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Karfreitag - das große Warum
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Karfreitag - das große Warum

Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt
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Sprecherin der Zitate: Karmen Mikovic
Musikauswahl: Kantor Uwe Krause

Heute ist Karfreitag. Ein Tag mit Themen, die schwer wiegen. Ein stiller Tag. Damit schafft er Raum, nachdenklich zu werden – auch über dunkle Seiten des Lebens. Das ist nicht leicht. Aber es tut gut, auch dorthin zu schauen. Denn es gehört zum Leben dazu. Viele erleben das tagtäglich.

Der Tod am Kreuz ist qualvoll

Der Karfreitag erinnert daran, dass Jesus von Nazareth an einem Kreuz gestorben ist. Das geschah auf dem Hügel Golgatha in Jerusalem. Der Tod am Kreuz ist ein grauenhafter Tod. Auf diese Weise hat die römische Besatzungsmacht Verbrecher und Aufständische hingerichtet. Die Hinrichtung am Kreuz galt damals als die schändlichste Todesart. Wer am Kreuz hängt, stirbt langsam – oft unter dem Spott vieler, die sich das ansehen. Das Leben geht qualvoll zu Ende.

Jesus mischte sich ein, wo es ungerecht zuging

Viele Menschen hatten große Hoffnungen in Jesus von Nazareth gesetzt. Sie spürten seine Nähe zu Gott und seine Liebe zu den Menschen. Er redete eindringlich von Gott, seine Worte berührten und gaben Kraft. Manche Menschen wurden gesund durch ihn. Er mischte sich ein, wo es ungerecht zuging.

Für die politischen und religiösen Autoritäten war das zu viel. Sie verdächtigten ihn, Macht und Einfluss zu wollen. Sie klagten ihn an, folterten ihn, verurteilten ihn und schlugen ihn ans Kreuz. Als er da hängt und langsam stirbt, hört er, wie Menschen ihn verspotten: „Du wolltest doch den Tempel abreißen und in nur drei Tagen wieder aufbauen. Wenn du wirklich der Sohn Gottes bist, dann rette dich selbst und steig vom Kreuz herab!“ (Matthäus 27,40)

Jesus hat keine Kraft mehr, darauf zu antworten. Er verdurstet und erstickt. Und er betet. Kurz vor seinem Tod ein letzter Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2)

Musik: Heinrich von Isaak, Innsbruck ich muss die lassen (Berliner Saxophonquartett)

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Warum? Das ist die Frage, die sich angesichts des Todes häufig stellt. Warum tun Menschen anderen Menschen so entsetzliche Gewalt an? Diese Frage bewegt viele heute. Und damals auf der Hinrichtungsstätte Golgatha, als Jesus gekreuzigt wird und mit ihm zwei Verbrecher. Gewalt, die Menschen quält, erniedrigt, jede Würde raubt und tötet.

Warum? - Diese Frage wird nach jedem schrecklichen Ereigniss gestellt

Warum? Diese Frage ist auch verbunden mit den entsetzlichen Massakern der Hamas in Israel und anderer Terrororganisationen. Warum? Diese Frage ist da, wenn ein Land ein anderes überfällt, wie Russland dies mit dem Angriff auf die Ukraine getan hat und immer noch tut.

Warum? So fragen Menschen, die Gewalt durch andere erlitten haben – auch sexualisierte Gewalt. Für viele bleibt es eine Frage, die sie ihr Leben lang quält. Warum? Die Frage kommt immer wieder hoch, wenn Menschen Unfälle und Katastrophen erleben. Und oft auch, wenn geliebte Menschen sterben - zu früh, zu plötzlich, zu leidvoll.

"Warum, Gott, lässt du es zu, dass dies geschieht?"

Manchmal gibt es Antworten. Da lässt sich erklären, warum dieses oder jenes geschehen ist, zum Beispiel, wenn ein Mensch sehr krank war. Aber auch da geht die eigentliche Warum-Frage immer tiefer. Sie liegt hinter allen Erklärungen. Warum, Gott, lässt du es zu, dass dies geschieht? Warum, Gott, müssen unschuldige Kinder sterben? Warum, Gott, stoppst du nicht die Gewalt, die Menschen einander antun? Wo warst du, überall, wo Menschen ermordet wurden? Das alles schwingt mit, wenn Jesus am Kreuz sterbend, schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Gibt es darauf eine Antwort? Das möchte ich heute gerne wissen.

Musik: Claudio Monteverdi (arr. A. Wolf und H. Siegmeth für Tenorsaxophon und Laute), Lamento d'Arianna, Lasciate di morire (Hugo Siegmeth, Axel Wolf)

Manchmal erkennen Menschen im Rückblick einen Sinn im Schweren

Warum, mein Gott? Das ist die Frage hinter allen Fragen, wenn Menschen leiden und sterben. Und es ist die Frage, die ganz oft unbeantwortet bleibt. Manchmal erkennen Menschen im Rückblick: Auch Schweres lässt für sie einen Sinn erkennen und hat etwas Gutes gehabt. Aber das ist dann eine ganz persönliche Einschätzung.

Mir ging es so nach einer schweren Erkrankung, die mich in Lebensgefahr gebracht hat. Ärzte haben mir helfen können. Danach war das Leben anders. Ich habe manches verändert und das hat mir gutgetan. Da hatte etwas Sinn, was ich zunächst überhaupt nicht verstehen konnte. Aber das ist nichts, was immer und für alle gilt.

Hier tun Menschen Gott Gewalt an

Gerade das, was Menschen einander antun, ist so grausam, dass es keinen Sinn haben kann. Da ist es auch völlig unangemessen zu sagen, Gott habe diesem oder jenem Geschehen einen Sinn gegeben. Mit Blick auf den Tod von Jesus Christus ist es auch falsch zu sagen: Gott fordert oder Gott will den Tod seines Sohnes am Kreuz. Hier vollstrecken Menschen nicht den Willen Gottes. Im Gegenteil: Hier tun Menschen Gott Gewalt an.

Jesu Tod als Sühne für die Schuld anderer Menschen?

Manche in der Theologie haben überlegt, ob Jesus mit seinem Tod bei Gott die Vergebung von Sünden erwirkt hat: Jesu Tod also als Sühne für die Schuld anderer Menschen. Das ist eine schwierige Deutung – jedenfalls dann, wenn sie so verstanden wird, dass damit allen, die anderen Gewalt antun, einfach ihre Untaten vergeben werden.

Da denke ich sofort an Menschen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben. Vielen, mit denen ich gesprochen habe, ist diese Rede von der Vergebung zu billig. Sie fragen: Wo bleibt dabei mein Elend, wenn Gott so einfach vergeben würde? Sie, aber auch andere, die am eigenen Leib Gewalt erfahren haben, machen deutlich: Ihr Leid ist dafür zu groß.

Es bleibt nichts anderes, als mit dem großen Warum zu leben und zu sterben

Wenn Vergebung unter Menschen möglich ist, dann ist das meistens ein langer Weg. Da geht es nicht mit einer Entschuldigung, die schnell gesagt wird, aber eine leere Formel bleibt. Für Menschen, die Gewalt erfahren haben, ist die Frage nach dem Warum dafür viel zu schwerwiegend. Es ist unbedingt nötig und wichtig, Verbrechen aufzuklären und Täter zu bestrafen. Und doch ist es oft in der Tiefe so, dass ein Warum bleibt und damit zu leben und zu sterben. Das tut auch Jesus. Das erkenne ich, wenn ich auf das Kreuz von Golgatha schaue. Das gibt mir Kraft – in meinen persönlichen Warum-Fragen und in den Warum-Fragen dieser Welt. Dafür gibt es einen guten Grund.

Musik: Peter Togni, Meditation (Peter Togni, Christoph Both)

Jesus lebt und stirbt mit der großen Frage nach dem Warum. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, so betet Jesus am Kreuz. Diejenigen, die diese Worte damals hörten, erkannten diese Frage. Sie hatten sie schon oft gehört.  Denn Jesus zitierte ein bekanntes Gebet, den Anfang von Psalm 22. So fängt das Gebet an:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. (Psalm 22, 2-3)

Der Psalm 22 war zu Zeiten Jesu vielen Menschen bekannt

Das Gebet geht weiter, und die, die den Anfang hörten, wussten auch, dass es weitergeht. Ihnen war klar: Jesus hebt nicht nur diesen einen Vers hervor. Jesus meint das ganze Gebet. Gerade die Worte dieses Gebetes waren vielen frommen Menschen sehr vertraut. Sie kannten sie auswendig. Das ist heute vielleicht nur mit dem Vaterunser zu vergleichen. Wird eine Zeile daraus gesprochen, ist vielen das ganze Gebet gegenwärtig.

So war es auch auf Golgatha. Jesus schreit am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und viele, die es hören, wissen, welche Worte er betet, woran er sich also in seinem Todeskampf klammert. Dabei haben sie auch im Ohr, wie der Psalm weitergeht:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!
Rühmet den HERRN, die ihr ihn fürchtet; ehrt ihn, all ihr Nachkommen Jakobs, und scheut euch vor ihm, all ihr Nachkommen Israels! Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er’s.

Im Todeskampf sucht Jesus Trost in einem alten Gebet

An diese Worte klammert sich Jesus am Kreuz, in seinem Todeskampf. Worte, die nicht von ihm selbst sind. Es sind Worte eines alten Gebetes. Er hat sie gelernt und vermutlich schon oft gebetet. Jetzt sind sie Worte für das, was er gerade erlebt. Er fühlt nicht, dass Gott ihm jetzt nahe ist. Er fühlt sich nicht geborgen, gehalten, geschützt. Einfach nur furchtbar ist, was er gerade erlebt. Die Schmerzen werden immer größer und die Angst umklammert ihn. Und da ist keine himmlische Stimme, die ihm eine Antwort gibt.

Jesus klagt vor Gott

Andere Stimmen hört er – die Stimmen der Menschen, die ihn verspotten und lästern. Die Witze machen über ihn, die ihn für großspurig halten., weil er gesagt hat, dass er den Tempel wieder in drei Tagen aufbauen will. Für all das findet er Worte in dem alten Gebet. Seine Kraft reicht noch für den ersten Satz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Alle weiteren Sätze klingen mit. So klagt Jesus vor Gott, wie jämmerlich es ihm geht, wie es der Psalm ausdrückt: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch.“

Und du Gott, wo bist du eigentlich? Hoch droben über den Lobgesängen Israels. Wo, Gott, wo bist du? Die Worte sagen auch: So wie mir ging es schon anderen. Und die hofften auf dich. Und du hast ihnen geholfen. Es ist die große Bitte: Hilf mir doch auch! Hilf mir in meiner Not! Hilf mir in meinem Sterben!

Jesus hofft darauf, dass Gott ihn nicht dem Tod überlässt

Jesus schreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Damit wendet er sich nicht ab von Gott. Im Gegenteil: Er klammert sich an Gott, er zieht den fernen Gott an sich heran, er zieht ihn herunter vom himmlischen Thron. Weil er weiter darauf vertraut, dass Gott da ist, dass Gott ihn hört und nicht dem Tod überlässt.

"I am sailing" - Ein Lied vom Frei sein

Ich muss dabei an eine Frau denken, die in jungen Jahren schwer an Krebs erkrankt war. Sie wusste, dass sie sterben würde und war oft sehr verzweifelt. Sie hat oft gefragt „Warum? Warum ich?“. Und dann hat sie immer wieder ein Lied gehört. Es war das Lied „I am sailing“. Mich hat das sehr berührt, denn das Lied singt vom Segeln, vom Segeln nach Hause über das Meer und davon frei zu sein und Gott nahe. Ihr lag sehr daran, dass dieses Lied bei ihrer Beerdigung gespielt wird. Das war dann auch so.

Musik: Rod Stewart, I´m sailing

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Worte betet Jesus in höchster Todesangst und tiefster Todesnot. Er ist Opfer sinnloser menschlicher Gewalt. Wie so viele bis heute Opfer von sinnloser Gewalt werden.

Es gibt keine Antwort auf das letzte Warum - aber Hoffnung

Es gibt keine Antwort auf das letzte Warum. Das spürt Jesus und er erlebt es. Von Gott erbittet Jesus Hilfe. Daran hält er fest und daran klammert er sich: „Gott lässt mich nicht in meiner Not und Gott überlässt mich nicht dem Tod!“ Das beantwortet wirklich nicht alle Fragen. Aber es überspannt alle Fragen mit der großen Hoffnung, dass Gottes Liebe stärker ist als der Tod.

Diese Hoffnung brauche ich in den vielen Warum-Fragen dieser Welt, damit sie mich nicht erdrücken und in Verzweiflung stürzen. Ich brauche auch in Zeiten der Gottesferne Vertrauen auf Gottes Hilfe – so wie Jesus am Kreuz auf Golgatha.

Der Psalm 22 endet mit dem Lob Gottes

Jesus fragt mit dem Psalm nach dem Warum und Wozu seines Todes. Eine Antwort erhält er darauf nicht. Aber in seiner Frage klingt bereits ganz leise eine künftige Antwort an. Denn der Psalm mit der großen Warum-Frage am Anfang endet mit dem Lob Gottes. Da heißt es:

Gott hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er’s.“ Psalm 22,25

Gott gibt seine Antwort drei  Tage später

So geschah es mit Jesus. Heute wissen wir: Gott wird seine Antwort drei Tage später geben. Denn Jesus bleibt nicht von Gott verlassen. Kein Mensch bleibt von Gott verlassen. Gott holt seinen Sohn Jesus Christus durch den Tod hindurch zu sich. Darin scheint doch ein Sinn für den Tod Jesu auf – und ein Hoffnungsschimmer für die Welt.

Das Kreuz wird zum Zeichen der Hoffnung

So hat Jesus das Kreuz zu einem Zeichen gemacht – zu einem Zeichen der Hoffnung in tiefster Verzweiflung und Not. Das Kreuz gibt keine Antwort auf die Frage nach dem großen Warum. Aber es hilft, mit dieser Frage zu leben und sich mit dieser Frage Gott anzuvertrauen – im Leben und im Sterben.

Musik: Kay Johannsen, Christus der uns selig macht

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