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Aufbrechen - mit wachem Blick und klarem Verstand
Bild: medio.tv / Schauderna

Aufbrechen - mit wachem Blick und klarem Verstand

Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh
Ein Beitrag von Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Sie ist Jahrgang 1960 und lebt in Frankfurt. In politischen Fragen ist sie informiert, aber eher zurückhaltend. Vor sechs Wochen war sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration: „Das musste jetzt sein“, hat sie mir gesagt. „Jetzt musste ich zeigen, wofür ich stehe.“

Auswirkungen der Krisen der letzten Jahre

Die Krisen der letzten Jahre haben sie und viele andere gelähmt. Erst Corona, dann der Krieg in der Ukraine, die brutalen Morde durch die Hamas und der daraus resultierende Krieg Israels in Gaza – und dahinter wie ein Schatten der unaufhaltsam weiterwächst: der Klimawandel. All das schlug sich auch im beruflichen und persönlichen Leben nieder: Wie soll es weitergehen? Nur der Populismus schien einfache Antworten zu haben und verkündete laut: Schluss mit der Demokratie!

Aufbrechen mit Hoffnung

„Brecht auf: Mit wachem Blick und klarem Verstand!“ Als hätten ganz viele diesen Ruf aus dem 1. Petrusbrief gehört, haben sie sich aufgemacht und gezeigt: Es geht auch anders. Wir haben Hoffnung. Wir vertrauen darauf, dass es eine gemeinsame, friedliche und gerechte Zukunft für alle Menschen gibt.

Musik: Manfred Siebald/Richard Souther: Geh unter der Gnade (Fassung für Klavier)

Wir hoffen auf eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen. Aber in Krisenzeiten wachsen die Zweifel.

Die Krisenzeit der Christ*innen 100 Jahre nach Ostern

Das erlebten auch die Christenmenschen 100 Jahre nach Ostern. Der Wind blies ihnen hart ins Gesicht. Jesus hatte seine Freundinnen und Freunde in Bewegung gebracht: „Kommt und schaut, wie Gott die Welt sieht und liebt! Brecht auf, richtet euer Leben an Gottes Liebe aus und tragt die Hoffnung in die Welt!“

Am Anfang entstanden viele lebendige Gemeinden

Mit Schwung hatte sich die Kirche nach Ostern ausgebreitet. An vielen Orten entstanden lebendige Gemeinden, die mutig lebten, worauf sie hofften. Bei ihnen galt: Ob Mann, ob Frau, ob klug oder erfolgreich, ob krank oder eingeschränkt – jede Person ist ein von Gott geliebter Mensch. Wer im Alltag Sklavenarbeit verrichten musste und kaum genug zum Leben hatte, hier saß er oder sie mit am Tisch wie alle anderen, aß und trank, sprach, lachte und weinte mit den anderen. Hier galt: jeder und jede ist wichtig für unsere Gemeinschaft.

Was die Christenmenschen auszeichnete

Die Christenmenschen sorgten füreinander, aber auch für andere. Deshalb gingen sie wie Jesus dahin, wo wir normalerweise nicht hingehen: ins Gefängnis, zu den Kranken, zu denen, die keine Arbeit hatten. Sie schauten nicht angestrengt weg, wenn ein Mensch bettelte. Sie hießen Fremde willkommen. Männer weigerten sich Soldaten zu werden.

Das Leben der ersten Kirche strahlte aus; es war für viele attraktiv. Deshalb wuchsen die Gemeinden.

Was die Mächtigen damals dran störte

Das ärgerte die Mächtigen. Sie spürten, wie ihre Macht und die herrschende Ordnung in Frage gestellt wurden. Deshalb bekämpften sie Gemeinden. Versammlungen wurden verboten. Wer seinen Glauben offen lebte, riskierte etwas.

Manche bekamen Angst und zogen sich aus den Gemeinden zurück. Viele wollten sich weiter treffen, aber nur noch hinter verschlossenen Türen, damit sie nicht auffallen.

Andere machten den Gemeinden Mut

Andere widersprachen. Sie versuchten, den Gemeinden Mut zu machen: „Haltet an der Hoffnung auf Christus fest! Lebt euren Glauben selbstbewusst!“ Sie schrieben dazu Briefe an die bedrohten und ängstlichen Gemeinden, so wie den Folgenden. Er stammt von einem, der sich Petrus nannte, nach dem berühmten Freund von Jesus:

Nach 1. Petrus 1,13-17

Brecht auf: Mit wachem Blick und klarem Verstand! Setzt eure Hoffnung auf Gott; in Jesus Christus habt ihr erfahren, wie gut Gott es mit sich euch meint.

Lasst euch in eurem Lebenswandel nicht von dem beherrschen, was gängig ist – so wie früher, als ihr Gott noch nicht kanntet. Vielmehr: Seid in eurer ganzen Lebensführung heilig – so wie Christus heilig ist, der euch berufen hat. So wie es in der Heiligen Schrift heißt: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« Führt ein Leben in Ehrfurcht vor Gott, auch jetzt, solange ihr noch nicht bei Gott, sondern hier in der Fremde seid.

Deshalb: Richtet euren Glauben und eure Hoffnung auf Gott!

Musik: Thomas Laubach/Christoph Lehmann: Da berühren sich Himmel und Erde, Strophen 1 und 3 (Fassung für Chor)

Sorgen heute um die Zukunft

Brecht auf: Mit wachem Blick und klarem Verstand! Setzt eure Hoffnung auf Gott; in Jesus Christus habt ihr erfahren, wie gut Gott es mit euch meint.

Christenmenschen schauen nüchtern und realistisch, wie die Lage ist. Das ist gut, aber auch gefährlich. Denn manchmal scheint die Lage so aussichtslos, dass wir mutlos werden und matt: „Wer soll diesen Putin stoppen? Und was wird geschehen, wenn Trump gewählt wird?“ Dann schauen wir lieber weg, dass Menschen im Krieg sterben oder auf der Flucht ertrinken. „Man kann ja eh nichts machen!“ Dann macht die Sorge um die eigene Zukunft und die Angst vor Gewalt starr und stumm und manchmal auch zynisch.

Endlich demonstrieren Menschen gegen Fremdenhass

In den letzten Wochen ist ein Knoten geplatzt. Viele Menschen gingen auf die Straße und machten deutlich: Wir überlassen unser gemeinsames Leben und unsere Zukunft nicht den einfachen Antworten! Wir stehen ein für eine demokratische und vielfältige Gesellschaft, in der Fremde ohne Angst sicher leben können!? Sie demonstrierten, weil sie erschrocken waren über den Hass gegenüber Fremden:

Bange Fragen 

Wird jetzt mein Ehemann, weil er ursprünglich aus der Türkei stammt, zu einem Fremden erklärt, der das Land verlassen muss? Oder die Kollegin aus Ghana, die im Büro gefragt hat: „Bin ich hier noch sicher?“ Die Familie von nebenan, die aus dem Iran stammt, deren Kinder nicht mehr in die Schule wollten.

Wer demonstriert, zeigt: Wir stehen ein für die Menschen, die zu uns gehören, ob sie bei uns Zuflucht gefunden haben oder zum Arbeiten oder Leben hierhergekommen sind.

Endlich bewegt sich was

Manch einer wurde auch von Nachbarinnen oder Nachbarn, die bisher auch noch nie demonstrieren waren, gefragt: „Kommt ihr vielleicht auch mit!“ Auf einmal bewegte sich etwas; viele entdeckten: „Wir können ja doch etwas machen!“ Selbst in kleinen Städten wuchs der Mut, in denen in den letzten Jahren wenige sehr laut waren und deshalb viele dachten: „Soll ich mich trauen, was werden die anderen sagen?“

Musik: Fredo Jung: O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens

Die Hassparolen der Nationalsozialisten

Die Freundin, die in diesen Wochen auch zum ersten Mal auf einer Demo war, stammt aus einer jüdischen Familie; die Großeltern väterlicherseits lebten ursprünglich in Berlin. Sie waren alteingesessen, assimiliert, wie man das nannte.

Doch dann kamen die Nazis und fanden bei der Mehrheit der Deutschen mit ihren Hassparolen Gehör. Endlich schienen da welche zu wissen: Wer ist schuld an der Krise? Und wo soll es lang gehen?

Einfache Lösungen sind in Krisenzeiten attraktiv

Sie hatten einfache Lösungen: schwarz oder weiß, die Guten gegen die Bösen.

Sie kannten eine Menschengruppe, der man die Schuld an allem geben kann: damals waren es die jüdischen Mitmenschen, heute sind es die „Fremden“, die bei uns Zuflucht suchen oder auch vor langer Zeit hierhergekommen sind, um zu lernen oder zu arbeiten, um eine Familie zu gründen. Solche einfachen Lösungen sind in Krisen attraktiv und ansteckend, weil sie so tun, als könnten wir schwierige Probleme schnell und einfach lösen. Das erleben wir heute wieder.

Das Schicksal der jüdischen Familie einer Freundin

1938 wurde der Großvater meiner Freundin verhaftet, kam aber wieder frei. Ein Jhahr später versuchte die Familie nach Kuba zu fliehen. Aber die etwa 1000 Flüchtlinge durften das Schiff dort nicht verlassen und auch nicht weiter nach Amerika; sie mussten zurück nach Europa. In den Wirren des Krieges versuchte die Familie, sich in Belgien und Frankreich vor den Nazis zu verbergen. Aber 1944 wurden der Großvater und die Tante meiner Freundin entdeckt und gefangen genommen und später in einem Vernichtungslager ermordet. Der Vater meiner Freundin und ihre Großmutter konnten sich in Italien verstecken und überlebten dort den Holocaust.

Ein wichtiger Grund zur Teilnahme an Demos gegen Rechts

Ich glaube: Für meine Freundin war die Erinnerung und das Gedenken ein wichtiger Grund, mit auf die Demo zu gehen: „Erinnert euch, gedenkt, wohin uns der Hass schon einmal geführt hat. Lernt aus der Geschichte!“


Musik: Trad. Jiddisch: Shabes, Shabes soll seyn 

Der Verfasser des 1. Petrusbrief und seine Hoffnung

Für den, der hier unter dem Pseudonym „Petrus“ scheibt, hat seine Hoffnung ihren Grund in Gott. Er erinnert die Menschen in den Gemeinden mitten in ihrer Angst und ihrem Leiden an Ostern: Christus wurde auferweckt; der Tod hat seine Macht verloren. Die Gewalt, die Menschen anwenden, wird nicht das letzte Wort behalten!

Glaube kann in Krisenzeiten Kraft geben

Ostern ist keine Zauberformel, mit der sich wie mit einem Schnipsen alles ändert. Die Menschen bleiben bedroht; ihre Sorgen sind nicht verschwunden. Aber der Glaube gibt ihnen in den Schrecken dieser Tage Kraft. Er ist wie ein Samenkorn, das in diesen Tagen aus der Erde bricht, wie die Narzissen und Tulpen, die sich nicht aufhalten lassen.

Gottvertrauen hat das letzte Wort

Er gibt die Hoffnung, die der Ärztin Kraft gibt, die in der Ukraine immer wieder an die Front fährt, um Verletzten beizustehen. Er macht Mut, nach Spielräumen der Versöhnung zu suchen, selbst wenn die Situation verfahren und aussichtslos erscheint.

Tod, Macht und Gewalt haben nicht das letzte Wort, sondern das Vertrauen, dass Gott es gut mit uns meint.

Balanceakt zwischen Himmel und Erde

Wir leben als Christenmenschen und Gemeinden in einem Balanceakt zwischen Himmel und Erde. Wir sind den vielen Bedrohungen nicht entnommen; aber wir sind in den Schrecken auch nicht gefangen, sondern frei unsere Welt im Vertrauen auf Gott verantwortlich zu gestalten.

Warum der Briefschreiber sich Petrus nennt

Vielleicht hat der Briefschreiber deshalb für sich den Namen „Petrus“ als Pseudonym ausgesucht. Wer sich Petrus nennt, weiß, wie schwierig es ist, sich in dieser Welt schon nach den Regeln zu richten, die in Gottes Welt gelten. Als er nach der Verhaftung von Jesus im Hof in Jerusalem gefragt wurde: „Gehörst Du nicht auch zu dem Jesus, der gerade verurteilt wird?“, da streitet er ab, Jesus zu kennen. Der selbstbewusste Freund, der immer der erste in der Gruppe sein wollte, der treu und fest sein wollte wie ein Fels, er vergeht vor Angst und verleugnet Jesus.

Wo warst Du, ihr, als…? 

Petrus will heilig leben, besser und gerechter als die anderen, aber dann verlässt ihn der Mut. Das geht nicht nur ihm so. Wo waren die evangelischen Gemeinden damals im sogenannten Dritten Reich, als Menschen wie der Vater und andere Verwandte meiner Freundin fliehen mussten, weil sie aussortiert werden sollten, nicht mehr dazu gehören sollten? Wo war der Schwung des Anfangs, der Glaube, die Liebe und die Hoffnung, mit denen sie die Welt im Geist Christi verändern wollten? Und wo wäre ich gewesen?


Musik: Manfred Siebald/Richard Souther: Gib mir die richtigen Worte (Fassung für Klavier)

Aufbruch - mit wachem Blick, klaren Verstand und manchmal auch Humor

Viele sind aufgebrochen in den vergangenen Wochen. Mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen, mit einem nüchternen Blick auf die Welt, mit klarem Verstand – und auch mit Humor. „Das hat mir gut gefallen“, erzählte mir ein Freund, „dass die Menschen so verschieden waren. Viele Sprüche auf den Plakaten waren witzig und ironisch: ‚Die Ratten in Hameln dachten damals auch, sie machen nur einen Spaziergang!‘ Oder wie die Omas gegen rechts schrieben: ‚Herz statt Hetze!‘“

Im Umgang miteinander Freiheit spüren

Es ist wichtig, dass schon auf der Demonstration die Vielfalt und Buntheit wirklich zu spüren ist, für die die Menschen eintreten. Dass sich im Umgang miteinander schon die Freiheit zeigt, für die wir demonstrieren. „Ich fand einige Parolen schräg“, sagt der Freund. „Aber dann sah ich, dass es viele gab, die sie auch nicht mitriefen. Da habe ich die Freiheit gespürt; für die ich auf die Straße gehe.“

Jede und jeder ist gefragt

Wer für die Demokratie demonstriert, verschwindet nicht in einer brüllenden Horde. Jede einzelne Person ist gefragt, so wie jedes einzelne Glied im Leib Christi wichtig ist und der ganze Leib nur aus der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Personen mit ihren Überlegungen und Überzeugungen lebt.

Wozu Petrus Mut macht

Der, der hier als Petrus schreibt, macht seinen Gemeinden und uns heute Mut, den Glauben an Gottes Menschenfreundlichkeit und die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, Freiheit und einen Erhalt unserer Mitwelt selbstbewusst zu leben. Hinauszugehen und anderen davon zu erzählen, öffentlich dafür einzutreten.

Nicht nur für die Menschen, die damals den Brief erhielten, war das auch eine Zumutung. Wenn es schwierig wird, wollen viele auch heute die Türen lieber zu machen. „Lasst uns unter uns bleiben; das ist sicherer.“

Zeiten und Orte zum Atemholen und Kraft schöpfen 

Auch das ist eine Spannung, die zu unserem Glauben gehört: Der Glaube will ausstrahlen und der Welt einen neuen Schein geben. Aber wir brauchen auch Zeiten und Orte zum Atemholen und Kraft schöpfen, um uns zu vergewissern, worauf wir vertrauen: die Gemeinschaft im Singen und Beten, im Hören auf Gottes Wort, im Miteinander reden.

Eine besondere Kraftquelle

Eine besondere Kraftquelle ist das Abendmahl. Gott hat den Tisch gedeckt und alle sind eingeladen: die von Osten und von Westen, von Süden und von Norden; die Nahen und die Fernen. Wir feiern, dass das Leben stärker ist als der Tod. Wir erleben Gemeinschaft mit denen, die wir gerne dabeihaben; aber am Tisch mit Christus ist auch Platz für die, die uns unangenehm sind und mit denen wir am liebsten nichts zu tun haben wollen. An diesem Tisch spüren wir, wie es sein könnte: ein Leben, in dem wir um unsere Unterschiede und Konflikte wissen – und doch steht der Weg in eine gemeinsame Zukunft offen.

Wichtiger Wechsel: Kraft schöpfen und Verantwortung übernehmen

Wir brauchen diesen Wechsel: Kraft schöpfen und sich gemeinsam im Glauben vergewissern und dann rausgehen, um Verantwortung für die Welt zu übernehmen und anderen von der Hoffnung zu erzählen, die uns ist.

Brecht auf: Mit wachem Blick und klarem Verstand! Setzt eure Hoffnung auf Gott; in Jesus Christus habt ihr erfahren, wie gut Gott es mit euch meint.

Musik: Manfred Siebald: Geh unter der Gnade (Fassung für Chor)

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