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Die Kraft des Waldes - Hildegard von Bingen
Pixabay/Sven Lachmann

Die Kraft des Waldes - Hildegard von Bingen

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt
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Ich finde es herrlich, im Freien zu sein. Von meinem Zuhause aus bin ich schnell im Wald. Das Naturschutzgebiet Kühkopf-Knoblochsaue liegt vor meiner Tür in Stockstadt am Rhein. Der Wald tut mir gut. Das viele Grün, die gute Luft, die besonderen, leisen Töne. Wenn ich unter den Bäumen spazieren gehe, spüre ich: In der Natur wirkt eine besondere Kraft.

Naturkundlerin und Mystikerin

Warum die Natur so wohltuend auf den Menschen wirkt, das hat Hildegard von Bingen beschrieben, die große Gelehrte, Naturheilkundlerin und Mystikerin des 12. Jahrhunderts. Heute, am 17. September, ist in den christlichen Kirchen ihr Gedenktag. Hildegard ist auch außerhalb der Kirchen populär. Ihr Wissen darüber, wie Mensch, Natur und Gott zusammenwirken, fasziniert viele bis heute.

"Grünkraft", die universale Kraft der Natur

Hildegard hat schon früh entdeckt, dass in der Natur eine universale Kraft wirkt, die Leben schafft, erhält und fördert. Sie nennt diese Energie „Grünkraft“, wohl, weil das Leben in der Natur oft in der Farbe Grün erscheint. Hildegard findet diese Grünkraft in allem, was es in der Natur gibt. In den Pflanzen, aber auch in den Tieren, den Steinen, dem Wasser und in der Luft. Sie beobachtet, wie sich die Grünkraft der Natur heilsam auf die Menschen auswirkt.

Im Mittelalter waren sich Mensch und Natur sehr nah

In ihrer Zeit, im tiefen Mittelalter, waren die Menschen der Natur noch viel näher. Heilmittel wurden fast ausschließlich aus Pflanzen gewonnen. Alles, was man zum Leben brauchte, musste der Natur abgerungen werden. Durch harte Arbeit, oft durch Verzicht, weil nur das auf den Tisch kommen konnte, was die Natur gerade hergab. Das galt auch für das Leben in den Klöstern.

Ein Leben verschlossen hinter dicken Klostermauern

Hildegard von Bingen wuchs als Nonne auf. Im Alter von acht Jahren wurde sie von ihren Eltern zusammen mit einer Verwandten, Jutta von Sponheim, in das Kloster auf dem Disibodenberg gebracht. Jutta war 16 und übernahm die Erziehung der kleinen Hildegard. Sie wurde ihre engste Vertraute. Die geistlichen Frauen lebten verschlossen hinter dicken Steinmauern. Als Benediktinerinnen gehörten das Studium der Bibel, die Gebete und Gottesdienste, Schreib- und Näharbeiten zu ihrem Alltag. Sonne und Wald – das gab es dort kaum. Als ihre Freundin Jutta mit 46 starb, wurde Hildegard schmerzhaft klar, dass ihr Tod auch die Folge von Auszehrung und Selbstkasteiung im Kloster war.

Grün ist die Hoffnung

Danach änderte sich alles. Hildegard übernahm die Leitung des Klosters. Und sie ging nach draußen, ins Freie. Vielleicht machte sie zuerst aus Trauer Spaziergänge im Wald rund um das Kloster. Vielleicht spürte sie, wie die Lebenskraft der Natur auch ihr schrittweise wieder Energie schenkte. Später schrieb sie: „Es soll der Mensch hinausgehen auf eine grüne Wiese und sie solange anschauen, bis seine Augen wie vom Weinen nass werden: Das Grün der Wiese nämlich beseitigt das Trübe in den Augen und macht sie wieder sauber und klar.“[1] Heute sagen wir es so: Grün ist die Hoffnung.

Musik

Hildegard entdeckte die Verbindung von Pflanzenwachstum und Licht

Warum tut es so gut, im Grünen zu sein? Wie wirkt die Natur auf den Menschen? Das hat Hildegard von Bingen, die Klosterfrau und Universalgelehrte des Mittelalters, erforscht. Sie beobachtete, wie die Natur immer nachwächst, sich verändert und anpasst. Hildegard entdeckte die Verbindung von Pflanzenwachstum und Licht.

Selbst hinter den dicken Mauern ihres Klosters gab es Pflänzchen, die durch Widerstände und Hindernisse hindurch einen Platz für sich erobern konnten. Allein das zu sehen, kann Seelennahrung sein. Wenn einem das eigene Leben kümmerlich vorkommt, zeigt jede kleine Pflanze, die sich ihren Weg bahnt: Es gibt diese Kraft, die einem hilft, sich zu entfalten und einen Platz für sich zu finden.

"Viriditas" - Ausdruck der göttlichen Liebe

Hildegard erfand ein neues Wort dafür. Aus der lateinischen Vokabel „viridis“ für die Farbe „Grün“ bildete sie den Begriff „Viriditas“ – Grünkraft. Hildegard sah diese Kraft in der gesamten Schöpfung wirksam, in den Pflanzen, in den Tieren, in den Mineralien und auch im Menschen.

Die Seele ist die Grünkraft im Körper des Menschen

Für sie ist die Grünkraft Ausdruck der göttlichen Liebe. Der Geist Gottes in der Schöpfung. Ohne diese Kraft wäre nichts, schreibt Hildegard, keine Bewegung, kein Wachstum, keine Vielfalt. Im gesamten Kosmos wirkt diese Viriditas. Die Seele ist die Grünkraft im Körper des Menschen. Sie soll sich entfalten können. Dann geht es dem Menschen an Körper, Geist und Seele gut. „Ganzheitlich“ heißt das heute.

Hildegard von Bingen ist in der katholischen Kirche "Lehrerin der Kirche"

Hildegard verstand es meisterhaft, ihre Erfahrungen mit der Heilkraft der Natur theologisch zu durchdenken. Und sie sorgte dafür, dass ihr Wissen aufgeschrieben und verbreitet wurde. Hildegard sieht sich als Prophetin und Sprachrohr Gottes. Heute gilt sie in der katholischen Weltkirche als „Lehrerin der Kirche“, eine von nur vier Frauen.

Sie gründet ein eigenes Kloster

Die Verbindung zwischen Schöpfung und Mensch war für Hildegard keine bloße Theorie. Sie hat daraus große Kreativität und Schaffenskraft gezogen. 1150 gründete sie ein eigenes Kloster bei Bingen am Rhein. Später wechselte sie mit ihrem Konvent auf die andere Rheinseite und leitete das Kloster Eibingen bis an ihr Lebensende. Sie wurde 81 Jahre alt.

Hildegard war überzeugt: Wir sind umgeben von der Grünkraft des Lebens, die Gott schenkt. Auch jetzt, wenn der Sommer zu Ende geht und der Herbst sich ankündigt.

Musik

Die Grünkraft, die Hildegard von Bingen beschrieben hat, verbindet Mensch und Natur. Hildegard konnte das im 12. Jahrhundert nur wahrnehmen, beobachten und beschreiben.

In der Waldluft steckt ein gesunder Cocktail aus bioaktiven Substanzen

Heute weiß man, dass fast alle Pflanzen Fotosynthese betreiben. Sie geben den für uns lebensnotwendigen Sauerstoff in die Natur ab. Bäume verströmen darüber hinaus Duftstoffe, die Terpene. Damit schützen sie sich untereinander etwa vor Schädlingsbefall. Wer im Wald spazieren geht, atmet mit der Waldluft einen ganz vielfältigen und gesunden Cocktail aus bioaktiven Substanzen ein.

Waldbaden senkt Stresshormone

Japanische Forscherinnen und Forscher konnten zeigen, dass sich die Waldatmosphäre positiv auf gestresste Menschen auswirkt. So senkt jeder Waldspaziergang das Level der Stresshormone bei uns. Daraus ist heute weltweit der Trend zum „Waldbaden“ geworden.

Der Wald ist also Lebenskraft pur. Hildegard von Bingen nannte das die Grünkraft. Sie schrieb: „Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit und diese Kraft ist grün.“ Für Hildegard ist in dieser Grünkraft Gott selbst da. Auch Menschen können sie empfangen.

Jesus heilt eine blutflüssigen Frau

In einer Heilungsgeschichte der Bibel wird für mich etwas davon deutlich. Da wird erzählt von einer Frau, die seit Jahren an Blutungen leidet. (Markus 5, 24b-34) Diese Frau hat von Jesus gehört und sucht seine Nähe. In der großen Menschenmenge will sie ihn berühren, wenigstens den Zipfel seines Gewandes. Sie glaubt, das reicht, um geheilt zu werden.

Als die kranke Frau Jesu Gewand berührt, ohne, dass er sie gesehen oder angesprochen hat, spürt sie, dass sie geheilt ist. In der Bibel steht, dass auch Jesus gleichzeitig fühlen konnte, wie eine Kraft von ihm ausgeströmt ist. Die Frau konnte gesund werden, weil sie ihrem Glauben getraut hat. Sie vertraut auf seine Heilkraft – mit Hildegard von Bingen gesprochen: auf seine Grünkraft. Der Glaube an Gott kann Menschen zu neuem Leben verhelfen. Davon war Hildegard von Bingen überzeugt. Sie war sich sicher: Gottes Kraft ist immer da!

Der Wald: Grünkraft - Lebenskraft aus der Ewigkeit

Für mich haben die Erfahrungen im Wald mit dieser Kraft Gottes zu tun, die sich im Leben zeigt. Das Leben findet immer neue Wege. Mit dieser Kraft kann ich mich immer wieder neu verbinden. Wenn ich schaue, wie die Bäume größer und älter werden, sich immer tiefer und fester in der Erde verwurzeln, ihre Krone entfalten, macht mir das Mut für mein Leben. Es stärkt mein Vertrauen darauf, dass die Kraft Gottes auch mein Leben durchdringt und es zur Entfaltung bringt. Der Wald ist für mich – und da bin ich ganz bei Hildegard: Grünkraft – Lebenskraft aus der Ewigkeit.

 


[1] Ingrid Riedel, Hildegard von Bingen: Prophetin der kosmischen Weisheit, Stuttgart 1994, S.14

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