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Wechselbad der Gefühle
Bild: Harald Willingshofer/Pixabay

Wechselbad der Gefühle

André Lemmer
Ein Beitrag von André Lemmer, Katholischer Pfarrer in der Pfarrei Sankt Elisabeth in Kassel
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Nur einen Tag vorher habe ich noch mit der italienischen Gemeinde und dem Erzbischof von Bari einen Gottesdienst gefeiert. Es ist das fünfzigste Jubiläum der italienischen Gemeinde in Kassel. Dazu gibt es am gleichen Abend noch ein Konzert. Viel Freude begleitet diesen Tag. Freude für fünfzig Jahre geleistete Arbeit durch engagierte Menschen. Beim gemeinsamen Treffen nach dem Gottesdienst wird mir in den Gesprächen eine große Dankbarkeit der Menschen bewusst. Gerade die Älteren, also die Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, tragen diese Dankbarkeit in sich. Sie haben in der Gemeinschaft der katholischen italienischen Gemeinde Heimat gefunden. Ein Stück zu Hause in der Ferne.

Bei einem ausladenden Buffet mit allem, was das Herz begehrt, werden die Geschichten der Anfänge ausgetauscht. Lachend sagen viele, sie hätten nie gedacht, in Deutschland zu bleiben. Ein paar Jahre arbeiten und dann wieder nach Hause zur Familie und in das geliebte Dorf am Meer oder in den Abruzzen. Dort, wo der Frühling warm ist und man jeden Strauch kennt. Aber es ist anders gekommen und die Menschen, die ich an diesem Tag treffe, sind nicht unglücklich darüber. Sie haben nicht zuletzt durch die italienische Gemeinde in Kassel Heimat neu gewinnen können. Und diese Heimat ist jetzt mit der Elisabethkirche verbunden.

Nur 24 Stunden – und alles ist anders

Aber das war vor einem Tag. Jetzt sitze ich im Flieger nach Amerika und starre ungläubig auf die Fotos, die mir auf mein Smartphone gesendet werden. Es sind Bilder eines kollabierten Kirchdaches. Die Elisabethkirche ist nicht mehr wieder zu erkennen. Da, wo mein Platz im gestrigen Gottesdienst war, liegen jetzt tonnenschwere Trümmer. Gerade einmal vierundzwanzig Stunden nach dem Gottesdienst, in dem viel über eine neue Heimat gesprochen wird, ist ein Ort dieser Heimat einfach zusammengebrochen.

Meine Gedanken müssen sich sortieren. Zu viel ist in den letzten Stunden passiert. Immer wieder schaue ich mir die Fotos an, immer wieder kommen neue. Zunächst ist noch unklar, ob noch jemand in der Kirche war. Die Kirchenaufsicht, die in der Kirche gewesen sein muss, ist zum Glück unverletzt. Mir dreht sich der Magen um. Ich habe das Gefühl von Verlassenheit und Unsicherheit. All das, was vor einem Tag noch über Heimat und einen Ort, einen Bezugspunkt gesagt wurde, ist einfach ungültig geworden. Und keiner weiß warum.

Endlich kommt die gute Nachricht, dass niemand mehr in der Kirche war. Ein paar Menschen haben wenige Minuten vor dem Kollaps ihre Gebete beendet und die Kirche verlassen. Niemand verletzt, denke ich mir und kann bei all den tragischen Momenten aufatmen. Aber in diese Dankbarkeit dringt schnell wieder die Sorge ein. Es ist so viel kaputt und man kann nicht sagen, was das für unsere Kirchengemeinde und die vielen anderen Gemeinschaften, die in der Elisabethkirche eine Heimat haben, bedeutet. Wo sonst zur Kunstausstellung Documenta eine Begleitausstellung den Menschen den Horizont weit macht, wo in der Zeit der Pandemie Künstler eine Heimat gefunden haben und wo neben vielen Gottesdiensten so wertvolle Kultur geschieht, liegen jetzt Trümmer. Ich sitze in einem Flieger mit Hunderten Menschen und fühle mich ziemlich verlassen. Die Freude, die ich gestern erfahren habe, ist weg. Die Vorfreude auf die Erfahrungen in der Gemeinde in Amerika, die ich besuchen möchte, ist auch weg. Fassungslosigkeit und Trauer über das Verlorene bestimmen mich.

Jesu Einzug in Jerusalem

Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. So kann ich meine Gefühle in diesen Stunden beschreiben. Ob es den Jüngern mit Jesus genau so ging? Heute feiern wir Christen Palmsonntag. Das ist die Erinnerung an den Einzug Jesu in Jerusalem. Dort haben Menschen die Straßen gesäumt und ihm zugejubelt. Sie haben, so kann man es in der Bibel lesen, ihre Kleider und Palmzweige auf die Straße gelegt, damit Jesus nicht auf dem Staub der Straße laufen muss.

Die Jünger Jesu muss das ziemlich beeindruckt haben. So viele Menschen, die jubeln, so viele Menschen, die es feiern, dass Jesus endlich auch nach Jerusalem kommt. Viel hat man schon von diesem Jesus gehört. Er heilt Kranke, er legt das Wort Gottes aus, vollbringt Wunder – jeder will ihn sehen, alle erhoffen sich etwas von ihm. So viele Menschen erwarten von Jesus, dass nun mit ihm eine neue Zeit anbricht. Dieser Jesus kann die neue Mitte werden, die Person, auf die sich alle Hoffnung stützt, dass Jerusalem wieder Heimat wird, frei von der Besatzung der Römer, frei von Spaltung und frei von Armut und Hoffnungslosigkeit.

Deshalb jubeln die Menschen ihm zu. Aus diesem Grund behandeln sie ihn wie einen König. Die Jünger sind von dieser Freude mitgerissen. Vielleicht mag auch der ein oder andere Jünger gedacht haben, jetzt sei man endlich am Ziel.

Jesus gibt Heimat auch im scheinbaren Scheitern

Doch der Jubel des Palmsonntags verebbt schnell. Wenige Tage nach diesem Triumphzug geschieht für die Jünger das Unfassbare. Dieser Jesus, dem sie so lange gefolgt sind, mit dem sie so viele Wunder erlebt haben, er, der ihr Zentrum geworden ist, hängt am Kreuz und stirbt. Ein Ausgestoßener. Ein geächteter und gefolterter Mensch. Jesus, der viel vom Reich Gottes gesprochen hat, der so viele Wunder getan hat. Jesus, der Sohn Gottes, der so vielen Menschen wieder Hoffnung auf eine erneuerte Heimat gegeben hat, hängt machtlos und zerbrochen am Kreuz. Die Euphorie des Palmsonntags scheint Ewigkeiten zurückzuliegen und fast wie ein Märchen, so extrem, wie der Gegensatz nun ist.

Die Jünger haben so viel verloren. Sie stehen vor den Trümmern ihrer Hoffnung. Ihr Bezugspunkt, ihre Mitte, scheint unwiederbringlich zerstört. Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Die Jünger und bestimmt auch viele der Menschen, die Jesus zugejubelt haben, müssen diese Erfahrung an Palmsonntag und Karfreitag gemacht haben.

Aber dabei bleibt es nicht. Mit dem Karfreitag, dem Tod Jesu am Kreuz, bleibt es nicht. Am Ostermorgen ist das Grab leer. Jesus ist nicht mehr tot, er ist ausgebrochen aus dem Sterben, das uns Menschen so endgültig erscheint. Aus der Hoffnungslosigkeit der Jünger wird nach und nach neue Hoffnung. Für die Jünger wird es zu einem Aufbruch in einen neuen Anfang. Sie begreifen, dass alles, was sie von Jesus gelernt haben, genau jetzt einen Sinn ergibt. Sie erfahren, dass ihre Mitte nicht verloren ist. Sie lernen neu, von dieser Mitte, von Jesus Christus her zu fragen: Wie können wir als Gemeinschaft auch für andere Menschen die Botschaft der Hoffnung, die Jesus ihnen gegeben hat, neu erlebbar machen?

Für die Jünger ist dabei klar, sie stehen dabei am Beginn. Auch wenn sie wahrscheinlich nicht erleben werden, wohin ihre Arbeit münden wird, sind sie sich eines sicher: Unsere Hoffnung und Freude sind begründet und allein daraus können wir Kraft schöpfen und durchhalten. Diese Haltung ist es, die für unzählige Menschen den Glauben zu einer neuen Mitte und auch zu einer Heimat werden lässt, die sie mitnehmen können, wohin sie auch gehen.

Der Wiederaufbau für eine neue Heimat

Ich sitze immer noch im Flugzeug und lese die Nachrichten auf meinem Smartphone. So viele engagierte Menschen sind gerade an der Elisabethkirche. Feuerwehr, Polizei, Verantwortliche der Gemeinde: Jeder trägt etwas dazu bei, dass die Situation übersichtlicher wird. Viele schicken mir Fotos. Mir macht das Hoffnung, mich beruhigt das. Ich weiß, auch wenn ich nicht vor Ort bin, wird alles getan, was nötig ist.

Langsam kann ich mich wieder mit meiner kleinen Reisegruppe auch auf die kommenden Tage konzentrieren. Wir besuchen in Amerika eine katholische Gemeinde, die einen neuen Aufbruch gewagt hat. Wir wollen uns von dieser Gemeinde inspirieren lassen. Diese Gemeinde hat ein Buch geschrieben und genau das halte ich in den Händen, als mich ein weiteres Foto aus der Elisabethkirche erreicht. Auf dem Foto sehe ich, dass das große Kreuz über dem Altar den Einsturz des Daches unbeschadet überstanden hat. Später wird es ein Foto geben, in dem man durch einen Riss im zerstörten Dach dieses Kreuz sieht.

Ich schaue auf das Foto vom unbeschadeten Kreuz und blicke dann auf das Buch in meiner anderen Hand. Der Titel des Buches ist Rebuilt, englisch für Wiederaufbau. Und ich fasse wieder Hoffnung

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