Caravaggios Matthäus
Vor zwei Wochen war ich mit meiner ganzen Familie in Rom. Die Strecken mussten Kinderwagen und spielplatztauglich sein. Museen oder Konzerte kamen eher nicht in Frage. Aber in Rom muss man trotzdem nicht auf künstlerische Highlights verzichten.
Ein Ort, an den es mich immer wieder zieht, wenn ich in der Ewigen Stadt bin, ist die Nationalkirche der Franzosen: San Luigi dei Francesi. Sie liegt zwischen Piazza Navona und Pantheon, also mitten in der römischen Altstadt. Ja, die ganze Kirche, sozusagen als Gesamtkunstwerk, ist schon beeindruckend. Aber besonders die Capella Contarelli hat es mir angetan. Gleich drei Werke Caravaggios zeigt die zunächst unscheinbare Seitenkapelle, links neben dem Hauptaltar. Das heißt, sie wäre unscheinbar, würde sich nicht immer ein Pulk von Menschen vor ihr versammeln, um den berühmten Matthäus-Zyklus Caravaggios zu sehen. Ein Geheimtipp ist das also sicher nicht. Aber was ist in Rom schon ein Geheimtipp? Trotz des Andrangs: Es lohnt sich für mich immer wieder. Gerne habe ich deswegen auch meine Kinder mitgenommen. Meistens ist die Kapelle auch ganz hell erleuchtet. Jedenfalls dann, wenn ein Tourist eine Münze springen lässt. Dann kann man die Bilder für wenige Minuten besonders gut betrachten.
Verbalinspiration in einem Bild
Vor der Kapelle stehend fällt mein Blick zunächst auf die mittlere, frontale Darstellung des Evangelisten Matthäus, der gebannt auf einen Engel blickt. Dieser scheint ihm etwas zu erklären - die Gestik des Engels und insbesondere seine Hände deuten dies an. Matthäus, der an einem hölzernen Tisch halb stehend, halb kniend arbeitet, starrt gebannt und fast erschrocken auf den himmlischen Boten. Seine Haltung deutet Überraschung und Bewegung an. Zugleich hält der Evangelist einen Schreibgriffel in der Hand, und es scheint, als diktiere der Engel dem Autoren gleichsam den Text des Evangeliums. Es ist eine hochdynamische, spannungsreiche und zugleich artifizielle Szene. Aufgelockert wird sie typisch für Caravaggio, aber auch für seine Zeit durch ein winziges Detail. Der Schemel, auf dem das Knie des Evangelisten ruht, ragt mit einem Bein gleichsam aus dem Bild heraus in Richtung des Betrachters. Es zeigt nicht nur die künstlerische Meisterschaft Caravaggios, sondern will dem Betrachter sozusagen in das Bild, in diese Szene hinein holen und Vergangenheit und Gegenwart verbinden. Die Botschaft ist klar: Das Evangelium ist von einem Menschen geschrieben, aber dieser war himmlisch inspiriert. Es handelt sich also nicht einfach um einen profanen Text, den sich jemand einfach ausgedacht hätte. Könnte man den Begriff Verbalinspiration besser in ein Bild fassen?
Bilder, die nicht einfach loslassen
Das Bild links davon zeigt die Berufung des Matthäus. Caravaggio holt die Szene in den Kontext seiner Zeit. Die Protagonisten tragen barocke Outfits. Berufung ist also immer gegenwärtig! Zu jeder Zeit. Die berühmte Geste Jesu, dessen berufender Fingerzeig auf Matthäus eine Reminiszenz an die Schöpfungsszene in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo ist, haben Sie vielleicht vor Augen. Und auch das dritte Bild, das Martyrium des Matthäus … oh, da geht das Licht aus und wir stehen wieder im Dunkel der Kappel und des trüben Tageslichtes. Es ist das Licht, mit dem Caravaggio aber gerechnet hat und für das die Bilder eigentlich ausgelegt sind. Schnell findet sich aber ein Tourist, der den nächsten Euro zur Beleuchtung einschmeißt und die Schau und das Staunen, das Suchen und Interpretieren geht von Neuem los. Nur meiner Tochter reicht es jetzt: „Papa, wir müssen weiter - auf den Spielplatz.“ Ja, das hatten wir ihr versprochen. Aber wer weiß: Vielleicht steht sie in ein paar Jahren auch begeistert und rätselnd vor den Caravaggio-Bildern. Am Spielplatz an der Engelsburg jedenfalls hatten mich die Bilder noch nicht losgelassen. Und wenn Sie mal wieder in Rom sind: Gehen Sie unbedingt in die Kirche San Luigi dei Francesi! Es lohnt sich immer.