschung kann schnell in Wut und Aggression umschlagen.

Jesus soll Frieden und Gerechtigkeit bringen

So war das auch bei Jesus in Jerusalem. Die Leute haben ihn erst begeistert mit Palmzweigen und Jubelrufen in der Stadt begrüßt. Sie haben von ihm die Kraft erwartet, ihnen zu helfen. Sie haben in ihm den Messias gesehen: den von Gott Gesalbten, den lange angekündigten Retter. Er soll Gerechtigkeit und Frieden bringen. Glanz geht von ihm aus! Sie legen alle Hoffnung auf ihn. Er ist der Gerechte, er wird es richten. Er wird sie endlich herausholen aus dem Elend der Unterdrückung durch die Römer.

Jesus erfüllt die Erwartungen der Menschen nicht

Aber Jesus erfüllt nicht, was die Leute von ihm erwarten. Der große Umsturz findet nicht statt. Es kommt nicht zu der politischen Revolution gegen die Römer, nach der viele sich gesehnt haben. Es kommt alles anders. Die Römer im Verbund mit der religiösen Elite von Jerusalem lassen Jesus verhaften. Sie machen kurzen Prozess mit ihm und präsentieren ihn dem Volk. Da ist nichts mehr von einem König oder Retter zu sehen. Kein Revolutionär, kein Anführer in die Freiheit.

"Kreuzige ihn!"

Jesus ist eine klägliche Figur, verlassen und verraten sogar von seinen eigenen Freunden, geschlagen und gescheitert. Mit dem kann man nur noch Mitleid haben oder sich über ihn lustig machen: „Schaut her! Der soll der Messias sein. Der kann nicht einmal sich selber helfen – wie soll er andere retten?“ Am Palmsonntag ruft die Menge Jesus zu: „Hosianna!“ Vier Tage später schreien sie: „Kreuzige ihn!“

Zu hohe Erwartungen und Hoffnungen, die sich nicht erfüllen

Begeisterung schlägt um. Diese Erfahrung gibt es im Großen und im Kleinen. Mir ist es schon passiert, dass ich jemanden zu sehr idealisiert und ja, fast verklärt habe. Ich habe nur das Gute in ihm gesehen und alle anderen Seiten ausgeblendet. Ich habe unglaublich hohe Erwartungen und Hoffnungen in mein Gegenüber gesetzt. Und dann war ich enttäuscht, als sich meine Erwartungen nicht erfüllt haben. Mein Gegenüber war gar nicht die Lichtgestalt, für die ich ihn oder sie gehalten habe.

Menschen nicht idealisieren, sondern so sein lassen, wie sie sind

Der innere Schritt fällt dann schwer, mir klar zu machen: Der andere kann nichts dafür. Ich lag falsch mit dem, was ich mir ausgemalt habe. In meinem persönlichen Bereich schaffe ich es hoffentlich, mein Bild vom anderen zu ändern und zu verstehen, dass es nicht seine oder ihre Schuld ist, dass ich Wunschbilder in ihn projiziert habe. Im besten Falle kann dann daraus eine realistischere Freundschaft entstehen. Realistischer, weil ich dem anderen die Freiheit lasse, so zu sein, wie er ist, und nicht so, wie ihn gerne haben möchte. Dann kann sich Enttäuschung in etwas Gutes verwandeln.

Musik: Josef G. Rheinberger, Sanctus aus Requiem Op. 194 (Choir of Gonville und Caius College Cambridge unter Geoffrey Webber)

Zwischen "Hosianne" und "Kreuzioge ihn" liegen nur vier Tage

Die biblische Geschichte vom Palmsonntag führt mir vor Augen, was überzogene Begeisterung anrichten kann. Die Zeitspanne zwischen „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt“ und „Kreuzige ihn!“ ist kurz. Das ist eine Warnung: Vorsicht, wenn Menschen einen anderen mit allzu großen Hoffnungen überfrachten und von ihm Übermenschliches erwarten! Ich kenne den Effekt, gerne in dem einen das eindeutig Gute und in dem anderen das eindeutig Böse zu sehen. Sobald sich herausstellt, dass der vermeintlich nur Gute auch Schattenseiten hat, bröckelt sein Podest, auf das ich ihn gehievt habe.

Ich bin auch vorsichtig, wenn Ereignisse oder Entscheidungen allzu schnell als „historisch“ bezeichnet werden. Im Nachhinein zeigt sich oft, dass nicht alles so positiv war, was im Schwung der ersten Begeisterung am Anfang glänzend aussah.

Die eigenen Wünsche nicht auf sein Gegenüber zu projizieren

Das gibt es in der Politik genauso wie im privaten Bereich. Auch bei Freundschaften, in der Familie und erst recht in der Liebe muss ich aufpassen, auf mein Gegenüber nicht meine Wünsche zu projizieren, die sie oder er nicht erfüllen kann – oder auch nicht erfüllen will. Es bedeutet Freiheit, den anderen sein zu lassen, wie er ist – mit seinen guten Seiten, mit den schwierigen und mit denen dazwischen. Ich habe die Erfahrung gemacht: Das vertieft die Beziehung und kann für positive Überraschungen sorgen.

Sich die Begeisterung nicht nehmen lassen

Trotzdem. Bei aller gebotenen Vorsicht: Ich will mir die Begeisterung nicht nehmen lassen, für die der Palmsonntag steht. In der biblischen Geschichte jubeln die Menschen Jesus zu und streuen Zweige auf seinen Weg. Deshalb stelle ich heute eine Vase mit einem Buchsbaumzweig auf den Tisch. Und ich nehme etwas von diesem Lebensgefühl mit in die Woche. Wofür begeistere ich mich? Es wird vermutlich nicht gleich so Großes passieren, dass ich nur noch in Hosianna-Jubel ausbreche. Aber es wird hoffentlich Situationen geben, die meine Stimmung heben, die so etwas wie Glanz in meinen Tag bringen. Und wer weiß: Vielleicht taucht doch auch ein Anlass auf, über den ich so richtig begeistert sein kann.

Und ich halte an der großen Hoffnung fest, die ich mit Jesus verbinde. Ich glaube, dass in ihm die Kraft Gottes gewirkt hat, die helfen und retten kann. Hosianna – hilf doch! Das bete ich auch heute für alle, die Hilfe brauchen. Manchmal bitte ich auch für mich selbst: Hosianna! Hilf doch!

Jesus war kein Revolutionär - aber er ist gerecht und gibt Hoffnug

Jesus hat damals nicht die Erwartung erfüllt, die viele auf ihn gerichtet haben. Er war nicht der erhoffte Revolutionär, der die Römer aus dem Land vertreiben hat. So gesehen ist er gescheitert, als er verhaftet und am Kreuz hingerichtet wurde. Ich feiere den Palmsonntag mit Blick auf Ostern. Gott weckt den gekreuzigten Jesus vom Tod auf. Und damit steht die Hoffnung auf, die die Menschen beim Einzug von Jesus hatten. Ich setze auf die Hoffnungsentwürfe, die in der Heiliger Schrift des Judentums stehen. Christinnen und Christen beziehen sie auf Jesus, zum Beispiel die prophetische Ankündigung, wie der von Gott gesandte Retter kommt (Sacharja 9,9): Er ist gerecht. Er hilft. Er gibt Grund, zu jubeln und richtig begeistert zu sein.

Musik: Johann Sebastian Bach, Gique aus Orchster Suite Nr. 3(La Stravaganza Köln und Andrew Manze, Violine)

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