Musik und Botschaften für den Advent
Unser Konzert am Freitag im Frankfurter Dom war ausverkauft, Wochen vorher schon. Ich habe den Eindruck: In diesem Advent sehnen sich die Menschen ganz besonders nach schönen Musikerlebnissen. Danach, gemeinsam Musik zu hören oder auch Musik selbst zu machen. Nach der Corona-Pandemie, in der das alles gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich war. Und in diesen jetzigen Krisen- und Kriegszeiten, die vielen Menschen auf die Stimmung drücken. Musik tröstet und hilft. Das erlebe wohl nicht nur ich so. Und dann gibt es in der Advents- und Weihnachtszeit eben auch besonders schöne Musik. Alte Adventslieder wie „Macht hoch die Tür“ oder die großen Musiken von Bach. Am Freitag im Konzert haben wir sein Magnificat gesungen und die ersten drei Teile des Weihnachtsoratoriums. Was waren das für wundervolle Töne und Melodien!
Botschaften, die mir diese Musik sendet
Ich habe Ihnen und mir heute Morgen, am zweiten Adventssonntag, etwas von dieser wunderbaren Advents- und Weihnachtsmusik mitgebracht. Und ich möchte davon erzählen, welche Botschaften für mich in dieser Musik stecken. Sie erschließen sich über die biblischen Hintergründe der Musiktexte. Aber auch über den Bogen, den die alten Texte zur Gegenwart schlagen.
Das Magnificat ist der Lobgesangs Marias
Anfangen möchte ich mit den ersten Tönen des Magnificat von Bach. Das ist nicht nur fantastische Musik, sie passt auch besonders in den Advent. Das Magnificat ist ja der Lobgesang Marias aus der Bibel. Sie stimmt ihn an, als sie ihrer Cousine Elisabeth begegnet, die beiden Frauen sind schwanger (vgl. Lukas-Evangelium 1,46-55). Elisabeth mit Johannes, der später Täufer genannt wird, und Maria mit Jesus. Die schwangere Maria – das passt natürlich gut in den Advent, in diese Erwartungszeit vor Weihnachten. Als wir vorgestern in Frankfurt Konzert hatten, hat die katholische Kirche zudem eines ihrer großen Marienfeste gefeiert. „Magnificat anima mea dominum“, „Meine Seele preist die Größe des Herrn“. Mit diesen Worten beginnt der Jubelgesang Marias aus der Bibel.
Musik 1: aus: Johann Sebastian Bach, Magnificat (CD: J.S. Bach, Magnificat und Cantata „Ich habe genug“, Schola Cantorum of Oxford, Track Nr. 1, 3)
Fast revolutionär klingt, was Maria im Magnificat singt
Es ist eine junge Frau aus Nazareth, die der Bibel nach dieses große Lied anstimmt, das Magnificat. Maria, die Mutter Jesu. Ihr Lied preist einen Gott, der sie, diese junge und ohnmächtige Frau, sieht und sie groß machen wird. Ich muss dabei in diesem Advent auch an junge Frauen in Israel und Palästina und überall auf dieser Welt denken, die schwanger sind, vielleicht schon kleine Kinder haben, die sich ohnmächtig fühlen und Angst haben. Immer wieder sind Mütter und Kinder die großen Leidtragenden in den Kriegen und Konflikten dieser Welt. Ich wünsche ihnen den Beistand Gottes. Es ist ein Gott, der gerade die Ohnmächtigen und Schwachen sieht und ihnen hilft. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen, die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ So singt Maria weiter in diesem Magnificat, revolutionär klingt das. Für mich steckt in diesem Lobgesang auch die Vision einer neuen, von Gott gestalteten Welt. Gerade in diesem Advent ersehne und erbete ich diese Welt.
Advent ist Sehnsuchtszeit – auch nach einer friedlicheren Welt
Der Advent ist eine Sehnsuchtszeit. Nicht nur Sehnsucht nach einem schönen Weihnachtsfest in gut zwei Wochen. Sondern auch: die große Sehnsucht nach einer besseren, friedlicheren Welt. Nach einer Welt, in der das Leid und Elend gerade derer, die im Krieg sind, endlich beendet werden. „All unsere Not zum End er bringt“. Das ist eine Zeile im vielleicht bekanntesten Adventslied. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“. Ein frohes, beschwingtes Lied. Aber der Text ist entstanden im Jahr 1623. Da tobte in Europa gerade der Dreißigjährige Krieg. So viel Leid und Tod auch damals. Das Lied erzählt von einem König, der nicht gewalttätig und mächtig daherkommt, sondern: „Sanftmütigkeit ist sein Gefährt, sein Zepter ist Barmherzigkeit“. Diesem König sollen sich Türen und Tore weit öffnen. Heil und Leben bringt dieser König mit sich. Das ist für mich auch eine Sehnsucht im Advent, sie steckt im „Magnificat“ wie in diesem Lied „Macht hoch die Tür“: Gewalt und Krieg werden ein Ende finden. Auch, wenn es im Moment nicht danach aussieht, will ich weiter fest darauf hoffen: Sanftmütigkeit und Friedfertigkeit werden sich durchsetzen in dieser Welt. Im Kleinen kann auch ich dazu beitragen. Indem ich selbst versuche, friedlich und sanftmütig auf Menschen zuzugehen. „Macht hoch die Tür“: Für mich bejubelt dieses Lied nicht nur den König, der da kommen wird und Frieden bringt. Sondern alle Menschen, die Frieden und Sanftmütigkeit verbreiten.
Musik 2: Macht hoch die Tür (CD: Advents- und Weihnachtszeit mit Singer Pur, Track 7)
Ein Lied in Moll aus einer Zeit von Krieg und Vernichtung
Neben diesem alten und bekannten Adventslied aus dem 17. Jahrhundert singe ich auch ein moderneres sehr gerne. Und in diesem Advent besonders. Es ist das Lied: „Die Nacht ist vorgedrungen“. Ein Lied in Moll ist das, es klingt weniger beschwingt, eher ruhig, traurig, aber sehr schön. Der Text stammt von 1938, die Melodie von 1939. Eine Zeit von Kriegsvorbereitung und Krieg, von Judenverfolgung und Judenvernichtung. Gedichtet hat dieses Lied der Schriftsteller und Theologe Jochen Klepper. Seine Frau war Jüdin, er und seine Familie waren bedroht von der Deportation ins Konzentrationslager. Jochen Klepper versucht, die Töchter ins Exil zu retten, die ältere kann ausreisen. Aber als der jüngeren Tochter im Dezember 1942 die Ausreise verweigert wird, wird die Ausweglosigkeit so groß, dass sich die Familie das Leben nimmt.
Jüdinnen und Juden fühlen sich in Deutschland nicht mehr sicher
Ich muss bei diesem Lied und in diesem Advent auch an den 7. Oktober dieses Jahres denken. An den schrecklichen Angriff der Hamas auf Israel, mit über 1200 ermordeten Jüdinnen und Juden, so viele sind seit 1945 nicht mehr an einem Tag umgebracht worden. Ich muss auch an den Antisemitismus denken, der in unserem Land wächst. Jüdinnen und Juden tragen ihre Kippa oder ihren Davidstern nicht sichtbar, weil sie fürchten, angegriffen zu werden. Und rechtsextreme Parteien haben Zulauf. „Wir fühlen uns nicht mehr sicher“, „wir fühlen uns alleingelassen“, „wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen“: Solche Sätze von Jüdinnen und Juden heute in Deutschland machen mich traurig und wütend.
Hoffnung, dass die Nacht schwindet und der Stern leuchtet
Im Lied von Jochen Klepper scheint auch eine Hoffnung auf. „Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein“, heißt es da. Jochen Klepper weiß um die Dunkelheit dieser Welt, er weiß, wie furchtbar Angst und Pein quälen. Und doch setzt er dieser Dunkelheit etwas entgegen: den hellen Morgenstern, den Stern der Gotteshuld. Die Nacht schwindet und dieser Stern leuchtet.
Kämpft für das Licht und gegen die Dunkelheit!
Bilder aus dem Neuen Testament lassen sich in diesen Liedzeilen finden: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe“, schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom (Römer 13,12). Bei Paulus geht dieser Satz übrigens so weiter: „Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts!“ Von dieser kämpferischen Ansage steht im Adventslied von Jochen Klepper nichts. Vielleicht hat er sie trotzdem im Kopf gehabt, als evangelischer Theologe kannte er den Römerbrief gut. Für mich schwingen sie in seinem Lied von 1938 jedenfalls mit, diese Aufforderungen des Apostels Paulus. Für mich steckt darin auch der Aufruf: Kämpft für das Licht und gegen die Dunkelheit! Gegen Rassismus und Antisemitismus. Kämpft dafür, dass kein Mensch aufgrund von Hautfarbe oder Religion Angst haben muss um sich oder seine Familie!
Musik 3: „Die Nacht ist vorgedrungen“ (CD: Advents- und Weihnachtslieder mit Singer Pur, Track 18)
Ein Adventslied, das ursprünglich gar keins war
Das nächste Adventslied, das ich mitgebracht habe, ist eigentlich gar keins, jedenfalls nicht in der ursprünglichen evangelischen Tradition. Ich meine: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Im katholischen Gesangbuch meiner Kindheit stand es noch unter der Rubrik „Advent“, übrigens direkt vor Kleppers Lied „Die Nacht ist vorgedrungen.“ Heute steht es in meinem katholischen Gesangbuch nicht mehr unter Advent. Und trotzdem ist es noch immer eines meiner Lieblingslieder in dieser Zeit vor Weihnachten. Mit seiner ganz besonders festlichen Melodie und seinem Dreiklangsmotiv zu Beginn, schmetternd wie eine Fanfare.
Der Aufruf zur Wachsamkeit und Vorbereitung
Auch als Chorsängerin ist mir das Lied im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ans Herz gewachsen. Von Johann Sebastian Bach gibt es eine wunderbare Kantate mit dem Titel. Bach hat sie übrigens auch nicht zum Advent komponiert, sondern zum 27. Sonntag nach Trinitatis, sprich: zum Ende des Kirchenjahres. Das liegt an der Bibelstelle, um die es in dem Lied geht: Sie steht im Matthäus-Evangelium und erzählt vom Ende der Zeiten, vom Jüngsten Tag. Jesus vergleicht diesen Tag mit einer Hochzeit und ruft zur Wachsamkeit auf, er spricht von törichten und klugen Jungfrauen, die für diese Hochzeit vorbereitet sind oder eben nicht.
Der Verfolger wird zum Verkünder der Botschaft von Jesus
In diesem Jahr habe ich das Lied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ aber auch noch in einem anderen großen Chorwerk kennengelernt. Im Sommer haben wir in unserem Frankfurter Chor das Oratorium „Paulus“ von Felix Mendelssohn Bartholdy gesungen, das die Geschichte des Apostels Paulus erzählt. Gleich die festliche Ouvertüre beginnt mit den Tönen von „Wachet auf“. Und auch ein Choral nimmt das Lied auf. Er steht im Oratorium nach der Geschichte von der Bekehrung des Paulus. Paulus, der die christlichen Gemeinden verfolgt hat, erlebt auf dem Weg nach Damaskus eine wundersame Erscheinung. Er sieht ein Licht, und dann hört er eine Stimme: Jesus selbst spricht zu ihm. Von da an wird Paulus vom Verfolger zum großen Verkünder der Botschaft von Jesus Christus. Er hat sich entschieden, wie die klugen Jungfrauen im Matthäus-Evangelium. Ist dem Ruf der Stimme gefolgt, von dem auch das Lied spricht.
Ruhig werden im Advent und Gottes Stimme hören
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“: Für mich passen das Lied und sein Text immer noch gut zum Advent. Es ist eine Zeit, in der ich ab und an ruhig werden möchte und mich berühren lassen möchte von der Stimme Gottes. Wo auch immer und wie auch immer sie zu mir spricht.
Musik 4: Felix Mendelssohn-Bartholdy: Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (CD: Felix Mendelssohn-Bartholdy, Paulus Oratorium, Gächinger Kantorei, Tschechische Philharmonie, Helmuth Rilling, CD 1, Track Nr. 16)
Musik, die sehr persönlich und innig klingt
Welche Musik und welche Botschaft gehören für mich zum Advent? Es sind Lieder wie „Macht hoch die Tür“ und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Aber natürlich ist es auch das große und berühmte Oratorium von Johann Sebastian Bach. Eigentlich für Weihnachten komponiert. Aber den ganzen Advent schon zu hören – auch unser Chor hat es am Freitag im Frankfurter Dom gesungen: das Weihnachtsoratorium. Es enthält so viele wunderbare und berühmte Chorsätze und Arien. Mir haben es dieses Jahr besonders die Choräle angetan. Oft nehmen sie das Wort „ich“ in den Mund. Und dann klingt die Musik trotz Pauken und Trompeten sehr persönlich und sehr innig.
Gott will in den Herzen der Menschen geboren werden, nicht nur in Betlehem
Für Bach und für die Menschen damals war die Geburt Jesu nicht nur ein historisches Ereignis zur Zeit des Kaisers Augustus. Es war auch ein Ereignis der Gegenwart, für jeden einzelnen Menschen. Angelus Silesius, ein Mystiker aus dem 17. Jahrhundert, hat es in einem berühmten Satz einmal so gesagt: „Wird Christus tausendmal zu Betlehem geboren und nicht in dir: du gingest ewiglich verloren.“ In Bachs Weihnachtsoratorium gibt es deswegen Choräle mit Sätzen wie diesen: „Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir?“ Oder: „Ach, mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein zu ruhn in meines Herzens Schrein“. Auch darin steckt die Botschaft: Gott will nicht nur in Betlehem geboren werden, sondern im Herzen der Menschen, in meinem Innern. Er kommt nicht einfach nur in die Welt, er kommt auch in meine Welt. Das klingt für heutige Ohren vielleicht etwas fremd. Aber ich finde: Es ist immer noch eine wunderbare Botschaft, auch in unserer Gegenwart.
Die Choräle sind Zwiesprache mit Gott
Wenn ich die Choräle aus dem Weihnachtsoratorium von Bach höre und singe, dann ist das deswegen für mich auch Gebet. Die Musiktexte sprechen ja Gott und Jesus direkt an, sie sagen nicht nur „ich“, sondern auch „du“: „… mach dir ein rein sanft Bettelein zu ruhn in meines Herzens Schrein“.
Wenn Gott bei den Menschen ankommt, kann mehr Frieden werden
Und so sind diese Lieder und Musiken zur Advents- und Weihnachtszeit für mich erst einmal einfach wohltuend und schön. Aber sie sind mir auch spirituell und für meinen Glauben wichtig. Sie helfen mir dabei, Gott willkommen zu heißen, ihm einen Platz einzuräumen in meinem Herzen und in der Welt. Vorbereitung auf Weihnachten ist das für mich. Und ich glaube: Wenn Gott in die Welt kommt, wenn er ankommen kann bei den Menschen, dann tut das auch der Welt als ganzer gut. Dann kann mehr Frieden werden auf Erden.
Musik 5: Johann Sebastian Bach: Choral „Ach, mein herzliebes Jesulein“ aus dem Weihnachtsoratorium (CD: Weihnachtsoratorium, Gächinger Kantorei, Bach-Kollegium Stuttgart, Helmuth Rilling, 1999-2000, hänssler-edition, CD 1, Track Nr. 9)