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Was vom Leben übrig bleibt
Bild: Myriams-Fotos/Pixabay

Was vom Leben übrig bleibt

Dr. Wolfgang Hartmann
Ein Beitrag von Dr. Wolfgang Hartmann, Spiritual im Priesterseminar, Fulda
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An einem der heißen Tage im zurückliegenden Sommer hatte ich in München ein Date, wie wir heute neudeutsch sagen. Ich war bereits einen Tag vorher da, hatte also Zeit für mich bis zum Abend mit Freunden und entschied mich Kurzerhand für einen Besuch in der Alten Pinakothek. Eine angenehme Kühle empfing mich. Draußen auf der Wiese saßen junge Leute beieinander, spielten Spikeball oder dösten in der Sonne. Ich dachte an meine eigene Studienzeit in dieser Stadt. Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Vieles verändert sich. Und Vieles bleibt.
Die Gruppen da unten, nur eben immer neue, sitzen auch morgen und übermorgen noch an derselben Stelle. Als würde dazwischen nichts weiter geschehen. Ein schöner Traum. Im ersten Stock zogen mich wieder die Alten Meister in ihren Bann. Allen voran Peter Paul Rubens und sein Großes Jüngstes Gericht; schon vom Äußeren her sind die Leinwandbahnen mehrfach zusammengenäht, es ist das größte Bild, das Rubens je gemalt hat.
Auf unheimlich dramatische Art hat der Künstler die Scheidung der Menschen nach dem Tod ins Bild gebracht. An der Spitze des Gesamtaufbaus befindet sich der richtende Jesus, zu seiner Rechten die Jungfrau Maria und ihr gegenüber steht Mose mit den Gesetzestafeln in der Hand. Das Ganze atmet in eine kaum zu beschreibende Spannung hinein und überträgt sich sofort auf die Betrachtenden.
Auch wieder auf mich. Die Personen zur Linken halten sich aneinander fest und bewegen sich aufwärts. Zur Rechten stürzen sie in die Tiefe.
Es fällt nicht schwer, in dieser nach oben und unten weisenden Richtung die Gläubigen und Ungläubigen zu erkennen, eine drastische, auf den Punkt gebrachte Weltsicht, die Rubens hier auf für ihn charakteristische Weise unglaublich beeindruckend malerisch in Szene gesetzt hat.

Während des Betrachtens weiterer Bilder ging ich meinen Gedanken nach: Was wird sein nach dem Tod? So oder so oder ganz anders? Wir wissen es nicht. Auch Peter Paul Rubens nicht. Aber er zeigte uns seine Weltsicht. Nach oben und unten, in den Himmel und in die Hölle. Im Gemälde fällt mir auf, dass Rubens nur die Gestalt Jesu Christi in Szene gesetzt hat und nicht die des Widersachers. Beim Hinuntergehen gefiel mir diese Entdeckung!Ich blickte wieder auf die große Wiese hinter dem Gebäude. Es schienen noch mehr Menschen hinzugekommen zu sein. Alle genossen die sommerliche Stimmung. Ich auch. Es ist nicht einfach, sich einzugestehen, dass der Tod zum Leben gehört. Wie das Alpha zum Omega.

Musik: Felix Medelssohn Bartholdy – „Heilig“ – Mendelssohn Bartholdy/Regensburger Domspatzen

Was können wir erwarten? Worauf vielleicht hoffen?

Und nun haben wir November. Die Dunkelheit bestimmt ihn, diesen Monat. Und die Totengedenktage reihen sich nur so aneinander. Wir fragen uns, was wohl mal bleibt von unserem Leben? Was wichtig ist und wirklich zählt von dem, was wir hier so alles veranstaltet haben in diesem Erdenrund? Vielleicht gibt es darauf tatsächlich keine Antwort, sondern immer wieder nur die gleichen Fragen nach dem Leben der Menschen und dem Sinn unseres Tuns.

Sehr berührt hat mich vor einiger Zeit die Gedankenwelt des französischen Philosophen und Dichters Jean Guitton, der sich in seinem Buch „Mein jüngstes Gericht“ auf sehr sensible Weise auch mit dem Sinn unseres Seins auseinandersetzt. Er inszeniert auf fiktiver Ebene die letzten Augenblicke seines Lebens und spricht noch einmal mit jenen Menschen, die ihm wichtig sind, aber auch über die Gründe, warum er an Gott geglaubt und als Christ gelebt hat. Schließlich stirbt er in den Armen Pauls VI.
Bei allem Ernst des Nachdenkens über den Sinn von Leben und Sterben beschreibt Jean Guitton auf ungewöhnlich humorvolle Weise sein eigenes Sterben.
Und dann steht er schließlich am Schluss des Buches vor Jesus Christus. Und es ist der Hl. Petrus, der ihm drei Mal die alles entscheidende Frage stellt: „Jean“, so heißt es im Roman, „hast du dich gegeben?“ Der Dichter gibt keine Antwort mehr. Er schweigt. Und dann steht am Ende des Buches: „Alle Größe war wie ein Berg aus Wachs zerschmolzen.“ Was für ein Satz!

Wo sind wir wirklich bereit, uns zu geben? Und was könnte es sein, das wir zu geben haben? Braucht es dazu eigentlich viel? Genügt es nicht schon, einfach für einen anderen da zu sein, ihm zuzuhören ohne den Umweg über uns selbst, einen Menschen zu fragen, wie es ihm geht? Wenn das alle täten, gäbe es dann nicht ein wunderbares, friedliches Miteinander? Liegt darin nicht die größte Herausforderung unseres Lebens?

Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy – „Richte mich, Gott“ – Cantate Domina/Eichstätter Domchor

Der November bringt Erinnerung und Nostalgie aber auch Hoffnung

In meiner Wohnung versuche ich, es mir in diesen ringsherum dunklen Tagen so gut ich kann erträglich zu machen. Mit der kleinen Lampe am Fenster, einem Satz ausmeinem Lieblingskonzert, einer Tasse Tee und dem gerade wiederentdeckten Fontane. Manchmal gelingt das, aber längst nicht immer. Wenn es gelingt, fühlt es sich nicht ganz so bedrückend an, an Menschen zu denken, die nicht mehr da sind, deren Lächeln fehlt. Erinnern tut gut. Manches liebe Wort, manche Handbewegung ist wieder wie eben gehört und gesehen. Gerade so ein Moment kann der pure Gewinn sein.

Der Theologe Otto Schilling beschreibt das in seinen persönlichen Seligpreisungen so: „Selig, die ihren Nächsten mit den Augen der Liebe ansehen und so auch immer den guten Kern eines jeden entdecken. Selig, die Hoffnung haben, auch wenn sie enttäuscht werden. Selig, die bereit sind, immer wieder anzufangen und den ersten Schritt zu tun. Selig, die das richtige Wort zur rechten Zeit finden. Selig, die den langen Atem der Geduld und Ausdauer haben. Selig, die empfindsam sind und auch die Not hinter den alltäglichen Masken spüren. Selig, die auf echte Verständigung trotz allem und auf Gebet setzen. Selig seid ihr.“ Diese Worte machen Hoffnung. Sie tun gut.

Von einer Krankenschwester las ich neulich einen Bericht, in dem sie davon sprach, dass sie in ihrem Hospizdienst oft Menschen nach dem fragt, was sie sich vom nächsten Tag erhoffen, der noch vor ihnen liegt, und von Menschen, die ihnen nahe sind.
Auch wenn es Zeiten gibt, die es mehr als schwer machen, überhaupt zu antworten, bin ich dennoch der tiefen Überzeugung, dass der Glaube an Gott uns immer dann besonders helfen kann, wenn es um Hoffnung geht. Denn nicht ohne Grund klammern wir Menschen uns an diese Hoffnung ja bis zuletzt, und – darüber hinaus …

Musik: Charles Villiers Stanford – „Beati quorum via“ – Cantate Domino/Eichstätter Domchor

Tut der Gedanke nicht gut, dass Gott selbst, wie wir glauben, Hoffnung hat für uns Menschen? Wir alle haben es in der Hand, immer wieder neu anzufangen, ganz gleich, was vorher war. Gibt uns Gott nicht immer wieder jede Möglichkeit? Was hätte denn sonst der bald beginnende Advent für einen Sinn? Wir feiern in der katholischen Kirche heute den Christkönigsonntag. Dabei steht nicht so sehr die Erinnerung an alle jene im Vordergrund, die nicht mehr bei uns sind, sondern das Kommen unseres Herrn am Ede der Zeit. Wir hören im Evangelium, dass Jesus Christus die Menschen je nach dem voneinander scheidet, wie sie gelebt haben, ohne ihnen die Hoffnung zu nehmen.

Und noch einmal kommt mir das so eindrucksvolle Große Jüngste Gericht von Rubens in den Sinn, das mich in der Pinakothek so in den Bann gezogen hatte. Und ich war damals schon lange wieder zu Hause, da las ich in einer dazugehörenden Bildbeschreibung, dass sich Christus zwar den guten Menschen zuwendet und sie ins Paradies einlädt, dass er aber die sogenannten Verdammten nicht zurückstößt. Vielmehr wird er, so wie ihn Rubens dargestellt hat, als sehr menschlich und zart beschrieben.

Wir finden Licht hinter der Dunkelheit und Hoffnung nach der Trauer

Das ist eine besonders schöne Beschreibung. Sie ist einfach tröstlich. Schon die Darstellung bei meinem Besuch im Sommer hatte mich ja sehr beeindruckt. Ich konnte das damals vielleicht nicht so benennen, aber heute finde ich diese Hoffnung gebende Interpretation des Bildes wirklich trostvoll. Und vielleicht habe ich es irgendwie gespürt, dass da noch mehr ist als nur Dunkelheit und Schrecken. Der große Rubens hat mit Sicherheit nicht nur diesen Schrecken malen wollen, sondern das große Ganze erlebten Lebens …

Manchmal brauchen wir auch die andere, nicht so belastende Wahrnehmung. Die Hoffnung ist doch ohnehin schon da! Wir glauben, dass Gott uns immer in seinem Blick hat. Mit einem Lächeln bestehend aus Hoffnung und Zuversicht. Allen Unkenrufen zum Trotz! Einfach liebevoll. Und menschlich. Und zart. Als läge er mit auf der Wiese vor der Pinakothek in München. Mitten unter den lachenden anderen. Die Spikeball spielen und sich über Gott und die Welt unterhalten. Alles unter einem Himmel. Unter seinem!

Ich wünsche Ihnen von Herzen einen tröstlichen Sonntag.

Musik: Anton Bruckner – „Os justi“ – Cantate Domino/Eichstätter Domchor

Musikauswahl: Regionalkantor Oskar Roithmeier, Marburg

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