Wegwerfen oder aubewahren? Über die Kraft der Erinnerung
Glückliches Land: Seit über 75 Jahren gab es keinen Krieg mehr in Deutschland! Das ist ein Grund zu Freude und Dankbarkeit. Die liegen allerdings derzeit nicht gerade in der Luft. Dafür sind die Zeiten zu unruhig. Und es scheint: Es entlädt sich viel Hass auf andere - sei es in Kriegen, auf der Straße oder sei es ganz persönlich. Da tut es gut, sich heute, am Volkstrauertag, an den Frieden hier zu erinnern und sich daran zu erfreuen.
Es gibt viele Anlässe zum Trauern über die Opfer der Kriege
Daneben kann und will ich aber nicht vergessen, dass es auch viele Anlässe zum Trauern gibt. Über die Opfer der Kriege. Auch wenn sie in Deutschland lange zurückliegen: Manche der damaligen Opfer könnten heute noch leben. Millionen andere konnten zwar ihr Leben retten, verloren aber ihr Hab und Gut und ihre Heimat. Sie mussten ganz neu anfangen – was vielen von ihnen zum Glück auch ganz gut gelang.
Krieg in Deutschland ist lange her
Krieg im eigenen Land ist für die meisten, die in Deutschland aufgewachsen sind, eine Sache des Erinnerns. Viele andere hier befinden sich jedoch mittendrin. Sie sind hierher geflohen, denn in ihrer Heimat ist der Krieg gerade bittere Realität. Weltweit toben Kriege, sterben Menschen, verletzen einander an Leib und Seele, leiden Mangel und werden vertrieben. Ich fühle mit ihnen – wie viele andere auch.
Volkstrauertag: Ursprünglich für die Toten des Ersten Weltkriegs
Ich helfe hier, wo ich kann, wünsche ihnen Frieden und bete für sie. Sie sind Menschen wie ich und kaum anders als ich: in der Ukraine, im Heiligen Land, im Jemen und in etlichen anderen Kriegsgebieten. So kommt man aus dem Trauern gar nicht mehr heraus. Und dem Volkstrauertag wachsen immer neue Opfer zum Betrauern zu. Eigentlich war er vor 100 Jahren für die Toten des Ersten Weltkriegs gedacht. Nicht alle wollen das. Viele denken: „Lass doch den alten unerfreulichen Kram ruhen! Kümmern wir uns lieber um die Gegenwart. Damit haben wir mehr als genug zu tun.“
Welche Kräfte stecken im Erinnern?
Mir scheint aber, dass man sich durch das Erinnern Ideen und Kraftquellen erschließen kann, die einem sonst nicht zugänglich sind. Dem will ich nachgehen. Welche Kräfte stecken im Erinnern? Und wie kann man sie sich erschließen?
Musik: Jean Françaix: „L'Horloge De Flore“ - 10H: „Cierge A Grandes Fleurs“
Das Eiserne Kreuz des Großvaters
Von Zeit zu Zeit führen meine Frau und ich ein Gespräch, das immer ähnlich verläuft. Es geht um das Erinnern und die Dinge von früher. Ich bringe etwas aus dem Keller hoch, das mir beim Aufräumen in die Hände gefallen ist. Und dann besprechen wir, was damit geschehen soll. Jüngstes Beispiel dafür ist das Eiserne Kreuz meines Großvaters aus dem Jahr 1917. Damit wurde er für Tapferkeit im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet. Gefunden habe ich es im Nachlass meiner Eltern, in einer alten Zigarrenschachtel.
Aufheben oder wegwerfen?
Ich zeige es meiner Frau und sie weiß schon, welche Frage mich dabei beschäftigt: aufheben oder wegwerfen. Meine Frau fragt: „Ist es wertvoll – vielleicht für ein Museum?“Ich entgegne: „Nein. Das Eiserne Kreuz wurde im Ersten Weltkrieg über 5 Millionen Mal verliehen. Es ist massenhaft vorhanden. Und es ist aus Eisen, bewusst schlicht, gemäß preußischer Tradition.“Meine Frau sagt: „Dann wirf es weg.“ Ich entgegne: „Aber es ist ein Stück Zeitgeschichte.“Meine Frau schlägt vor: „Mache ein Foto davon und werfe es dann weg.“
Eine Erinnerung zum Anfassen
Ich protestiere: „Ein Foto ist nicht dasselbe wie das Original. Das hier ist zum Anfassen. Dabei spürt man etwas von den Jahrzehnten. Es hat die Patina der Geschichte. Und es ist von meinem Großvater. Er hat damit den Krieg überlebt. Vier brutale Jahre. Junge Jahre, die ihm dann für eine Ausbildung fehlten. So wurde er ungelernter Hilfsschullehrer, irgendwo mussten die Kriegsveteranen ja hin.“
Meine Frau sagt milde: „Ich bin deinem Großvater sehr dankbar. Durch ihn gibt es dich. Aber um uns liebevoll an ihn zu erinnern, brauchen wir das Stück Eisen nicht.“ Ich entgegne: „Aber es bringt mich dazu, mich an ihn zu erinnern. Es macht Vergangenes hier und jetzt real. Außerdem: Das hat jetzt über 100 Jahre existiert. Wollen wir wirklich die sein, die es nun ein für alle Mal wegwerfen?“
Je länger man etwas aufhebt, umso schwerer ist es, sich davon zu trennen
Meine Frau entgegnet: „Ja, das hätte man schon vor 50 Jahren machen können und sollen. Je länger du es aufhebst, umso schwieriger wird es. Wie oft hast du es in den letzten Jahren in der Hand gehabt?“ „Gar nicht“, gebe ich zu. Meine Frau kontert: „Na also. Du brauchst es nicht.“ Sie schweigt eine Weile und ich auch.
Musik: Erik Satie: „Morceaux En Forme De Poire - Mvt. 1: Lentement
Oft machen Erinnerungen traurig
Wie ist das mit dem Erinnern? Zum Beispiel bei einem Familien-Fundstück aus dem Keller. Meine Frau meint: „Oft macht die Erinnerung traurig. Nicht nur an den schrecklichen Krieg. Du hast doch erzählt, wie dich dein Großvater in der Schulzeit gequält hat. Ein Fehler bei den Hausaufgaben und du musstest alles noch einmal schreiben. Erinnern macht nicht glücklich. Da ist so viel Ballast dabei. So viel Elend. Das kostet viel Zeit - und Platz im Keller. Wir leben jetzt! Und das möglichst intensiv.“
Das Leben des Großvaters besser verstehen
Ich halte dagegen: „Ja, bei den Erinnerungen ist viel Trauriges dabei. Aber auch das ist wertvoll. Ich sehe dadurch das Leben in einem größeren Horizont. Nehmen wir dieses Eiserne Kreuz. Damit verstehe ich besser, warum er verbittert war. Ich verstehe, wie sich seine Strenge übertragen hat auf seinen Sohn und dann auf mich. Ich denke an die Fotos von ihm in Uniform, als Soldat des Kaisers. Dann verstehe ich, was ihm - und vielen anderen - das Deutsche Kaiserreich bedeutet hat. Das verändert meinen Blick auf ihn. Aber nicht nur auf ihn. Auch auf die Leute, die heute wieder die kaiserliche Reichskriegsflagge schwenken, die sogenannten Reichsbürger. Unter dieser Fahne ist er in den Krieg gezogen – und Millionen andere sind dabei elend verreckt. Das Damals und das Heute haben miteinander zu tun.“
Meine Frau nickt zustimmend und sagt: „Ich finde es auch absurd, dass Leute jetzt wieder diese Reichskriegsflagge schwenken, dass sie den militaristischen Glanz des Kaiserreichs attraktiver finden als unsere freiheitliche Gesellschaft heute. Aber gegen solche Ideen brauchst du gute Argumente und vielleicht gute Dokumentarfilme. Kein Eisernes Kreuz.“ Ich beharre: „Für mich ist dieses Eiserne Kreuz eine Mahnung: Nie wieder Krieg!“
Aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen ist schwer
Meine Frau sagt: „Die Welt ist voller Mahnungen. Es gibt Museen und Filme über die schrecklichen Kriege. Es werden sogar ständig neue gemacht, die den Schrecken noch besser zeigen. Aber das verhindert keine neuen Kriege. Schau dir Russland an: im Zweiten Weltkrieg entsetzlich getroffen und verwüstet. Das hält die russische Regierung nicht davon ab, auf denselben Schlachtfeldern nun selbst einen Krieg anzuzetteln. Aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen ist schwer. Jeder Krieg ist anders – und doch auch gleich.“ Ich denke im Stillen: „Irgendwie hat sie recht.“ Aber in mir sträubt sich etwas dagegen, dieses Eiserne Kreuz einfach wegzuwerfen.
Das Eiserne Kreuz kommt wieder in den Keller
Meistens endet das Gespräch an dieser Stelle. Manchmal werfe ich das Teil, um das es gerade geht, weg. Manchmal, wie im Falle dieses Eisernen Kreuzes, trage ich es still wieder in den Keller. Ich lege es zurück in die Zigarrenschachtel, in der noch das Gürtelschloss aus dem Krieg liegt, mit dem berühmten Slogan darauf „Gott mit uns“ und drei Feldpostbriefe. Meine Frau weiß zum Glück, dass sie da an bestimmten Ecken besser nicht aufräumt.
Man kann das Erinnern unterschiedlich sehen
In diesem Gespräch wird deutlich: Man kann das Erinnern unterschiedlich sehen – und das hat auch mit unterschiedlichen Lebensgefühlen zu tun. Die eine Perspektive fokussiert sich auf das Hier und Jetzt. Bei Dingen aus der Vergangenheit fragt sie: Brauche ich das für Jetzt? Die andere Perspektive sieht das Hier und Jetzt in einem historischen Kontext. Dinge von früher sind ein Teil von heute. Wozu erinnern? Und wie? Das ist auch eine Glaubensfrage, denn der christliche Glaube ist eine große Erinnerungsübung.
Musik: Kay Johannson: „Jesus lebt, mit ihm auch ich“
Erinnern – eine geistliche Kraftquelle des Glaubens
Erinnern – das ist eine geistliche Kraftquelle des Glaubens. Das gilt für Juden und Christen. Sie finden Zuversicht für ihr aktuelles Leben, indem sie sich an das erinnern, was Gott früher getan hat – für die Welt, die Schöpfung, das Volk Israel und alle Menschen. Denn sie wissen: „Was Gott damals tat, das hat bis heute Bestand. Das gilt auch für mich und die kommenden Generationen.“
Geschichte aus der Bibel erinnern an das Handeln Gottes
Deshalb lesen Juden und Christen in der Bibel. Sie enthält viele anschauliche Beispiele, wie Gott handelt. Ein besonders prominentes Beispiel ist die Geschichte vom Exodus. Sie erzählt, wie Gott das Volk Israel aus der der Sklaverei in Ägypten herausführt – in die Freiheit. Daraus folgern Juden, aber auch Christen: „Wenn Gott das Volk Israel damals aus der Knechtschaft befreit hat, dann soll auch ich frei sein.“ Das gibt ihnen Widerstandskraft, sich gegen das zu wehren, was sie unterdrückt.
Gerade an diese Geschichte erinnert die Bibel immer wieder. Damit stärkt sie nicht nur die Sehnsucht nach Freiheit, sie begründet auch, warum es gut ist sich Gott immer neu anvertrauen und die Gebote einzuhalten. (Z.B. Exodus (2. Mose) 20,2) Das soll nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb wird es immer wieder erinnert: zuhause und in den Synagogen, an Feiertagen und in Gottesdiensten.
Christen erinnern sich an die Taten von Jesus Christus, um zuversichtlich in die Zukunft schauen zu können
Sich erinnern: Dies tun auch Christen. Sie stellen dabei Jesus Christus ins Zentrum. Paulus zum Beispiel schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth: „Ich erinnere euch, liebe Schwestern und Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe…: Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden, dass er begraben worden ist, und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage.“ (1.Kor. 15,1ff) Aus dem Leben und dem Sterben von Jesus Christus schöpfen Christen bis heute ihre Zuversicht, die sie ihrerseits im Leben und im Sterben tragen kann.
Die Bibel enthält Geschichten von Gottes Liebe, die heute noch gültig sind
In der Bibel stehen also keine abgeschlossenen Kapitel der Vergangenheit. Sie enthält Belege von Gottes Liebe, die bis heute gültig sind. Inwiefern? Darauf gibt der Apostel Paulus eine Antwort. Man kann sie in diesen drei Ansagen zusammenfassen:
Erstens: Seid fest im Glauben, denn das macht euch mutig und stark.
Zweitens: Lasst euch im Alltag wie Jesus von der Liebe leiten. (1.Kor. 16,13f)
Drittens: Habt keine Angst vor dem Tod, der kann euch nicht verschlingen. (1. Kor. 15,26)
Die Erinnerung an früher prägt also mit, wie Gläubige heute leben und was sie tun. Erinnerung ist ein Stück Gegenwart. Woher kommt die Kraft dieser Erinnerungen? Die Bibel spielt dabei eine wichtige Rolle, aber nicht allein.
Musik: Johann Sebastian Bach: „Ich bin Ein Guter Hirt“, BWV 85 - Aria „Seht, was die Liebe tut“ (Tenor), Text: anonym
Durch die alten Texte werden die Menschen heute noch verwandelt
Die biblischen Texte gewinnen ihre Kraft nicht aus dem Papier, auf dem ihre Buchstaben stehen, sondern durch den Geist Gottes, der sie heute zum Leben erweckt. Wenn das geschieht und die Texte in den heutigen Menschen zum Leben erwachen, dann werden die Menschen verwandelt. Sie werden zu Botschaftern der Liebe Gottes, zu Jüngerinnen und Jüngern Jesu, die heute den Glauben auf ihre Art leben.
Manche Menschen brauchen etwas Konkretes zum Anfasssen, um sich zu erinnern
Manchen reicht das bloße Erinnern nicht. Sie wünschen sich Beweise, etwas Konkretes zum Anfassen. Das war schon zu Jesu Zeiten so. Der Jünger Thomas zum Beispiel, der wollte erst glauben, dass Jesus auferstanden ist, wenn er ihn leibhaftig vor Augen hatte. Er wollte Jesus sogar anfassen, damit eine Einbildung ausgeschlossen wäre. (Johannes 20,25)
Bis heute suchen Menschen nach etwas zum Anfassen, nach Originalen für die biblische Botschaft: Nägel oder Splitter vom Kreuz Christi. Oder den originalen Abendmahlskelch. Oder das Schweißtuch des leidenden Jesus. Oder sie lassen sich in Jerusalem ergreifen von dem Felsspalt, in dem sein Kreuz steckte. Für sie verkörpert der Gegenstand die Botschaft.
Auf dieses Bedürfnis geht die katholische Kirche mit Reliquien ein, mit heiligen Gegenständen. Damit hat die evangelische Kirche gebrochen. Nach ihrem Verständnis kommt es nur auf die innere Haltung an, den Glauben.
Das Abendmahl: Erinnern im Anfassen und Schmecken
Und doch zeigt sich auch im Evangelischem der Glaube nicht nur in den Worten, die erinnert werden. Sondern auch im Anfassen und im Schmecken: im Abendmahl. Dabei werden Brot und Wein gereicht. Sie stehen für Jesu Leib und Blut. Sie stehen für die Nähe Jesu zu denen, die das Abendmahl feiern. Es kann ihnen Mut machen, ihre Hoffnung schüren und die Zuversicht stärken.
Es geht um das lebendige Zeugnis dieses Glaubens heute
Denn darum geht es im christlichen Glauben eigentlich: Nicht um das Aufbewahren von Texten oder Beweisstücken des früheren Glaubens, sondern um das lebendige Zeugnis dieses Glaubens heute. Wenn heute die Zuversicht rar wird, weil Gründe für Optimismus fehlen, dann können Christen zurückgreifen auf die Zeugnisse derer, die sich vor ihnen von Gott getragen wussten – auch in schweren Zeiten.
Durch Erinnern Kraftquellen erschließen
So kann das Erinnern Kraftquellen erschließen, die man aus sich heraus nicht zur Verfügung hätte. Manchmal reichen dafür die Worte und was sie sagen. Manchmal hilft es dabei, etwas anfassen zu können.
Erinnern ist also Selbstzweck
Erinnern ist also kein Selbstzweck, sondern es soll dem Leben hier und jetzt dienen. Dafür nenne ich zum Abschluss zwei Beispiele. Erstens: Ich lese, wie Jesus auf andere Menschen zugegangen ist. Das macht mich das aufmerksamer für den Schmerz der Trauernden und für die Opfer von Gewalt. Und es macht mich skeptisch, wenn Kriege als Lösung für Probleme gesehen werden. Kriege bringen keine Lösungen, die man nicht auch ohne sie finden könnte – und das sogar mit viel weniger Leid und Tod.
Zweitens: Die Bibel erinnert mich an die Liebe Gottes für diese Welt. Das macht mich aufmerksamer für die Schönheit der Schöpfung und für den Wert aller Menschen. Das aktiviert mich, für ihr Wohl einzutreten – und für Frieden.