Das Heilige in Dir und mir
„Ertragreiches Schweigen!“ Das wünscht mir eine junge Frau. Wir haben uns in einem Regionalexpress unterhalten und festgestellt, dass wir beide unterwegs sind zu Seminaren mit ähnlichen Zielen: Sie zu einem buddhistischen Schweige-Seminar, ich in ein Benediktinerkloster zu christlichen Schweigeübungen.
Schweigen in unterschiedlichen Weltanschauungen
Wir tun Ähnliches. Wir deuten es aber in verschiedenen Weltanschauungen. Fünf Tage später haben wir uns auf der Rückfahrt wiedergesehen. Sie lacht: „Namaste, das Heilige in mir grüßt das Heilige in Dir.“ Viel mehr Worte hatten wir nach fünf Tagen im Schweigen noch nicht wieder gesprochen, doch diese wenigen gefallen mir: „Das Heilige in mir grüßt das Heilige in Dir.“
Das Heilige ist in der Welt unterwegs
Seitdem begleitet mich dieses Bild: Das Heilige ist in der Welt unterwegs, in verschiedenen Menschen, Weltanschauungen. Und wenn wir uns sehen, kann es glücken, dass dies Heilige sich begegnet. Dieses Heilige erkennt sich in uns wieder und verbindet uns, so verschieden wir auch sind.
Alle Menschen tragen Teile des Heiligen in sich
Ich bin in einer Erzählung einer jüdischen Autorin und Ärztin auf einen ähnlichen Gedanken gestoßen. Sie heißt Naomi Remen. Sie stellt sich das mit dem Heiligen so vor: An einem bestimmten Punkt des Ursprungs aller Dinge wurde das Heilige in zahllose Teile zertrümmert. Seitdem ist das Heilige über das gesamte Universum verstreut. Wir tragen als Menschen alle Teile dieses Heiligen in uns. Es sind so etwas wie göttliche Funken in uns.[1]
Ich mag diesen Gedanken. Ich stelle mir vor, dass uns das Heilige immer wieder begegnet: Wenn mich jemand unverhofft anruft oder mir mit voller Aufmerksamkeit zuhört. Oder wenn mich jemand so anlächelt, dass mir warm ums Herz wird. Oder mir mit den Augen zuzwinkert, dass ich merke, ich bin anerkannt.
Wir gewähren dem Heiligen Zuflucht vor einer gleichgültigen Welt
Die Autorin Naomi Remen sagt es so: „Jemandem einen verlorenen Ohrring oder einen fallengelassenen Handschuh wiederzugeben, kann manchmal schon genügen, um das Vertrauen dieses Menschen in die Welt wiederherzustellen.“[2] Wir „gewähren ihm Zuflucht vor einer gleichgültigen Welt.“[3]
Ich finde das eine wunderbare Vorstellung. Das Heilige wirkt in uns, wenn wir uns begegnen. Mir hilft das. Denn ich würde gerne viel mehr große Dinge tun, mehr für Friede und Gerechtigkeit. Aber in all meinen Alltagsaufgaben komme ich nicht dazu. Deswegen ist das jetzt mein Beitrag: Ich konzentriere mich auf diese Begegnungen des Heiligen: „Das Heilige in mir grüßt das Heilige in Dir“.
[1] Rachel Naomi Remen, Aus Liebe zum Leben. Geschichten, die der Seele gut tun, Arbor Verlag 2022.
[2] A.a.O., 13.
[3] A.a.O., 14.