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Trost in der Musik
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Trost in der Musik

Beate Hirt
Ein Beitrag von Beate Hirt, Senderbeauftragte der katholischen Kirche beim hr, Frankfurt
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Es war eine besondere Beerdigung, bei der ich letzte Woche war. Der Vater einer Freundin war gestorben, mit fast 99 Jahren. Bis zuletzt ein kluger und humorvoller Mensch – und ein sehr musikalischer. Mit über 80 hat er in der Kirche noch die Orgel gespielt. Mit über 90 hat er sich jede Woche mit einem Freund zum vierhändigen Klavierspiel getroffen. Auch seine Kinder und Enkelkinder sind musikalisch, einige haben sogar Gesang und Dirigieren studiert. Und bei der Beerdigung und im Requiem haben sie ihrem Vater und Großvater die Ehre erwiesen und wunderbar Musik gemacht. Die Lieder und die Orgelmusik taten allen gut, die dabei waren. Und mir ist wieder einmal klargeworden: Welch große Rolle spielt die Musik beim Trauern! Sie kann auf ganz besondere Weise trösten. 

Sie gibt mir neue Kraft und Hoffnung

Viele Menschen erinnern sich jetzt im November an ihre Verstorbenen. Auch durch die vielen Gedenktage: Allerheiligen und Allerseelen in der vergangenen Woche, demnächst der Volkstrauertag und dann Ende November der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Menschen gehen auf die Friedhöfe, zünden Kerzen an den Gräbern ihrer Lieben an oder auch zuhause im Wohnzimmer. Auch ich tue das, mein Vater ist im letzten Dezember gestorben, bei der Beerdigung letzte Woche habe ich auch um ihn Tränen vergossen. 

Die Musik ist mir in dieser Trauer ein großer Trost. Sie bringt mich zum Weinen, und zugleich gibt sie auch neue Kraft und Hoffnung. Heute, am ersten Sonntag im November, will ich deswegen in der Morgenfeier über die Musik und ihre heilende Kraft sprechen, und natürlich habe ich auch große Musik mitgebracht, von Bach, Mendelssohn oder Brahms. An den Anfang aber möchte ich einen kleinen gregorianischen Gesang setzen. Auch bei der Beerdigung letzte Woche haben wir ihn gesungen. Er wird angestimmt auf dem Weg zum Grab. „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten“, so beginnt er, manchmal wird er auch auf Latein gesungen. Er geht nämlich zurück auf einen lateinischen Wechselgesang aus dem Mittelalter. In diesem kurzen, schönen Gesang steckt so viel Trauer, aber auch so viel Trost. Es heißt da: „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten, die heiligen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem. Die Chöre der Engel mögen dich empfangen, und durch Christus, der für dich gestorben, soll ewiges Leben dich erfreuen.“ 

Musik 1: Antiphon „In Paradisum“ (CD: Chant. Music for paradise, The Cistercian Monks of Stift Heiligenkreuz, Universal Music Classics, Track 1, ca. 1.20 – 2.00, insgesamt ca. 0.40 min) 

Trauermusik und Erinnerung 

Dieser alte christliche Gesang zur Grablegung: Er hat auch in diverse neuere Requien Eingang gefunden: in das von Maurice Duruflé zum Beispiel oder in das berühmte „War Requiem“ von Benjamin Britten. Es scheint so, als ob beim Trauern und Klagen auch die Verknüpfung mit alten Zeiten hilft. Wir fühlen uns als Trauernde oft so allein und einsam – wer kann unseren Schmerz schon begreifen? Vielleicht hilft es da, sich mit seiner Klage einzuschwingen in die Klagen so vieler Menschen vor mir. Die Trauer um die Toten ist schon immer ein großes Menschheitsthema, und seit jeher ist es auch ein großes Thema in der Musik. Nirgendwo sonst ist die Musik so sehr kulturelles Gedächtnis. Kaum zählen kann man die Vertonungen von Requien und Exequien. Wir treten mit ihnen ein in einen großen Klagechor, der die Menschen über die Jahrhunderte hinweg verbindet in ihrer Trauer um liebe Menschen. 

Auch für mich gehören Requien zu den Musikstücken, die mich am meisten bewegen. Sie zählen -  auch, wenn das vielleicht seltsam klingen mag – zu meinen Lieblingsstücken. Das Requiem von Johannes Brahms zum Beispiel. Ich mag es sehr und habe es schon selbst im Chor gesungen. Es erinnert mich auch an die Menschen, mit denen ich damals zusammen gesungen habe. Zwei gute Chor-Freund:innen zum Beispiel, die mit nicht einmal 50 Jahren an Krebs gestorben sind. Oder auch der alte Herr, den wir letzte Woche zu Grabe getragen haben, auch mit ihm hab ich viele Jahre im Chor gesungen. Wenn ich das Brahms-Requiem höre, dann denke ich an diese Menschen. Ich erinnere ich mich an Begegnungen mit ihnen, ich höre sie wieder singen und reden, all das ist aufgehoben in dieser Musik. Trauermusik ist für mich ganz besonders: Erinnerungsmusik. 

Wir werden uns wiedersehen

Und es ist Erinnerung in mehrfacher Weise: Ich erinnere mich beim Hören auch an die große gemeinsame Hoffnung, die in diesen Trauermusiken steckt. Die Hoffnung darauf, dass niemand im Tod verloren geht. Dass die Verstorbenen in Gott gut aufgehoben sind. Und wir uns einst wiedersehen werden. Ich glaube es wirklich, und manchmal träume ich sogar davon: Nach dem Tod, in einem neuen Leben wird es einen großen Chor geben mit wunderbarem Gesang, der Chor der Engel, der Chor der Auferstandenen, mit allen, die ich jetzt vermisse. Eine große Freude wird das sein. So wie es im Brahms-Requiem mit Versen aus dem Johannesevangelium heißt: „Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen“ (Johannes 16,22). 

Musik 2: „Ihr habt nun Traurigkeit“ aus dem Requiem von Johannes Brahms (CD: Brahms, Ein Deutsches Requiem, Berliner Philharmoniker / Berliner Rundfunkchor, Simon Rattle, Track 5, ca. 4.15 bis Schluss 7.25 – insgesamt ca. 3.10 min ). 

Blick in eine andere Welt 

Das Besondere an solch wunderbarer Trauermusik – wie dem Brahms-Requiem – ist für mich die Verbindung aus Tränen und Trost. Ich kann mich den Tränen hingeben, kann an die Toten denken und den Schmerz zulassen, der dabei aufkommt. Aber ich kann mich von dieser Musik eben auch trösten und heilen lassen. Wie einen seine Mutter tröstet, so tröstet mich Gott – und er tröstet mich vielleicht gerade mittels solcher Musik. Wenn sie vom Moll ins Dur wechselt, wenn sie wunderschöne Melodien hervorbringt, dann klingen auch in meinem Innern neue Töne. Die Hoffnung breitet sich aus, Hoffnung auf Wiedersehen und Wiedersehensfreude. Und diese Hoffnung erreicht eben nicht nur meinen Kopf und Verstand, sie wird nicht nur mit Worten gepredigt – mit solcher Musik rührt sie auch an mein Herz. Da, wo tief drinnen die Trauer sitzt, da kann solche Musik mir Trost spenden. 

Trost geschieht vor allem dadurch, dass die Musik sagt: Es ist nicht alles vorbei mit dem Tod. „Ich will euch wiedersehen.“ Musik wirft einen Blick in eine andere Welt, sie macht mir Hoffnung auf ein neues, anderes Leben. Für die Toten, um die ich trauere, aber auch für mich selbst. Solchen Trost durch die Musik erlebe ich vor allem in Requien, aber nicht nur da. Manchmal spür ich ihn sogar: in Weihnachtsmusik. Wenn ich das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach höre, dann erinnert mich das an eine verstorbene Chorfreundin. Als sie mit nicht einmal 50 an Krebs starb, hat ihre Familie ins Sterbebildchen ein Zitat aus dem Weihnachtsoratorium aufgenommen, einen Choral, den sie sehr geliebt hat: „Ich will dich mit Fleiß bewahren“. Darin heißt es: „Mit dir will ich endlich schweben, voller Freud, ohne Zeit, dort im andern Leben.“ 

Musik 3: Johann Sebastian Bach, Choral „Ich will dich mit Fleiß bewahren“ aus dem Weihnachtsoratorium (CD: Weihnachts-Oratorium, Gächinger Kantorei / Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling, CD 2, Track 10, 1.11 min). 

In Frieden sterben 

Johann Sebastian Bach: Für mich spendet er in seiner Musik Trost wie kaum ein anderer. Immer wieder lädt er mich auch dazu ein, beim Trauern an meinen eigenen Tod zu denken. In jedem Requiem und in jeder Passion, die wir hören, steckt ja dieser Gedanke: Nicht nur dieser Tote da musste sterben. Auch ich werde sterben müssen, irgendwann einmal, auch ich bin vergänglich. Darüber zu sprechen, ist schwierig. Aber davon zu hören oder auch zu singen, das geht besser, finde ich. Wie will ich einmal sterben? Wie werde ich einmal sterben? Das sind Fragen, die Menschen beschäftigen und die wir zugleich oft verdrängen. Bach greift sie auf in der Kirchenkantate „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“. Die Worte gehen zurück auf einen alten Text aus der Bibel. 

 „Nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“, auf Latein „Nunc dimittis“: So beginnt der Lobgesang des Simeon. Im Lukas-Evangelium wird erzählt: Der alte Simeon ist im Tempel, als Maria und Josef den kleinen Jesus hereinbringen. Er nimmt das Kind in seine Arme und ruft aus: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast“ (Lukas-Evangelium 2,30-32). Da kann jemand in Frieden von der Welt gehen, sich friedlich verabschieden. Er hat das erlebt und erreicht, was er wollte, und er geht ohne Groll und Schmerz. Was für eine wohltuende Vorstellung! Die Worte dieses Simeon werden seit vielen Jahrhunderten im Nachtgebet der Kirche, der so genannten Komplet, gesprochen oder gesungen. Für mich steckt in ihnen die tröstliche Botschaft von einer guten Sterbestunde, von einem guten, friedlichen Hinübergehen in eine andere Welt. So wie ich es mir auch für mich selbst wünsche. 

Besonders schön hat diesen biblischen Text auch Felix Mendelssohn-Bartholdy vertont. Hier kommt der Anfang seiner Motette „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren.“ 

Musik 4: aus: Felix Mendelssohn-Bartholdy, Motette „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren“ (CD: Mainzer Figuralchor / Stefan Weiler, Track 4, bis ca. 2.00 min). 

Der Herr ist mein Hirt 

In Frieden scheiden und in Frieden ruhen. Es gibt noch einen weiteren großen biblischen Text, der davon spricht und der wohl am häufigsten bei Beerdigungen gesungen wird. „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir mangeln.“ Psalm 23. Viele Menschen lassen sich von ihm trösten im Leben wie im Sterben. Der alte Herr, den wir letzte Woche zu Grabe getragen haben, hat den ersten Satz aus Psalm 23 auf seinen letzten Brief geschrieben. Er hat in seinem Leben manchen Mangel erleiden müssen, war jahrelang in russischer Kriegsgefangenschaft. Ich glaube: Für einen Menschen mit seiner Lebenserfahrung steckte in diesem Satz ein großes Bekenntnis und eine große Hoffnung: „Nichts wird mir mangeln.“ Denn Gott, so heißt es in dem Psalm weiter, lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. „Er erquicket meine Seele“, heißt es bei Luther weiter. „Meine Lebenskraft bringt er zurück“, steht in der neuen Einheitsübersetzung. Wunderbare Worte über das Leben in Fülle, das uns Gott bereitet, auch nach unserem Tod. 

Ich liebe diesen Psalm 23 sehr, auch die vielen wunderbaren Vertonungen, die es gibt. Vor kurzem bin ich auf eine zeitgenössische Version gestoßen, eine ungewöhnliche, denn Gott wird darin als Frau bezeichnet, „Sie lässt mich ruhen an grünen Auen,“ heißt es da. Vom brillanten Stimmkünstler Bobby McFerrin stammt diese besondere Version. Er hat sie seiner Mutter gewidmet, und auch Gott ist für ihn hier Mutter. Sie schenkt Ruhe und Leben und tröstet, wie es kein anderer kann. 

Musik 5: Bobby McFerrin: The 23rd Psalm (CD: Bobby McFerrin, Medicine Music, Track 12, 3.05 min). 

Gewissheit auf Auferstehung 

Auch in diesem Psalm 23 steckt die Zuversicht: Gott schenkt Lebenskraft. Vor dem Tod und nach dem Tod. Das ist eine Gewissheit, die wir heute kaum mehr so aufbringen können. An ein Leben nach dem Tod glauben nur noch wenige. Und doch ist dieser Glaube etwas, was die Trauer um einen verstorbenen Menschen verändert – und die Trauer über das eigene Sterben-Müssen. Ich zweifle manchmal auch. Ich bin mir nicht immer sicher, dass da wirklich etwas ist am Horizont. Aber meistens glaube ich daran. Und es tut mir gut, bei einer Beerdigung wie in der letzten Woche mit vielen anderen davon zu singen und zu sprechen: Es wird ein Wiedersehen geben, es gibt ein Leben danach. 

Die Hoffnung auf Auferstehung: Auch sie kann ich gerade in der Musik erahnen und spüren. Besonders, wieder einmal, in der Musik von Johann Sebastian Bach. Etwa in seiner h-Moll-Messe im Credo. Bei den Worten „gekreuzigt, gestorben und begraben“ wird die Musik immer trauriger und leiser. Und dann der Umschwung: laut und überschwänglich bricht im Orchester und im Chor der Jubel los: „Et resurrexit“, „er ist auferstanden am dritten Tag:“ Ja, das glaube ich und das tröstet mich: Wie Christus erstanden ist, so werden auch unsere Verstorbenen und so werden auch wir selbst auferstehen.

Musik 6: Johann Sebastian Bach, aus „Crucifixus“ und „Et resurrexit“ aus der Messe in h-Moll (CD: J.S. Bach, Messe in h-Moll, Gächinger Kantorei Stuttgart / Freiburger Barockorchester / Hans-Christoph Rademann, CD 2, Track 5, ca. 1.55 – 3.00, und Track 6, bis Schluss 3.38, insgesamt ca. 4.40 min).

 

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