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Das Jahr steht auf der Höhe
Foto: Dietmar Thiel

Das Jahr steht auf der Höhe

Ein Beitrag von Martin Berker, Katholischer Pfarrer, Pfarrei Sankt Josef in Neu-Isenburg
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(Musikauswahl: Regionalkantorin Regina Engel, Neu-Isenburg)

Der Juni und der Juli gehören für mich zur schönsten Zeit des Jahres. In diese Zeit fällt auch der Sommeranfang. Das Jahr erreicht seinen Höhepunkt, dazu gehören Urlaub und Ferien und mit ihnen Lebensfreude. Andererseits werden die Tage, wenn es auch noch kaum jemand bemerkt, bereits kürzer. Die erste Hälfte des Jahres ist erreicht. Sie hat viel Schönes mit sich gebracht, über das ich mich freuen kann. In meiner Pfarrei haben wir bewegende Gottesdienste zur Erstkommunion und Firmung gefeiert, im Pastoralraum versuchen wir immer mehr zusammenzuwachsen und erkennen, wie wichtig es ist, trotz aller Strukturen den Mittelpunkt unseres Glaubens zu stärken und zu bekennen. Ich erfreue mich meiner Gesundheit. Die Zeit, in der wir unbekümmert im Freien Feste feiern, hat begonnen. 

Hinter mir liegt die viele Arbeit - ich freue mich deshalb sehr auf eine Ruhepause, den Urlaub und die Ferien.

Das zweite Halbjahr hält auch noch viel Schönes bereit, das Pfarrfest, der Ausflug mit der Gemeinde, die schönen Begegnungen mit lieben Menschen, der Urlaub, die Exerzitien, andere freuen sich auf die Geburt ihres Kindes oder die anstehende Hochzeit, den Neubeginn im Studium oder einer Arbeitsstelle. Die zweite Hälfte des Jahres erinnert aber auch daran, dass alles zu Ende geht, und fordert auf, nach dem Ausschau zu halten, was niemand nehmen kann. Der Gedanke daran stimmt mich manchmal traurig. Ich denke an kommende dunkle Tage und daran, dass alles ein Ende hat. Ich stelle mir die Frage nach dem, was bleibt.

Jener muss wachsen, ich aber abnehmen

Vor gut einer Woche war Sommersonnenwende. Dieses Datum markiert den Beginn des astronomischen Sommers. Gleichzeitig wird dieser Tag als Mittsommer bezeichnet und vor allem in den nördlichen Ländern gefeiert. Der 24. Juni, der Johannistag, ist ein Tag in der Nähe der Sommersonnenwende, der Tag, an dem die Sonne am längsten scheint. In die Mitte des Jahres fällt der Geburtstag Johannes des Täufers. Traditionell endet am Johannistag auch die Spargelernte, und es wird kein Rhabarber mehr verkauft. Zudem sind die Johannisbeeren - auch benannt nach diesem Johannes - reif zum Kuchenbacken und Essen.

Mit Johannes dem Täufer haben sich zu seiner Zeit große Erwartungen verbunden. Seine Geburt bedeutete z.B. für seine Eltern die Erfüllung einer so gut wie verloren gegangenen Hoffnung, im hohen Alter noch Eltern zu werden. Und die Menschen, denen er in der Wüste predigte, knüpften an ihn auch große Erwartungen: Sie meinten, er sei vielleicht der erwartete Messias. Er selbst aber hat auf Jesus verwiesen: „Jener muss wachsen, ich aber abnehmen.“ (Johannes-Evangelium 3,30) Dieser Satz hat wohl dafür gesorgt, dass wir die Geburt Johannes des Täufers eben genau sechs Monate vor der Geburt Jesu feiern.

Kaum zu glauben, dass ab jetzt die Tage wieder kürzer werden, so paradox es klingt, wir gehen auf den Winter zu. Am Weihnachtstag, wenn wir Christi Geburt feiern, wächst das Licht wieder, und die Tage werden länger.

Musik 1: Vorspiel „Das Jahr steht auf der Höhe“, Orgel: Alexander Müller
(vgl. www.youtube.com/watch?v=a7zJikA48zQ).

Das Jahr steht auf der Höhe

Wenn wir Lieder singen in unseren Gottesdiensten, die das Jahr in den Blick nehmen, dann wird meistens der Anfang und das Ende des Jahres oder des Lebens besungen. „Das alte Jahr vergangen ist“ oder „Der du die Zeit in Händen hast“, das sind Lieder, die den Anfang oder das Ende thematisieren. Seit einigen Jahren gibt es im katholischen Gesangbuch ein Lied, das die Mitte des Jahres thematisiert. „Das Jahr steht auf der Höhe“, so heißt dieses Lied. Gerade jetzt, in der Mitte des Jahres, singe ich dieses Lied gerne und freue mich, wenn die Orgel die einprägsame Melodie intoniert. Sie ist auch bekannt als Melodie des alten Liedes „Wie lieblich ist der Maien“. 

Es sind wunderbare und motivierende Bilder, die dieses neue Lied zur Sommersonnenwende findet. Da heißt es in der 1. Strophe: „Das Jahr steht auf der Höhe, die große Waage ruht. Nun schenk uns deine Nähe und mach die Mitte gut.“ Und wie die Natur jetzt im Sommer sollen auch wir Menschen wachsen, auf Gott hin. 

Musik 2: „Das Jahr steht auf der Höhe“, 1. Strophe, Gesang: Rohat Özkaya, Orgel: Alexander Müller (vgl. www.youtube.com/watch?v=a7zJikA48zQ).

Das Jahr steht auf der Höhe, die große Waage ruht.

Nun schenk uns deine Nähe und mach die Mitte gut.

Herr, zwischen Blühn und Reifen und Ende und Beginn.

Lass uns dein Wort ergreifen und wachsen auf dich hin. 

 

Die Waage beschreibt einen Schwebezustand

„Das Jahr steht auf der Höhe, die große Waage ruht!“ Ein beeindruckendes Bild. Die große Waage ruht. Gemeint ist das Sternbild des Sommers, die Waage, sie wird am südlichen Himmel sichtbar, nicht weit über dem Horizont. Das Sternbild besteht nur aus ganz wenigen und auch noch recht unscheinbaren Sternen, ich muss schon genau hinschauen, um es zu erkennen. Es sieht ein bisschen aus wie ein Drache, die Kinder im Herbstwind steigen lassen, oder auch wie ein Kreuz. Gleichzeitig ist das Jahr in der Waage, links und rechts des Jahres ist gleich viel Zeit auf den Waagschalen: sechs Monate.

Das Bild von der Waage beschreibt diesen Schwebezustand: Zwischen dem Auf und Ab der beiden Waagschalen gibt es aber nur einen Punkt des Gleichgewichts. Die Waage erinnert mich daran, auf das Heute zu achten und die Zeit zu nutzen.

Dieses sommerliche Sternbild versteht der Hobby-Astronom Detlev Block, der Autor des Liedtextes, als „Sinnbild für das Abmessen und Zeitgewähren durch den Schöpfer und seine große Schöpfung“ (Ansgar Franz, Hermann Kurzke, Christiane Schäfer (Hg.), Die Lieder des Gotteslob, Geschichte – Liturgie – Kultur, Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017, S. 149).

Jesus Christus das Ziel meines Lebens

Die große Waage ruht! Ja, wir alle stehen auf verschiedene Weise zwischen dem Blick zurück und dem Blick nach vorn; zwischen Blühen und Reifen; zwischen Ende und Beginn. Ich frage mich: Was heißt das für mich als Christ? In meiner Situation zwischen Blühen und Reifen –  wenn ich zurückschaue und vorausblicke –, was sehe ich dann mit den Augen des Glaubens? Die Zeit ist nach christlichem Verständnis zielgerichtet. Jesus Christus ist das Ziel, und mein Leben als gläubiger Menschen ist auf ihn hin ausgerichtet.

Das Ende der ersten Strophe des Liedes gibt mir eine ganz grundlegende Antwort. Sie nimmt mich ins Gebet und lässt mich sprechen: „Nun schenk uns, Gott, deine Nähe, und mach die Mitte gut!“ Und meine Hoffnung ist: Sie wird gut, meine Mitte, wenn ich mich bewegen lasse: „Lass uns dein Wort ergreifen und wachsen auf dich hin.“ Auf Christus hinwachsen – so übersetzt das Lied das biblische Wort von Johannes dem Täufer: „Christus muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Johannes-Evangelium 3, 30) Darum geht es für mich. Wie kann das aussehen? Wie kann ich das tun? Darauf gibt auch die 2. Strophe des Liedes eine Antwort.

Musik 3: „Das Jahr steht auf der Höhe“, 2. Strophe, Gesang: Rohat Özkaya, Orgel: Alexander Müller (vgl. www.youtube.com/watch?v=a7zJikA48zQ).

Kaum ist der Tag am längsten, wächst wiederum die Nacht.

Begegne unsren Ängsten mit deiner Liebe Macht.

Das Dunkle und das Helle, der Schmerz, das Glücklichsein

Nimm alles seine Stelle in deiner Führung ein. 

 

Alles hat seine Zeit

Diese zweite Strophe des Liedes zur Jahresmitte erinnert mich an einen berühmten Satz aus dem Alten Testament, dem Buch Kohelet: „Alles hat seine Zeit“ (Kohelet 2). Es gibt gute und schwierige Zeiten: Mit Gott und im Vertrauen auf ihn kann ich all diese Zeiten annehmen und bestehen und auf Gottes Führung vertrauen. Im Lied tauchen Gedanken über die Vergänglichkeit auf, Loslassen und Abschiednehmen. Ich erlebe das in der Familie, wenn liebe Angehörige sterben, wenn die Kräfte nachlassen, wenn Freunde wegziehen, beruflich oder familiär bedingt. Ich mache aber auch die Erfahrung: Alles auf der Erde hat seinen Sinn, seinen Wert und seine Zeit. Wo ich mir das zu Herzen nehme, da relativiert sich so manches, auch so manche Sorge. Wie sagt Jesus in seiner Bergpredigt: „Sorgt euch nicht um euer Leben, es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“ (Matthäus-Evangelium 6, 34) Obwohl der Sommer noch bevorsteht, „wächst wiederum die Nacht“, so heißt es in dem Lied. Die Nacht wird traditionell als Zeit der Ängste gedeutet, und es schließt sich die Fügung in seine Führung an.

Auf Christus hin wachsen bedeutet für mich, dankbar zu sein für alles, was mir geschenkt wurde, und für das Gute, das geworden ist. Gleichzeitig aber auch die Zukunft Gott anzuvertrauen, im Vertrauen, dass er alles gut machen wird.

Musik 4: „Das Jahr steht auf der Höhe“, 3. Strophe, Gesang: Rohat Özkaya, Orgel: Alexander Müller (vgl. www.youtube.com/watch?v=a7zJikA48zQ).

Das Jahr lehrt Abschied nehmen schon jetzt zur halben Zeit.

Wir sollen uns nicht grämen, nur wach sein und bereit,

die Tage loszulassen und was vergänglich ist,

das Ziel ins Auge fassen, das, du, Herr, selber bist. 

 

Wach sein und bereit

Die abnehmende Tageslänge mahnt, nicht „was vergänglich ist“ zu erstreben, sondern die „Tage loszulassen“ und, wie die klugen Jungfrauen im Matthäusevangelium (Matthäus-Evangelium 25, 1-13), „wach und bereit zu sein“. Die Bereitschaft, wach zu sein, loszulassen, aufzubrechen, das ist ein Grundthema des christlichen Glaubens.

Ich möchte dies mit einer Reise vergleichen. Bei einer Reise folgt ein Erlebnis auf das andere, ein Ereignis löst das andere ab, der Abschied von dem einen bedeutet, aufbrechen zu etwas anderem. Bei einer Reise bin ich bereit und neugierig auf das, was kommt, und freue mich gewöhnlich auf das Ziel.

Abschied und Neuanfang, auf einer Reise sein: das erlebe ich zurzeit auch stark in meiner katholischen Kirche. Das Lied hilft mir zu unterscheiden. Es geht darum, loszulassen, was vergänglich ist, was änderbar ist, und es geht zugleich darum, das Ziel ins Auge zu fassen, das nicht veränderbar ist: Das ist Christus und seine Botschaft selbst. Änderbar sind immer die Formen und Wege, ja sogar manche Traditionen der Kirche, die Schatz und Belastung zugleich sind. Unveränderbar sind die Worte Gottes, seine Liebe, seine Barmherzigkeit und Güte, die mein Auftrag als Christ sind. Die unterschiedlichen Strömungen und Meinungen beim „Synodalen Weg“, dem Reformprozess der katholischen Kirche, zeigen mir die Spannungen in der Kirche auf. Ich glaube, es geht vor allem darum, aufeinander zu hören, den anderen ernst zu nehmen, ihn tiefer zu verstehen, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen. So können wir in der Kirche Altes loslassen und das Ziel, Gott und seine Liebe, im Blick behalten.

Auf Christus hinwachsen, das bedeutet für mich immer auch die Bereitschaft zu haben, Abschied zu nehmen, wach zu sein und aufzubrechen.

Musik 5: „Das Jahr steht auf der Höhe“, 4. Strophe, Gesang: Rohat Özkaya, Orgel: Alexander Müller (vgl. www.youtube.com/watch?v=a7zJikA48zQ).

Du wächst und bleibst für immer, doch unsere Zeit nimmt ab.

Dein Tun hat Morgenschimmer, das unsre sinkt ins Grab.

Gib, eh die Sonne schwindet, der äußre Mensch vergeht,

dass jeder zu dir findet und durch dich aufersteht. 

 

Gottes Wirken ist auf die Zukunft hin ausgerichtet, unser Tun ist vergänglich.

In dieser vierten Strophe des Liedes zur Jahresmitte klingt wieder das Wort von Johannes, dem Täufer, an: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Und ganz am Ende mündet alles in die Hoffnung: Wir werden auferstehen.  In seiner letzten Strophe wird das Lied zum Ausdruck des Vertrauens.

Von Johannes wird in der Bibel erzählt, dass er in die Wüste gegangen ist und dort unter ganz einfachen Verhältnissen lebt. Seine Aufgabe ist es, den kommenden Messias, den Christus, anzukündigen, dessen Weg vorzubereiten. Die Menschen, die ihn hören wollen, müssen sich ebenfalls in die Verhältnisse der Wüste, in ihre Einsamkeit, begeben. Ein gutes Bild: Wer gut zuhören will, wer etwas verstehen will, muss die Ruhe suchen, muss frühzeitig lernen, loszulassen, seine Vergänglichkeit anzunehmen und zu akzeptieren.

Mir fällt das leichter, je klarer mir das wahre Ziel des Lebens vor Augen steht: Gottes Ewigkeit. Gottes Wirken ist auf die Zukunft hin ausgerichtet, mein Tun ist vergänglich.

Auf Christus hinwachsen heißt für mich, mein Leben, meine Zeit in Gottes Hand zu legen, auch über den Tod hinaus. 

Ich will mich freuen über alles Gute und Schöne

Musik 6: „Das Jahr steht auf der Höhe“, 1.-4. Strophe, Gesang: Rohat Özkaya, Orgel: Alexander Müller (vgl. www.youtube.com/watch?v=a7zJikA48zQ).

In der Mitte des Jahres blicke ich zurück auf die erste Hälfte des Jahres und bin dankbar für diese Zeit. Ich freue mich über den Sommer, den ich nun erleben darf, und ich schaue dann auf die Zeit, dir mir weiterhin gegeben ist. Vieles wurde mir geschenkt, vieles konnte ich erreichen, manches macht mir Mühe und Sorge. Das Gefühl, dass Gott mich begleitet hat, stimmt mich für die kommende Zeit zuversichtlich. Ich will mich freuen über alles Gute und Schöne, was ich in diesem Sommer erleben werde, ich will annehmen, was kommt, und mich Gottes Weitblick anvertrauen. Ich wünsche allen einen gesegneten Sommer und erholsame Urlaubstage.

Musik 7: aus: Henry Purcell, Largo-Allegro aus Sonata XX in D major (CD: London Baroque, The Trio Sonata in 17-th-Century England, Track 30 und 31).

 

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