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Wer bin ich – und was ist meine Lebensaufgabe? Eine lebenslange Frage, auch für Jesus
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Wer bin ich – und was ist meine Lebensaufgabe? Eine lebenslange Frage, auch für Jesus

Martina Patenge
Ein Beitrag von Martina Patenge, Katholische Referentin für Glaubensvertiefung und Spiritualität, Kardinal-Volk-Haus Bingen
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Mein dreijähriger Enkel kann was Neues: Er kann „ich“ sagen. Und wie! „Ich will…“ und „Ich möchte nicht“ - so geht es den lieben langen Tag. So weit, so normal. Es ist ja die Phase der Ich-Findung. Und das ist ein großer Schritt. 

Lange hat mein Enkel von sich in der dritten Person gesprochen. Und jetzt sagt er: Ich! Wir merken, dass sich etwas geändert hat. Er nimmt sich deutlich als Person wahr mit einem eigenen Willen und eigenen Wünschen. Begeistert zählt er auf, was zu ihm gehört. „Ich hab Finger und Füße und Hände und eine Nase…. Ich hab die Schuhe allein angezogen… Schaut her, das alles bin ‚ich‘!“ Und weil das so wichtig ist, wird es häufig wiederholt. Wie beim Vokabellernen. Und wir Großen bestätigen, was er alles kann und ist. Damit das Kind sein Ich festigt, braucht es andere als Spiegel. 

 

Und was wird jetzt mein Auftrag?

Der Kleine hat einen sehr wichtigen Abschnitt in seinem Leben erreicht. Selbsterkenntnis und Reflexion markieren das menschliche Bewusstsein – im Unterschied zu den Tieren. Damit beginnt das spannende Abenteuer der Frage nach dem Selbst. Die dauert bei den meisten Menschen ein Leben lang an. Klar, die meisten Facetten meiner selbst habe ich irgendwann gefunden. Dennoch ist niemand je fertig mit der Frage: Wer bin ich? Wer bin ich wirklich? Sie wird vor allem dann laut, wenn sich etwas Bedeutendes im Leben ändert. 

Zuletzt ist mir das mit meinem Eintritt in den Ruhestand passiert. Da war sie auf einmal wieder ganz laut, diese Frage: Wer bin ich denn jetzt – ohne meinen Beruf? Und sie verbindet sich mit einer neuen Frage: Und was wird jetzt mein Auftrag?

Um das herauszufinden, brauche ich meine eigene Zeit. Ich muss mich in der neuen Lebenssituation erleben. Vor allem aber brauche ich die Rückmeldung von Familie und Freundinnen. Sie spiegeln wider, was sie wahrnehmen. Hat sich etwas verändert – und wenn ja: was? Es hilft mir, dass sie die ganze Irritation mit mir aushalten. Was neu ist, wird sich zurechtruckeln. Auf dem weiteren Reifungsweg meines „Ich“. 

 

Christus, Sohn des lebendigen Gottes!

In den katholischen Gottesdiensten steht heute ein biblischer Text im Mittelpunkt, der genau das zum Thema hat. Offensichtlich hat auch Jesus die Frage mit sich herumgeschleppt: Wer bin ich eigentlich – und was ist mein Auftrag?

Und so lautet die ganze Erzählung:

„Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger und sprach: Für wen halten die Menschen den Menschensohn? Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten.

Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortet und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!

Jesus antwortete und sagte zu ihm: Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein. Und er befahl den Jüngern, niemand zu sagen, dass er der Christus sei.“ (Mt 16,13 - 20) 

 

Musik 1: Johannes Brahms, Präludium a-moll für Orgel, Klangfenster

Sie hören ihm erleichtert zu

Ja, für wen halten die Menschen den Menschensohn? So fragt Jesus seine Jüngerinnen und Jünger in einer Erzählung aus der Bibel. 

Jesus bezeichnet sich selbst als „Menschensohn“. Damit greift er den Namen einer Rettergestalt auf, die in den alten Schriften der Bibel immer wieder auftaucht – der Menschensohn, der Gott ganz nah ist. Eigenartig ist: Wenn Jesus von sich als Menschensohn spricht, sagt er nie „ich“, er spricht von sich immer wie distanziert als „der Menschensohn“. Offensichtlich hat er sich mit der Rolle dieser Rettergestalt identifiziert – einerseits. Und andererseits sucht er eine Art von Distanz zu bewahren. Seine Aufgabe versteht er darin, das Volk Israel zu retten.  Er tut dies in enger Verbindung mit Gott. Aber es ist eben auch eine sehr große Aufgabe. 

Ich versuche mit das vorzustellen: Wie Jesus in seinem Herzen einen Auftrag verspürt, der sich so allmählich entfaltet, als er ungefähr mit 30 Jahren plötzlich an die Öffentlichkeit tritt. Wie es ihn vermutlich selbst immer wieder überrascht, was da für Kräfte in ihm wirken, die ihn drängen zu heilen und zu predigen. Die Erwartungen der Menschen an Jesus sind sehr unterschiedlich, und sie sind groß. Die Leute kommen mit ihren Kranken von weither, weil sie gehört haben, dass er Kranke heilt. Sie laufen ihm nach, weil er gut predigen kann. Sie hören ihm erleichtert zu, weil er ihnen Möglichkeiten aufzeigt, wie sie mit den strengen jüdischen Gesetzen besser umgehen können. Und wenn sie erschöpft und hungrig nach einem langen Tag der Begegnung mit ihm auf dem Boden sitzen, sorgt Jesus dafür, dass sie zu essen bekommen. 

Wie soll man diesen Mann einschätzen?

Viele werden vermutlich auch dafür dankbar gewesen sein, dass er ständig mit den Schriftgelehrten gestritten hat, die den einfachen Menschen oft das Leben schwer gemacht haben. Diese haben ja alles versucht, um ihn aufs Glatteis zu führen. Aber in den Disputen behielt er immer die Oberhand. So hat Jesus das allzu sichere Auftreten der Schriftgelehrten in Frage gestellt. Das war auch für die Umstehenden wichtig.

Jesus scheint eine natürliche Autorität gehabt zu haben. Von Zweifeln über sich selbst und seine Rolle berichtet die Bibel erst mal gar nichts. 

Aber nun braucht er offensichtlich so etwas wie eine Standortbestimmung. Das ist ja auch verständlich. Der ursprüngliche Handwerker aus Nazareth ist immer mehr ein Wanderprediger geworden, getrieben von einer inneren Stimme. Mit einer Gruppe Jüngerinnen und Jünger zieht Jesus kreuz und quer durchs Land und macht von sich reden. Auch ohne social media und Internet entsteht ein riesiger Hype um Jesus von Nazareth. Und vermutlich auch viel Unruhe: Wie soll man diesen Mann einschätzen? Was hat der für besondere Kräfte? Und woher kommt diese Autorität? Für mich ist es kein Wunder, dass Jesus sich irgendwann selbst fragt: Was mache ich da eigentlich? 

Mehr als ein Prophet und Umkehrprediger

Musik 2: Johannes Brahms, Andante con moto (aus den Haydn-Variationen op. 56), Brahms/Reger/Ives/Schuman

Jesus will von seinen Jüngerinnen und Jüngern wissen, für wen die Leute ihn halten. 

„Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Mt 16,14-15) 

Simon Petrus ist so etwas wie der Klassensprecher der Jüngerinnen und Jünger. Über ihn heißt es, er sei Fischer gewesen – Jesus selbst hatte ihn aufgefordert, sich ihm als Schüler und Begleiter anzuschließen. Auf den Mund gefallen ist dieser Simon Petrus nicht. Manchmal, wie hier, sagt er genau das Richtige. Er weiß, dass Jesus der Christus ist, der Gesalbte Gottes, der Sohn Gottes. Mit diesen Namen wird ausgedrückt: Jesus ist Gott sehr nah. Mit Jesus hat etwas vom Heil angefangen, das Gott für die Menschen will. Nicht in ferner Zukunft, sondern jetzt. Das ist entscheidend.

Aber ich wundere mich auch nicht, dass Simon Petrus den richtigen Namen für Jesus findet. Immerhin hat er schon eine ganze Zeitlang hautnah mitbekommen, wie dieser Jesus ist. Er hat verstanden, dass Jesus mehr ist als ein Prophet. Mehr als ein Umkehrprediger. Und mehr als einer, der auf das Kommen des Messias hinweist. Deshalb kann Simon Petrus spontan und ohne einen Moment Nachdenken sagen: Du bist Christus, der Sohn Gottes. 

So wenig perfekt, wie die Menschen sind 

Diese Erzählung im Matthäusevangelium ist spannend komponiert – weil sowohl Simon dem Jesus seinen Namen zuspricht – wie auch Jesus dem Simon, wenn er zu ihm sagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen…“ (Mt 16,18). Das ist ein schönes Wortspiel, denn der Name Petrus bedeutet wörtlich: Stein, Felsen.

Ausgerechnet Simon Petrus wird der Felsen der später entstehenden Kirche, kann man da nur sagen. Der hat öfter den Mund voll genommen – und dann klein beigeben müssen. Als Jesus hingerichtet werden soll, hat Simon Petrus Todesangst. Er lügt, um nicht selbst getötet zu werden. Die Kirche gründet also auf einem höchst unperfekten und eher wankelmütigen Menschen. Aber das finde ich großartig. Denn wenn es schon so anfängt, dann ist in der Kirche Platz für alle. So wenig perfekt, wie die Menschen sind. 

Was ist denn das für eine Frage?

Leider hat die Kirche in ihrer langen Geschichte dieses Bewusstsein oft nicht durchgehalten. Sie hat von ihren Gläubigen und Mitarbeitenden scheinbar fehlerlose Lebensläufe gefordert. Und wurde oft unbarmherzig – mit Angst und Doppelmoral als Folgen. Papst Franziskus sagt allerdings, ihm ist eine verbeulte Kirche lieber als eine scheinbar perfekte, die nur um sich selbst kreist und Menschen ausschließt.

Das Bild von der verbeulten Kirche gefällt mir sehr gut – in dieser Kirche ist Platz für uns fehlerhafte Menschen.

Nicht legitimiert sind durch dieses Bild allerdings schwere Vergehen wie der geistliche und sexuelle Missbrauch. Sie bleiben, was sie sind: Straftaten gegen die Selbstbestimmung und Unverletzlichkeit von Menschen. Eine verbeulte Kirche legitimiert auch nicht, Frauen oder Minderheiten zu diskriminieren.

 

Musik 3: Dimitry Shostakovic, Präludium G-Dur für Klavier (aus: 24 Präludien und Fugen für Klavier op. 34)

 

Und ihr, für wen haltet ihr mich? Diese Frage von Jesus an seine Jüngerinnen und Jünger ist eine Frage an alle Glaubenden. Ich stelle sie mir selbst immer wieder. Und ich stelle diese Frage anderen in der geistlichen Begleitung. Wer ist Jesus für Sie – persönlich?

Manchmal stutzt mein Gegenüber erst einmal. Was ist denn das für eine Frage? Und sucht dann nach einer Antwort.

Wer Jesus ist – da gibt es unendlich viele Bilder und Ideen. 

 

Da lässt Jesus nicht locker 

Für manche ist Jesus vor allem der Sozialrevolutionär. Einer, der die Verhältnisse auf den Kopf gestellt hat. Die gesellschaftlichen Zustände im damaligen Volk Israel wollte er gar nicht ändern.  Aber wenn er verachteten Frauen ihre Würde wieder zurückgibt – wenn er Schwerkranke heilt, so dass sie wieder zur Gemeinschaft dazugehören - wenn er unablässig Gerechtigkeit und Frieden einfordert, dann rüttelt das an sozialen Missständen.

Er verlangt Frieden und Gerechtigkeit. Damit muss jeder Mensch bei sich selbst anfangen. Da lässt Jesus nicht locker.

Wieder andere sehen in ihm vor allem den Wundertäter. Er hat ein Herz für die Schwachen, Hilflosen und alle, die besonderen Trost brauchen.

Manche erkennen in Jesus einen Propheten. Weil er davon spricht, dass das Gottesreich kommen wird. Weil er sagt, dass es mit ihm bereits begonnen hat.

Jesus ist auch der Meister, der die heiligen Schriften kennt, mit und aus ihnen lebt. Er legt sie teilweise so erfrischend anders aus als die damaligen Schriftgelehrten.

Jesus ist der Freund, der seinen Freundinnen und Freunden verspricht: Ihr werdet ein fruchtbares Leben haben, wenn ihr mit mir verbunden bleibt – wie ich mit Gott verbunden bin. 

 

Der Tod hat nicht das letzte Wort

Andere verstehen Jesus als den Sohn Gottes, als den guten Hirten, die Tür, den Weinstock, den Weg, die Wahrheit und das Leben….

Jesus ist der Gemarterte, der am Kreuz sterben musste. Schwer belastete und leidende Menschen tröstet das oft, weil sie sich in ihrem Leid mit seinem Leid verbunden fühlen. Schließlich ist er Jesus Christus, der Auferstandene. Gott hat sich ihm besonders zugewandt – damit die, die an Christus glauben, bis heute verstehen: Der Tod hat nicht das letzte Wort – bei Gott gibt es neues Leben. Und Jesus ist der, der im eucharistischen Brot begegnet, hautnah, stärkend, verwandelnd. 

 

Für die, die an ihn glauben, ist Jesus dies alles und noch viel mehr. Im Idealfall hat jeder Christ und jede Christin eine eigene Jesusgeschichte im Herzen. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft.

 

Musik 4: Johann Seb. Bach, Choral „Jesu meine Freude“ (aus Motette „Jesu, meine Freude“ BWV 227)

Aber warum denn nicht?

Die biblische Erzählung, die heute in den katholischen Gottesdiensten verlesen wird, endet mit einem doch sehr ungewöhnlichen Befehl Jesu: „Dann befahl er den Jüngern, niemandem zu sagen, dass er der Christus sei.“ (Mt 16,20) 

Ja, was soll das denn bedeuten? Einerseits tritt Jesus öffentlich auf, spricht von seinem Gott und deutet auf seinen Gott. Andererseits aber sollen die Leute nicht wissen, dass er der Christus, der Gesalbte Gottes ist.

Aber warum denn nicht?

Ich brauche eine Weile, bis ich mögliche Gründe ahne. Jesus sagt dies möglicherweise, um sich zu schützen. Denn wir Menschen neigen dazu, andere zu bewundern, dabei unkritisch zu werden und die Personen dann zu vergöttern. Wir sehen nicht mehr den Menschen und seine Absichten. Sondern sehen das, was wir sehen wollen, projizieren unsere eigenen Bilder auf die Personen. Jesus möchte aber nicht auf „Wow-Effekte“ reduziert werden.  Nein, Jesus tut das, was in ihm brennt – er predigt, heilt, tröstet, lehrt, um den Menschen Gott näher zu bringen. Er will nicht als Person im Mittelpunkt stehen. Es geht ihm um Gott. Es genügt ihm, als der Christus, der Gesalbte Gottes zu leben und zu arbeiten. Mehr muss davon nicht gesprochen werden. 

 

Mich selbst zu begreifen

Wenn ich von Jesus höre oder lese und ihm beim Beten begegne, denke ich seinen besonderen Namen mit: „Christus, der Gesalbte Gottes“. Ich bin froh darüber, dass ich ihm mit seinen vielen Seiten begegnen kann. Mal spricht mich die eine mehr an, mal die andere. Mir hilft das auch, mich selbst zu begreifen - mit meinen vielen Rollen und immerwährenden Entwicklungsschritten. Und so grüße ich Jesus zum Sonntag mit einem Hymnus, der von den vielen Seiten Jesu singt: 

Sei gegrüßt, Herr Jesus, die Mitte des Weltalls bist du.

Sei gegrüßt, du verleihst allem Geschaffenen Sinn.

Sei gegrüßt, du verbindest die Menschheit mit dir.

Sei gegrüßt, aus dir strömt die Quelle des Lebens.

Halleluja, Halleluja, Halleluja! 

Sei gegrüßt, Herr Jesus, du bist unser aller Freund.

Sei gegrüßt, du gehst den Verlorenen nach.

Sei gegrüßt, du hörst unseren bittenden Ruf.

Sei gegrüßt, du trittst bei Gott für uns ein.

Halleluja, Halleluja, Halleluja. 

Sei gegrüßt, Herr Jesus, der einer der Unsrigen war.

Sei gegrüßt, der du unser Schicksal geteilt.

Sei gegrüßt, du hast dich tief zum Menschen gebeugt.

Sei gegrüßt, der sich für die andern verzehrte.

Halleluja, Halleluja, Halleluja. 

 

Musik 5: Johann Seb. Bach, Präludium a-moll für Orgel BWV 543/1, Klangfenster

(Musikauswahl: Thomas Drescher, Mainz)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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