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Kleine Geste – große Wirkung? Der Heilige Martin und die Mantelteilung
Bild: BO MZ-Sven Herget

Kleine Geste – große Wirkung? Der Heilige Martin und die Mantelteilung

Dr. Udo Markus Bentz
Ein Beitrag von Dr. Udo Markus Bentz, Erzbischof des Erzbistums Paderborn
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Der Kniefall von Willy Brandt 1970 in Warschau: eine Geste, ein Bild, das sich – ich glaube, das kann man so sagen – in das kollektive Gedächtnis in Polen und bei uns in Deutschland eingeprägt hat. Diese Geste steht seither für die Anerkennung der Schuld von uns Deutschen für die Gräuel am polnischen Volk im Nationalsozialismus. Ein anderes Bild: Helmut Kohl und Francois Mitterand halten einander die Hand 1984 auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie. Auch dieses Bild hat sich eingeprägt. Diese Geste steht für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und die deutsch-französische Freundschaft. 

Hoffnung auf Aussöhnung und Frieden

Wie oft kam mir gerade in den letzten Wochen – seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel – ein anderes Bild in den Sinn, das ähnlich symbolträchtig ist: der Handschlag im Jahr 2000 zwischen dem damaligen Anführer der PLO Jassir Arafat und dem israelischen Premierminister Ehud Barak in den USA auf Camp David. Präsidenten Clinton hatte diese Begegnung als Friedensinitiative für den Nahen Osten ermöglicht. Wie groß war damals die Hoffnung auf Aussöhnung und Frieden und wie ernüchternd die weitere geschichtliche Entwicklung mit immer neuen Krisen und Gewaltausbrüchen. 

Sie sind so symbolträchtig

Es gibt Gesten, die schreiben Geschichte. Solche Gesten bringen Hoffnungen und Botschaften derart auf den Punkt, wie es Worte nicht können. Sie sind so symbolträchtig, dass es eigentlich keiner Erklärung mehr bedarf. Sind die Wirkungen solcher Gesten „nachhaltig“? Zumindest halten solche – fast schon ikonographischen – Gesten die Erinnerung an einen Anspruch wach: den Anspruch, zur eigenen Schuld zu stehen und um Versöhnung zu bitten, wie beim Kniefall von Willy Brandt; den Anspruch eines festen Freundschaftsbundes wie bei Kohl und Mitterand; den Anspruch auf Aussöhnung und gegenseitige Anerkennung des Existenzrechtes wie bei Arafat und Barak. 

Es bedarf keiner wortreichen Erklärung

Solche ikonographischen Gesten wie im politischen Bereich gibt es auch in der Geschichte des Christentums: die Fußwaschung Jesu zum Beispiel braucht keine wortreiche Erklärung, um ihren Anspruch auch für die Gegenwart deutlich zu machen. Jesus, der Meister, geht beim letzten Abendmahl vor seinen Jüngern in die Knie und wäscht ihnen die Füße. Papst Franziskus greift auf diese ikonographische Geste immer wieder zurück. Eine andere, vergleichsweise symbolträchtige Geste rückt alljährlich bei uns im Umfeld um den 11. November – dem Martinstag – wieder neu ins Bewusstsein: Martin, ein römischer Soldat, sieht am Stadttor von Amiens einen frierenden Bettler. Er teilt mit seinem Schwert den Soldatenmantel und gibt dem Bettler die Hälfte.  Viel Brauchtum hat sich rund um diese Geste und den Martinstag entwickelt: Kinder ziehen mit Laternen und Martinsliedern durch die Straßen, oft ist bei den Umzügen ein Pferd dabei, auf dem ein als römischer Soldat verkleideter Reiter sitzt, mancherorts gibt es ein eigens dafür gebackenes, süßes Martinsbrot.  Und für viele gehört auch die Martinsgans kulinarisch in diese Tage. All das geht zurück auf die Geste eines römischen Soldaten im Jahr 334 im französischen Amiens. Martin teilt den Mantel: An diese Geste wird heute noch erinnert. Sie hat eine ungeheure Wirkungsgeschichte entfaltet. 

So kennt man das

Musik 1: Jaques Ibert: Aus „Trois pièces brèves“ Nr. 2: Andante (01:52), Domus Quintett 

Martin und die Mantelteilung – eine Geste mit ungeheurer Wirkungsgeschichte. In unzähligen Variationen hat die Kunst diesen Augenblick konkreter Solidarität wiedergegeben – die „Charité von Amiens“, wie man auch sagt. Martin auf dem Pferd. Der Bettler am Boden. So kennt man das. Es geht um Barmherzigkeit. Es geht um eine konkret gelebte Solidarität. 

Da gibt es kein Pferd zu sehen

Dabei ist diese Form der Darstellung eine recht späte Ausdrucksweise des Mittelalters. Das Pferd war ein Attribut einer noblen, vornehmen und reichen, auch einer mächtigen Gesellschaftsschicht. Wer sich ein Pferd leisten konnte, der war jemand. Für die mittelalterliche Gesellschaft, die streng in hierarchischen Ständen gegliedert war und in der die Ritter einen enormen Einfluss hatten, war die Mantelteilung eine „ritterliche Geste“. Selbst die Barmherzigkeit hatte ein Gefälle „von oben nach unten“. Als ich mich mit der Geschichte der bildlichen Darstellung der Mantelteilung genauer beschäftigt habe, war ich überrascht festzustellen: Die frühen Bilder der Mantelteilung waren ganz anders: Die wahrscheinlich älteste Darstellung stammt aus dem 10. Jahrhundert. Da gibt es kein Pferd zu sehen. Der Bettler liegt auch nicht am Boden. Und Martin sitzt nicht hoch zu Ross. Die beiden stehen sich – im wahrsten Sinne des Wortes – auf Augenhöhe einander gegenüber. Sie schauen einander an. Der Mantel wird von beiden gehalten. Der Bettler steht aufrecht und strahlt Würde aus. 

Was für ein Gegensatz und wie anders die Botschaft

Auf einem anderen frühen Bild der Mantelteilung – aus Spanien – sitzt Martin zwar auf seinem Pferd, aber der Bettler steht aufrecht und ist sogar größer (!) dargestellt als Martin hoch zu Ross, so dass auch hier wieder „Augenhöhe“ hergestellt ist. Und eine weitere Steigerung dieser Umkehr der Verhältnisse findet sich auf einer Darstellung der Mantelteilung in der Kirche in Zillis in der Schweiz. Auf diesem Bild steht das Pferd in einer Ecke. Martin verzichtet auf dieses Zeichen seiner Würde. Er steht vor dem Bettler. Der aber sitzt – und zwar auf einem Thron! Hier ist der Bettler mit einem besonderen Zeichen der Würde ausgestattet. Was für ein Gegensatz zu den Darstellungen des späten Mittelalters mit dem vornehmen Ritter und dem verschwindend kleinen Bettler am Boden. Und wie anders die Botschaft dahinter! 

Musik 2: Peter Krausch (Arr.): Selig seid ihr (01:39), Amen-Singers, Bingen + Band aus Studierenden der Musikhochschule Mainz 

Es geht um den Menschen in Not

Die gleiche Geste der Mantelteilung. Aber wie verschieden können der heilige Martin und der Bettler dargestellt werden. Mal ereignet sich diese Solidaritätsgeste von oben, vom Pferd herab – und mal auf Augenhöhe, einander gegenüberstehend. Ich finde: Das macht einen großen Unterschied für die Botschaft dahinter! Es geht nicht zuerst um die mehr oder weniger noble Geste des Martin. Es geht zunächst einmal um den Menschen in Not. Es geht nicht um ein gnädiges Erbarmen „aus der besseren Position“ heraus, sondern es geht zuerst um die Frage: Wie nehme ich den Menschen in Not wahr? 

„Selig, die arm sind vor Gott!“

Und hier kommt der Kern der christlichen Botschaft ins Spiel. Der Bettler ist nicht „der arme Kerl“, dessen man sich halt erbarmt. Der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens und der Botschaft Jesu heißt: Alle Menschen haben als Geschöpfe Gottes eine unantastbare Würde von Gott ihrem Schöpfer her. Nicht wir gestehen einander mehr oder weniger Würde zu. Die Würde hat jeder und jede aus sich. Und die biblische Botschaft spitzt dies noch zu, wenn Jesus in seiner Bergpredigt sagt: „Selig, die arm sind vor Gott!“ Da geht es nicht um eine falsche, ja vielleicht schon zynische Glorifizierung von Armut und Bedürftigkeit. Sondern es geht um die pointierte Überzeugung, die den christlichen Glauben und das Handeln daraus prägt: keine noch so elenden Umstände, keine noch so erbärmliche Situation nimmt dem Menschen seine Würde.

Augenhöhe herstellen...und einander begegnen!

Auch wenn durch äußere Not die Würde des Menschen verstellt zu sein scheint: Als Christ handle ich nicht solidarisch, weil ich so „edel und gut“ und so „ritterlich“ bin, sondern ich handle solidarisch aus dem Anspruch heraus, gerade und besonders den Bedürftigen um ihrer Würde wegen Ansehen zu geben! Im Bild gesprochen: Runter vom Pferd! Augenhöhe herstellen! Einander gegenüberstehen! Einander begegnen! 

Eine der frühesten Biographien des Heiligen Martin erzählt von dieser Begegnung zwischen Martin und dem Bettler. Da heißt es: „Einmal begegnete Martin am Stadttor von Amiens ein notdürftig bekleideter Armer. Der flehte die Vorübergehenden um Erbarmen an. Aber alle gingen an dem Unglücklichen vorbei.“ Ausdrücklich heißt es, viele seien achtlos an diesem Bettler vorüber gegangen. Martin war der Einzige, der stehengeblieben ist. In der Geste der Mantelteilung steckt auch diese Botschaft: Wo andere wegsehen, vorübergehen und übersehen – dort braucht es Menschen, die hinsehen, stehenbleiben und den Bedürftigen ansehen! 

Ein großes Zeichen von Menschlichkeit

Martin ist sensibel genug, diese konkrete „Lücke der Mitmenschlichkeit“ zu erkennen. Die Geste der Mantelteilung ist für mich daher auch Inspiration und Anspruch, sensibel und wachsam auf mein Umfeld zu schauen und mir selbst die Frage zu stellen: Wo sind Menschen, die gerade meine Hilfe brauchen? Die in körperlicher oder seelischer Not sind? 

Als Christ glaube ich: Gott ist barmherzig und menschenfreundlich. Und auch Jesus war das, der in der Bergpredigt gesagt: Selig, die arm sind vor Gott. Zum Christsein gehört für mich deswegen diese Achtsamkeit. Und ich erlebe und schätze solch eine Sensibilität für die Nöte anderer auch bei Menschen, die anders glauben als ich. Die Lücken der Menschlichkeit wahrnehmen, ist ein großes Zeichen von Menschlichkeit. 

Es gibt sie oft, solche Alltagssituationen

Das ist nicht immer einfach, denn meine Erfahrung sagt mir: Not und Bedürftigkeit sind selten so offenkundig. Menschen verstecken sich oft mit ihrer Bedürftigkeit. Sie schämen sich. Wollen anderen nicht zur Last fallen. Ich muss bereit sein, genauer hinzuschauen: auf die Kollegin, die sich mehr und mehr zurückzieht; auf die Zeit, die ich mir nehmen müsste für einen längst fälligen Besuch bei jemand, der auf mich wartet; auf denjenigen, der sich durch mein Handeln verletzt fühlt, ich habe das aber vielleicht noch gar nicht gemerkt. Es gibt oft solche Alltagssituationen, an denen ich achtlos vorübergehe, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin. Die Geste der Mantelteilung bleibt da „ein Stachel im Fleisch“ meiner oft mangelnden Achtsamkeit. 

Musik 3: Erwin Schulhoff: Sonata for Solo Violin (01:42), Daniel Hope 

Ein neues Leitbild, eine Art "Vision"

Die Geste der Mantelteilung hat eine inspirierende Kraft auch heute. Das erleben wir auch im Bistum Mainz seit einigen Jahren. Der Heilige Martin ist der Patron des Bistums. Er inspiriert uns mit seiner Geste des Teilens zu Überlegungen, wie wir als Bistum Mainz Kirche von heute in der Gegenwart sein wollen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie produktiv und ideenanregend diese Geste des Teilens in den vielen Gesprächen in den Gemeinden und auf Bistumsebene ist. Gerade arbeiten wir an einem neuen Leitbild, einer Art „Vision“. Allein die Überschriften können einen guten Eindruck davon vermitteln, wozu uns die Geste der Mantelteilung inspiriert. Ein paar Ideen dazu möchte ich gerne mit ihnen teilen: 

Menschen in schwierigen Lebenssituationen stärken

Da heißt es: „Wir teilen die Vielfalt des Lebens.“ Als Christen wollen wir nicht für uns selbst in einem abgeschlossenen Milieu Kirche sein. Wir verstehen uns als Gemeinschaft, die mit allen Menschen in ihren Höhen und Tiefen unterwegs sein wollen. Wir wollen Menschen in schwierigen Lebenssituationen stärken. Uns leitet die Überzeugung, die Vielfalt des Lebens zu teilen, unsere vielfältige Gesellschaft und Kultur mitzugestalten. Und dabei wird uns klar, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Die Geste der Mantelteilung ist für die Kirche schon ein ganz konkreter Stachel im Fleisch und provoziert die Frage: Wie sehr sind wir bereit und fähig, Vielfalt nicht als Bedrohung unsrer Identität zu sehen, sondern als Bereicherung und Geschenk ganz konkret in unseren Gemeinden zu leben?  

Das Teilen von Verantwortung

Oder noch in einer anderen Hinsicht hat uns die Geste des Teilens inspiriert. Da heißt es nämlich: Wir teilen Verantwortung. Die Frage nach der Macht in der Kirche ist allgegenwärtig und virulent. Das bisherige Machtgefüge in unsrer Kirche ist für viele eine Zumutung und löst viel Frust aus. Die Menschen in den Gemeinden erwarten von uns mehr Partizipation und Teilhabe. Auch da ist die Geste des Teilens des Heiligen Martin ein Stachel im Fleisch:  In unserer Vision als Bistum Mainz wird daher der Anspruch formuliert: Wir wollen auf allen Ebenen Macht teilen und möglichst viele Menschen an Entscheidungsprozessen beteiligen. Leitung wollen wir kooperativ ausüben und so zu einer neuen Kultur des Umgangs miteinander kommen. Ich weiß: Die Skepsis ist groß, ob aus all dem Wollen und den Visionen auch Taten folgen. Für mich, der ich in der Leitung bin, ist die Geste des Teilens auch ein Anspruch. An ihm will ich mich messen lassen, wenn es um das Teilen von Verantwortung geht. 

Viele spüren hier den "Stachel im Fleisch"

Noch in einer weiteren Hinsicht zeigt sich, wie inspirierend die Geste des Teilens nicht nur für uns als Bistum Mainz sein kann. Auch für andere Gemeinschafen oder Vereine kann das eine Perspektive sein: Auch Ressourcen wollen und müssen wir miteinander teilen. Die finanziellen Ressourcen der Kirche werden immer weniger. Wie gehen wir mit unseren materiellen Ressourcen um, wie teilen wir das, was wir noch haben, gerecht? Das ist schwierig und führt zu Konflikten, wenn es um Spar- und Strukturprozesse in den Gemeinden und Einrichtungen des Bistums geht. Hier spüren viele den „Stachel im Fleisch“, der sich mit der Geste der Mantelteilung des Heiligen Martin verbindet, besonders schmerzhaft. Aber nicht nur die finanziellen, sondern auch die wertvollen Ressourcen ehrenamtlichen Engagements gehen zurück. Deshalb geht es auch um menschliche Ressourcen: Wer kann wo mitarbeiten? 

Eine Geste mit einer starken Botschaft

Wie fördern und schätzen wir Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren? Genauso wie aufs Geld ist ja Kirche – und ist jede Gemeinschaft – auf Menschen angewiesen, die ihre Zeit, ihre Fähigkeiten einbringen und miteinander teilen. Wie wertvoll ist es, wenn Menschen das tun – wenn sie sehen, wo sie gebraucht werden, und anpacken und Aufgaben und Ehrenamt teilen. 

Rund siebzehnhundert Jahre sind es her, seit Martin am Stadttor von Amiens seinen Soldatenmantel mit einem Bettler geteilt hat. Es bleibt eine Geste mit einer starken Botschaft, die sich durch all die Generationen hindurch den Menschen in ihre Erinnerung eingeprägt hat. Diese Geste des Teilens hat nichts an inspirierender Kraft verloren. 

Musik 4: Jacob Beimel: Sabbath Meditation (03:28 ggf. fade out), Thomas Drescher 

(Musikauswahl: Thomas Drescher, Mainz)

 

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