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Wie geht das: Richtig leben im falschen
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Wie geht das: Richtig leben im falschen

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen
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Es ist eine einfache Frage: „Wie geht es dir?“ Sie wird häufig gestellt. Eine ehrliche Antwort fällt mir jedoch schwer.

"Es geht mir sehr gut"

Ich könnte sagen: „Mir geht es sehr gut!“ Das wäre nicht falsch, denn ich habe derzeit das große Glück, gesund zu sein, ein schönes soziales Umfeld zu haben und genug Geld zum Leben. Das haben beileibe nicht alle, das ist mir bewusst. Ich habe also allen Grund zu sagen: „Es geht mir sehr gut.“

"Die Lage in der Welt steht in einem bizarren Widerspruch zu meiner persönlichen Situation"

Doch daran würde etwas nicht stimmen. Ich sehe und empfinde den Zustand der Welt um mich herum. Um vieles mache ich mir Sorgen. Nur ein Beispiel: Wir müssten dringend eine Weltgemeinschaft bilden, die ihre Ressourcen bündelt um den Klimawandel abzufedern. Stattdessen fließt wieder viel mehr Geld in Waffen, für Aufrüstung gegeneinander. Es ist zum Verzweifeln!

Die Lage in der Welt steht in einem bizarren Widerspruch zu meiner persönlichen Situation. Manchmal spreche ich das aus, wenn jemand fragt. Viele antworten dann: „Das geht mir auch so.“ Wie kann man damit gut umgehen?

Die Welt um sich herum einfach ausblenden?

Manche blenden das Drumherum einfach aus. Sie lesen und schauen keine Nachrichten. So versuchen sie ihr eigenes Wohlbefinden zu schützen.

Das familiäre Idyll direkt neben dem Konzentrationslager Auschwitz

Diese Haltung treibt ein aktueller Kino-Film auf die äußerste Spitze. Vor einer Woche gab es dafür in Los Angeles den Oscar für den besten internationalen Film. Sein Titel: „The Zone of Interest“. Der Film beschreibt das idyllische Familienleben der Familie Höß. Der Vater ist der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. Sein familiäres Idyll findet direkt neben dem Vernichtungslager statt, einfach nur auf der anderen Seite der Mauer.

Die Schreie, die Schüsse und die Gerüche, die vom Lager über die Mauer wehen, nimmt seine Frau nicht wahr. Sie will nicht wissen, woher der Nerzmantel kommt, den sie sich aus der KZ-Beute an sich nimmt. Auch nicht, woher die Asche kommt, mit der sie ihren Garten düngt. In dieser extremen Zuspitzung kommt einem das vollkommen absurd vor.

Was geschieht jenseits meiner Mauer?

Was in Auschwitz passiert ist, ist mit nichts zu vergleichen. Doch hat mich der Film angeregt zu überlegen: Was geschieht jenseits meiner Mauer? Was davon blende ich aus? Wie gesagt: Unvergleichbar mit Auschwitz. Aber dennoch viel Elend. Die Menschen, die meine Kleider nähen, werden in 8000 Kilometern ausgebeutet. Die Kriegsgebiete sind 2000 Kilometer entfernt. Die Verzweifelten auf Wohnungssuche sind einige Straßenzüge entfernt.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Aber natürlich weiß ich von alledem. Ich kann das nicht ändern – aber auch nicht vergessen: innere Zerrissenheit. Für sie hat der Frankfurter Philosoph Theodor Adorno diesen Satz geprägt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Minima Moralia, 18). Dieses geflügelte Wort notierte Adorno 1944. Er beschrieb damit nicht nur den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, sondern generell das „beschädigte Leben“, wie er es nannte. Der Satz ist aktuell und drückt auch mein Empfinden aus: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Wie gut kann es einem dennoch gehen? An der Frage bleibe ich dran.

Musik: „It´s a sin“ (Pet Shop Boys)

"It's a sin"

Ein schöner Song der Pet Shop Boys. Fast könnte man überhören, um was es darin geht. Der Titel, zugleich der Refrain, verrät es: „It´s a Sin“, es ist eine Sünde. Im Text heißt es: „Alles, was ich je getan habe, jeder Ort, an dem ich jemals war, überall, wo ich hingehen werde: Es ist eine Sünde.“

Die Sünde im ursprünglichen Sinn ist keine moralische Verfehlung

Der Song beschreibt auf seine Weise, was hinter Adornos Satz steht: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dafür verwenden die Pet Shop Boys allerdings den christlichen Begriff: Sünde. Dabei geht es ursprünglich nicht um Verkehrssünder oder um moralische Verfehlungen. Der christliche Begriff Sünde beschreibt den Zustand, den Adorno meint: verstrickt sein in eine Situation, die falsch ist und die es einem unmöglich macht, richtig zu leben. Man könnte auch sagen: Es könnte einem sehr gut gehen, aber es geht nicht.

Auch Jesus war manchmal alles zuviel

Wie kann es doch gehen? Mir hilft, wie Jesus damit umgegangen ist. Auch er lebte in einer Zeit voller Turbulenzen, voller Zukunftsängste und auch voller Gewalt. Ihm selbst ging es gut. Aber natürlich stand er in tiefer Resonanz mit seiner Umwelt. Ihn haben also die Ängste erreicht, die viele haben. Die Wut, die in vielen brennt. Die Erschöpfung. Auch das Aufbäumen derer, die sich nicht abfinden wollen und für bessere Zeiten kämpfen. Mit dieser ganzen Wucht des Lebens ging es Jesus wie allen Menschen: Manchmal war ihm das zu viel. Dann hat er sich eine Auszeit genommen. Entweder hat er sich alleine zurückgezogen, hat geschwiegen, gefastet, meditiert, gebetet, sich seelisch und geistlich wieder ins Gleichgewicht gebracht.

Jesus konnte feiern und genießen

Oder Jesus hat gefeiert. Gut gegessen und gut getrunken in fröhlicher Runde. (Johannes 2 / Lukas 7,34). Er hat es auch genossen, als ihn eine Frau mit kosmetischem Öl die Füße salbte. Seine eigenen Anhänger haben das kritisiert: „Man hätte das Öl teuer verkaufen und damit Bedürftige unterstützen können.“ Doch dem hat Jesus widersprochen: „Arme habt ihr allezeit bei euch. Mich nur jetzt.“ (Matthäus 26,11ff) Er wusste also, dass man nie zum Ende kommt mit dem Mitgefühl und dem Retten der Welt. Das Öl hat ihm gutgetan und er hat sich das gegönnt.

Es gibt auch bessere Momente im falschen Leben

Es mag kein richtiges Leben im falschen geben. Doch es kann bessere Momente im falschen Leben geben. Die kann und darf man genießen. Es darf mir gut gehen, sogar sehr gut. Niemand hat etwas davon, wenn es mir nicht gut geht. Das klingt logisch und psychologisch richtig. Allerdings ist es nicht leicht umzusetzen. Das prägt auch den Song der Pet Shop Boys: „It´s a Sin“. Der Song legt jedoch eine Spur für meine Suche nach einem guten Leben im falschen.

Musik: „It´s a sin“ (Pet Shop Boys)

Kann Gott einen aus den schuldhaften Verstrickungen des Lebens befreien?

Der Text lautet übersetzt: „Vater, vergib mir. Ich habe versucht, es nicht zu tun. Habe ein neues Blatt aufgeschlagen. Dann riss ich es einfach durch.“ Die Pet Shop Boys sprechen also direkt Gott an. Kann Gott einen aus den schuldhaften Verstrickungen des Lebens befreien? Dazu habe ich etwas Hilfreiches in der Bibel gefunden. Im Psalm 43 klagt jemand Gott zunächst sein Leid, wie falsch und böse viele Leute sind. Dann fragt er: „Muss ich darüber wirklich so betrübt sein?“ „Nein“, denkt er sich: „Ich setze auf Gott. Gott hat schon oft geholfen. Auch mir. Das wird er wieder tun. Dafür werde ich ihm noch danken.“

Eine interessante Überlegung: Offenbar hat Gott noch nichts getan. Aber der Beter ist sicher: Gott wird etwas tun, weil er es versprochen hat. Darauf freut sich der Beter im Voraus. Er nimmt also bessere Zeiten schon mal vorweg und tut so, als wären sie bereits eingetreten. Das bedeutet: vorgezogene Freude für heute und Zuversicht für morgen.

Auch Adorno wollte die Hoffnung also ein wenig herbeileben

Ähnliches hat auch der Philosoph Theodor Adorno überlegt, allerdings ohne dabei Gott einzubeziehen. Denn seine Erkenntnis „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ist schwer zu ertragen. Sie lässt keinen Ausweg erkennen. Adorno wusste auch keinen. Um aber nicht ganz hilflos zu sein, schlug er doch etwas vor: Versuchen so zu leben, als lebte man schon in besseren Zeiten. Auch Adorno wollte die Hoffnung also ein wenig herbeileben.

Die Zukunft ist noch offen

Heute könnte das so gehen: Ich starre nicht nur auf die ungelösten Probleme, sondern nehme auch die Lösungsansätze wahr. Ich vernetze mich mit Menschen, die an Lösungen arbeiten. Ich erwarte nicht von mir, die Welt zu retten, sondern nur, die Rettung nicht zu erschweren. Ich mache mir immer wieder bewusst: Die Zukunft ist noch nicht besiegelt, sie ist offen. Oder sogar noch besser, wie es der Psalm sagt: Sie ist in Gottes Hand und damit in guten Händen.

In diesem Sinne versuche ich bessere Zeiten herbei zu leben und herbei zu glauben, mit allem Vertrauen in Gott, zu dem ich fähig bin. Das macht mein Leben nicht heil, aber hoffnungsvoll. Und damit fällt es mir etwas leichter zu empfinden, dass es mir gut geht. Manchmal sogar sehr gut.

Musik: „It´s a sin“ (Pet Shop Boys)

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