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Zu christlichen Wurzeln des Antisemitismus
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Zu christlichen Wurzeln des Antisemitismus

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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Vor vielen Jahren habe ich in einem Jerusalemer Krankenhaus mitgearbeitet in der Pflege für sterbende Krebspatienten. Diese Zeit hat mich bis heute geprägt. Damals, Anfang der 2000er Jahre, gab es dort noch jüdische Patient*innen, die die Schoa überlebt hatten. Mich hat sehr bewegt, dass ich mit jüdischen Menschen sprechen konnte, die mir von dieser Zeit erzählt haben, von der ich sonst nur im Geschichtsunterricht gehört hatte. Das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her. Damals hatte ich gedacht, dass Antisemitismus bis auf einige Ausnahmen in Deutschland und Europa Geschichte ist. Das war naiv, schon vor zwanzig Jahren.

In Ausdrücken, Sprichwörtern, Vergleichen und Witzen sichtbar

Antisemitismus war schon damals nicht verschwunden. Unter einer zivilisierten Oberfläche war er weiter vorhanden. Antisemitismus ist nicht erst dann da, wenn die Türen jüdischer Häuser mit dem Davidstern bemalt werden oder wo jüdische Menschen wie in den 30er Jahren wieder ihre Koffer packen, um dieses Land zu verlassen. Antisemitismus hat tiefere Wurzeln. Der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts war rassistisch begründet. Aber antisemitische Sprach- und Denkmuster im 19. und 20. Jahrhundert sind tief in der christlichen Überlieferung verwurzelt. Sie haben sich in Ausdrücken, Sprichwörtern, Vergleichen und Witzen eingeschlichen, in denen oft noch nicht einmal das Wort „Jude“ vorkommt.

Bereits das neue Testament bedient das Klischee des Pharisäers

Ein Beispiel aus meinem Fach in der Theologie, dem Neuen Testament: In den neutestamentlichen Evangelien setzt sich Jesus mit Pharisäern auseinander. Die Pharisäer waren zur Zeit Jesu eine Reformbewegung jüdischer Schriftgelehrter, die das Judentum wieder an seine Quellen zurückführen wollte. Bereits die Evangelien im Neuen Testament aber stellen die Pharisäer als ein überzogenes Zerrbild dar, das ihrer tatsächlichen geschichtlichen Wirklichkeit nicht entspricht. Und immer noch werden die Pharisäer oft als Heuchler gesehen, wie sie in den Evangelien genannt werden. Mit ihrer vermeintlich kleinlichen jüdischen Gesetzeslehre gelten sie als Kontrastfolie zur Menschlichkeit Jesu. Nicht jeder, der so unkritisch von den Pharisäern in den Evangelien spricht, denkt dabei judenfeindlich, schon gar nicht, wenn jemand zum Beispiel im Café einen „Pharisäer“ bestellt, also einen Kaffee mit Sahnehaube, unter die reichlich Alkohol gemischt ist. Aber das Klischee von dem jüdischen Pharisäer ist ein kleiner Mosaikstein in einem Bild vom Judentum, das bis heute antisemitische Klischees bedient.

Jesus war Jude und lehrte die Bibel jüdischer Menschen

Jesus selbst war Jude, nach den Evangelien ein Lehrer und jüdischer Schriftgelehrter. Die Bibel jüdischer Menschen war auch Jesu Heilige Schrift. Deshalb muss es ein ureigenes christliches Anliegen sein, gegen Antisemitismus einzustehen und die christlichen Wurzeln antisemitischer Kulturlosigkeit aufzudecken.

Mich einsetzen, dass jüdische Gemeinden friedlich in Deutschland leben können

Heute Abend beginnt der Schabbat. Jüdinnen und Juden werden auch in Deutschland in ihre Synagogen gehen, um ihren Feiertag zu begrüßen. Sie preisen dort den gleichen Gott, den auch ich als Christ verehre. Ich will tun, was ich kann, dass sie dies auch in Zukunft in Frieden und ohne Feindseligkeiten tun können.

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