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Ansehen...
Bild: Beatriz_Marques_pixabay

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Stefan Herok
Ein Beitrag von Stefan Herok, katholischer Pastoralreferent i.R. in der Pfarrei St. Bonifatius, Wiesbaden
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Guten Morgen und einen schönen Sonntag!

Sie kennen bestimmt die Redewendung „Sehen und gesehen werden!“ Man verbindet sie gerne mit der Glamourwelt von Promis, Stars und Sternchen. Z.B. auf den „roten Teppichen“ von Filmfestivals und Oskarverleihungen. Und natürlich ist dabei das GesehenWerden der wichtigere Teil. Bewundert zu werden, ist eine ganz besondere Verwöhnung für die Menschenseele, die doch immer irgendwie Bestätigung sucht.

Wir weniger prominente Normalos, wir gehören da wohl insgesamt eher zu denen, die sehen. Wir sind meist die applaudierenden ZuschauerInnen beim Schaulaufen auf den Laufstegen und Siegertreppchen der Weltgeschichte. Ich bin da keine Ausnahme. Manchmal habe ich regelrecht Freude daran, auf diese Weise mein Klatsch- und Tratschbedürfnis zu befriedigen. Und nicht nur das. Ich glaube, wir Menschen haben auch eine Sehnsucht, zu anderen aufzuschauen, jemanden zu bewundern. Mir jedenfalls geht das so.

Ein soziales Grundbedürfnis…

Gleichwohl hat dieses „sehen und gesehen werden“ auch eine viel tiefere, ja absolut fundamentale Bedeutung für jede menschliche Beziehung, weit über jeden Promirummel hinaus. Sehen und gesehen werden ist ein soziales Grundbedürfnis. Mangel und Mängel in diesem Bereich haben oft unabsehbare Folgen.

Das gleiche gilt für „Ansehen“ und „Anerkennung“. „Anerkennung“ kommt von „erkennen“ und ist damit auch eine Art von sehen. Zunächst denken wir auch da wahrscheinlich an bedeutende Persönlichkeiten, die sich in unseren Augen Ansehen und Anerkennung verdient haben. Aber wie beim „sehen und gesehen werden“ gilt auch hier: Ansehen und Anerkennung zu finden, sind fundamentale menschliche Grundbedürfnisse.

Nicht übersehen werden…

Das Gegenteil davon ist, „abschätzig“, „abwertend“ angesehen zu werden, von „oben herab“ oder einfach ganz übersehen zu werden, überhaupt nicht wahrgenommen. Jemand guckt einfach über mich hinweg oder durch mich hindurch. Das hat nichts mit „Durchblick“ zu tun. Es gibt Blicke, die aufbauen, und es gibt Blicke, die vernichten.

Wenn ich in unsere Welt und Gesellschaft heute schaue, dann frage ich mich schon, mit welchem Blick, mit welchen Augen wir einander ansehen?

Vorleistungsfreie Anerkennung…

Für Kinder und junge Menschen ist es besonders wichtig, dass sie gesehen werden. Und dass sie Anerkennung finden, und zwar ohne dafür (Vor-)Leistungen erbringen zu müssen. Aufmerksamkeit einfach dafür, dass es sie gibt und dass sie da sind. Zunächst sind dafür die Eltern und Familien zuständig, später dann wesentlich die Freundinnen und Freunde, Klassen-, Cliquen- oder Vereinskameraden. Natürlich ist auch leistungsbezogene Anerkennung motivierend und wachstumsfördernd. Aber viel wichtiger ist, erst einmal geliebt, zumindest be- und geachtet zu werden dafür, dass man einfach da ist. Wird einem jungen Menschen dieses fundamentale Ansehen verweigert, dann sind Probleme vorprogrammiert, von Minderwertigkeitsgefühl bis hin zu Depression und Selbstzerstörungsgedanken.

Natürlich leben wir auch später als Erwachsene sehr wesentlich vom positiven Blick, der uns geschenkt wird, davon, dass wir und wie wir gesehen werden.

Zu sehr leistungsorientiert…

Ich fürchte, gesellschaftlich schenken wir solch fundamentales Ansehen doch insgesamt zu sehr an Leistung orientiert. Da ist es letztlich nur ein unbedeutender Unterschied, um welche Art von Leistung es sich handelt: um rein materiellen Erfolg oder aber um die moralisch irgendwie höherstehende Leistung z.B. als Wissenschaftlerin, Künstler oder in Sport und Politik. Anerkennung, die man sich erst „verdienen“ muss, ist für die MenschenSeele eine viel fragilere Stärkung, als die, die sie einfach unverdient geschenkt bekommt, weil sie einfach nur sie selbst ist. Anerkennung nicht wegen diesem oder jenem, sondern ganz allein wegen ihrer selbst.

Das ist eine Frage der Würde und fundamentaler Menschlichkeit. Sie steht laut Grundgesetz jedem Menschen zu, unabhängig von Status, Leistung und Eigenschaften.

Wenn ich in unsere Welt und Gesellschaft heute schaue, dann frage ich mich schon, mit welchem Blick, mit welchen Augen wir einander ansehen?

Voller Verachtung…

Was mir heute besonders auffällt, ist nicht nur ein genereller Mangel an positiv aufbauendem Blick, sondern die offensichtliche Lust am vernichtenden Gegenteil: niedermachen, schlechtreden, beschimpfen. Damit sage ich nichts gegen sachliche Kritik oder unterschiedliche Meinungen auch mal heftiger auszutragen. Aber mir ist dabei zu viel Verachtung im Spiel und offensichtlich Hass. Und Verachtung ist das diametrale Gegenteil von Achtung und Ansehen. Sein Ansehen nicht zu beschädigen, das schulde ich auch meinem Gegner.

Welchen Blick auf den Mitmenschen, welches „Ansehen“ ich für notwendig und hilfreich halte?

Christliches Menschenbild…

Ich werbe hier ganz neu und ganz offensiv für das christliche Menschenbild, für den Blick auf den anderen, wie ihn dieser Jesus von Nazaret gelehrt hat.

Ich tue das im klaren Wissen darum, dass das Christentum z.Zt. sehr aus der Mode gekommen scheint. Daran haben seine kirchlichen Vertreter ja auch selbst heftig mitgewirkt. Trotzdem ist echtes Christentum genau das, was wir gerade dringend brauchen, um den gesellschaftlichen Sumpf der Verachtung trocken zu legen. Das ist jedenfalls meine feste Meinung.

Prüfen und anwenden…

Die Haltungen dieses christlichen Menschenbildes klingen heute vielleicht abgedroschen. Sie aber wirklich anzuwenden und umzusetzen, hielte ich für echte Rettung. Darf ich Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich einladen und bitten, sie einfach einmal für sich zu prüfen und sie dann eventuell gesellschaftlich ins Spiel zu bringen, wenn sie ihnen zustimmen können? Ganz egal wie Sie zu uns Kirchen stehen.

Christliche Haltungen wären für mich:

  • Dem Gegenüber eine positive Absicht unterstellen.
  • Sich einmal kurz in die Perspektive des Gegners versetzen.
  • Dem anderen nichts antun, was man selbst niemals erleben und erleiden möchte.
  • Auf Beleidigungen und andere persönliche Verunglimpfungen verzichten, auch wenn „sprachliche Aufrüstung“ bei den anderen selbstverständlich erscheint.
  • Jeder Art von physischer und psychischer Gewalt entsagen.
  • Freundlich bleiben, auch in aller Wehrhaftigkeit, vielleicht sogar humorvoll.
  • In Erwägung ziehen, vielleicht selbst im Unrecht zu sein, also zur Selbstkritik fähig.
  • Sich um Sachlichkeit in der Debatte bemühen.
  • Vielfältige Quellen und unterschiedliche Sichtweisen zurate ziehen.
  • Den Mut haben, sich zu entschuldigen, wenn man nicht Recht hatte oder sich schlecht benommen hat.
  • Sich an den Fehlern des anderen nicht freuen, seine Schwäche nicht ausnutzen und auf Häme verzichten.
  • Verdienste des Gegenübers ausdrücklich anerkennen, auch wenn er mein Gegner ist.
  • Wege zur Versöhnung und zum inhaltlichen Kompromiss suchen.

Was halten Sie davon?

Ich fände höchst bewundernswert, wenn sich für diese Haltungen in der Gesellschaft überzeugende Vorbilder fänden. Das alles entspräche dem christlichen Menschenbild und seiner fundamentalen Nächstenliebe. Was halten Sie davon?

Klar, auch die Nächstenliebe erscheint heute abgeschmackt und konnte manchen Missbrauch nicht verhindern. Sie redet allerdings keiner billigen SozialRomantik das Wort. Sie schenkt jedem Menschen, besonders jedem Kind, aber auch jedem Gegner den aufbauenden Blick grundsätzlicher Achtung und Anerkennung. Sie schenkt ihm Ansehen.

Wenn ich in unsere Welt und Gesellschaft heute schaue, dann frage ich mich schon, mit welchem Blick, mit welchen Augen wir einander ansehen?

Man sieht nur mit dem Herzen gut...

Für den liebevoll-konstruktiven Blick, wie ich ihn mir wünsche, hat der Dichter Saint-Exupery den so berühmten wie trefflichen Satz geprägt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“!

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