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Die Welt mit Kinderaugen sehen
Bild: Petra/Pixabay

Die Welt mit Kinderaugen sehen

Ayleen Nüchter
Ein Beitrag von Ayleen Nüchter, Katholische Gemeindereferentin im Pastoralverbund St. Benedikt Hünfelder Land
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Viele Menschen nutzen die Tage nach Weihnachten und vor dem Beginn des neuen Jahres, um Dinge zu erledigen, vieles davon haben manche das ganze Jahr über aufgeschoben oder einfach noch nicht hinbekommen. Die sogenannte Zeit „zwischen den Jahren“ habe ich dieses Mal mit dem Ausräumen von Umzugskartons verbracht. Diese sind bis oben hin gefüllt mit Sachen meines alten Kinderzimmers aus meinem Elternhaus. Obwohl sie da schon einige Zeit, inklusiver dicker Staubschicht, ordentlich verstaut in einem unserer Schwerlastregale stehen, habe ich mir einen Ruck gegeben und sie der Reihe nach geöffnet. Weil es im Keller kalt und dunkel ist, habe ich den ersten Karton die Treppen hochgetragen und ihn im Wohnzimmer abgestellt.

Ausmisten und in Erinnerungen schwelgen

Es dauerte keine zwei Minuten, da kam meine 1,5-jährige Tochter um die Ecke geflitzt. Ihre Augen und auch ihre wedelnden Hände machten mir unmittelbar deutlich, dass ich bitte so schnell wie möglich die große braune Pappkiste öffnen solle. Sobald die beiden Seitenflügel des Kartons geöffnet waren, begann ich zu schmunzeln. Schon beim kurzen Überfliegen des Inhaltes war mir klar: All das, was ich in diesen Karton fand, waren Dinge, die ich noch aus meiner Kindheit aufbewahrt habe und die mich jetzt an Weihnachten und Silvester vor etlichen Jahren erinnern. Wie passend, dachte ich. Neben handgeschriebenen Briefen von Verwandten zum Jahreswechsel von 2004 auf 2005 lag da auch eine kleine Schneekugel. Ich bin sicher, Sie kennen diese Art von Weihnachtssouvenir: Ein mit Wasser gefüllter Behälter aus Glas oder Kunststoff, in dem sich kleine Partikel befinden, die beim Schütteln aufwirbeln und sich dann wie Schnee langsam wieder setzen. Innen drin: kleine Figuren oder Miniatur-Landschaften, die beim Schütteln „eingeschneit“ werden. In meinem Fall sitzt in der Mitte der Kugel ein kleiner Engel. Ganz stolz überreiche ich die kleine durchsichtige Welt meiner Tochter und fordere sie auf, die Kugel zu schütteln. Mein Lächeln im Gesicht wird größer und größer, als ich in ihre funkelnden Augen blicke. Sie erkennt, dass die kleinen weißen Flöckchen durch ihr Hin- und Herschütteln wie wild umhertanzen. Sie schüttelt und schüttelt. Dann fängt sie vor Freude an zu lachen. Nach wenigen Sekunden hört sie auf die Schneekugel zu bewegen und beobachtet mit großer Neugier wie die Flocken langsam zu Boden fallen. Ein herrlicher Anblick. Den restlichen Tag gibt sie diese kleine Schneekugel aus meinen Kindertagen nicht mehr her. Und das, obwohl das kleine Erinnerungsstück weder blinkt noch Geräusche macht. Dennoch kommt mein Kind aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Begeisterung, die ansteckt

Diese Begeisterung, die Freude für das kleine Glück und vor allem die kindliche Faszination machen mir bewusst, dass ich als Erwachsene bereits nach kurzer Zeit das Interesse an so etwas verlieren würde. Ehrlicherweise sind das alles Eigenschaften, von denen ich mir für meinen Blick auf verschiedene Dinge innerhalb meines Lebens etwas abschauen könnte. Ich frage mich also insgeheim: Wie wäre es, wenn ich mir als Vorsatz für das neue Jahr vornehme, die Welt wieder öfter mit Kinderaugen zu sehen?

Musik

Als Christ werde ich durch den Blick in die Bibel auch immer wieder neu darauf aufmerksam, dass es sich lohnt, von Kindern zu lernen. Eine Bibelstelle, in der Jesus ganz eindrucksvoll über Kinder spricht, steht im Markusevangelium. Im 10. Kapitel bei Vers 13 -16 heißt es:

"Da brachte man Kinder zu ihm, damit er sie berühre. Die Jünger aber wiesen die Leute zurecht. Als Jesus das sah, wurde er unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.“ (Mk 10, 13-16)

Wenn ich mir diese Szene durch den Kopf gehen lasse, spüre ich, wie ich durch die Aussage von Jesus ins Grübeln komme. Ich kann gut nachempfinden, wie sich die Jünger fühlen, als sie das von ihrem Vorbild und Lehrer hören. Sie sind verwundert und fragen sich, was es mit der Aussage von Jesus auf sich hat. Wir Erwachsenen sollen uns was von Kindern abschauen? Mir geht es selbst oft so, dass ich kleine Kinder wegen ihrer Bedürftigkeit und ihres erst noch so kleinen Erfahrungsschatzes unterschätze. Doch jetzt aus dem Blickwinkel als Mama eines Kleinkindes, frage ich mich persönlich: Wann kann ich der Aufforderung Jesu gerecht werden? Wie gelingt es mir, von meiner Tochter zu lernen? Bin ich nicht viel zu ungeduldig, wenn sie zum Beispiel beim Spazieren gehen mit ihren kleinen Fingern auf die Gänseblümchen am Wegesrand zeigt? Wie nimmt sie das Reich Gottes an? Mir fällt auf, es gibt etliche Herangehensweisen meines Kindes, die mir bei meinem Vorsatz für das neue Jahr helfen können. Zum einen ist es das Staunen und die Wertschätzung gegenüber der Natur, den Blumen und dem Sonnenaufgang. All das passiert ohne mein Zutun. Sei es das Wasser, was bei Kälte gefriert, der Schnee, der in dicken Flocken vom Himmel fällt, oder die Sonne, die diesen wieder zum Schmelzen bringt. Bei längerem Hin- und Herüberlegen fallen mir einige staunenswerte Dinge ein, die mir und meinem Kind im Alltag begegnen, für die ich aber – im Gegensatz zu ihr kein Gespür mehr habe.

Warum ein Kleinkind Vorbild sein kann

Zum anderen ist es aber auch die Neugier, die Offenheit und die Unvoreingenommenheit gegenüber meinen Mitmenschen. Kindern ist es nicht wichtig, von welcher Marke eine Jacke ist oder ob die Hautfarbe der besten Freundin dunkel oder hell ist. Wieder etwas, das Jesus sicher mit seinem Wunsch meint, wenn er davon spricht, dass wir Erwachsene das Reich Gottes so annehmen sollen wie es die Kleinsten unter uns tun. Sprich: Ich muss mich darin üben, eine kindliche Haltung zu entwickeln.

Musik

Das, was ich mit Blick auf die letzten 18 Monate an meiner kleinen Tochter am allermeisten bewundere, ist ihr Vertrauen. Mein Kind hat ein bedingungsloses und zweifelsfreies Vertrauen darin, dass sie geliebt und beschützt wird. Sie ist jeden Tag aufs Neue bereit, Unbekanntes auszuprobieren und immer wieder Erfahrungen zu machen, die sie zuvor noch nie gemacht hat. Schaue ich da auf mich selbst, stelle ich fest: Ich lasse mich schnell von Befürchtungen und Ängsten leiten. Manchmal vermute ich ohne erkennbaren Grund das Negative in meinem Nächsten und bin misstrauisch gegenüber Dingen, die mir zum ersten Mal begegnen. Dabei darf ich als Christ gewiss sein: Gott ist es, der mich hält, zu dem ich mit allem, was mich bewegt, kommen kann. Darauf zu vertrauen, dass er mir beisteht und mich nicht im Stich lässt, ist die Grundlage meines Glaubens. Und nicht nur das: Auch das Vertrauen auf mich, mir selbst etwas zuzutrauen, das kann ich mir - von meiner kleinen mutigen Tochter - definitiv abschauen. Zurück zur Bibelstelle: Mir wird warm ums Herz, wenn ich mir die Situation mit Jesus und all den Kindern um ihn herum vorstelle. Er berührt und segnet sie. Er sichert ihnen seine Liebe, Nähe und Geborgenheit zu. Inzwischen verstehe ich seine Forderung an die Jünger besser und blicke mit einem Lächeln im Gesicht rüber zu meiner Tochter mit der Schneekugel in der Hand. Sie schüttelt sie immer noch wieder und wieder, um die Flocken im Inneren zu bestaunen.

Während ich wieder vor meinem noch immer nicht ausgeräumten Karton stehe, entdecke ich eine kleine selbst gebastelte Karte, und darauf dieser Spruch:

Ich bitte den Engel, der an der Pforte des neuen Jahres steht: Gib mir ein Licht, damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit entgegengehen kann. Aber er antwortete: Gehe nur hin in die Dunkelheit und lege Deine Hand in die Hand Gottes! Das ist besser als ein Licht und sicherer als ein bekannter Weg.

Wie recht der Engel doch hat, sage ich leise und beschließe mir erst einmal einen Kaffee zu kochen, um all das in meinem Herzen ankommen zu lassen, was mir die letzten Minuten durch den Kopf ging. Ich nehme mir fest vor, in dem neuen, mir noch unbekannten Jahr, meinen Alltag mit einem gewissen Staunen und der Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge zu füllen. Ich möchte mich wie ein Kind begeistern lassen für all das, was um mich herum geschieht. Ich will wie ein Kind vertrauen, mich ohne Bedenken und ohne Angst neuen Herausforderungen stellen. Ich wünsche mir die wachen Augen eines Kindes und ein ebenso offenes Herz. Möge auch mein Glaube an Gott so fest und unerschütterlich sein wie der eines Kindes.

Ich wünsche Ihnen und mir für das neue Jahr 2024 den kindlichen Blick auf allen Wegen und allem voran die Gewissheit, dass Gott es ist, der Ihre und meine Hand hält. Ich bin mir sicher, es lohnt sich, die kommenden noch unbeschriebenen 365 Tage mit Kinderaugen zu betrachten. Entdecken wir gemeinsam immer wieder neu das Reich Gottes schon heute, im Hier und Jetzt - ob in einer kleinen Schneekugel oder in jedem noch so kleinen Wunder, das uns widerfährt.

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