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Erinnerung wird neu gelebt
GettyImages/frank wagner

Erinnerung wird neu gelebt

Ksenija Auksutat
Ein Beitrag von Ksenija Auksutat, Evangelische Pfarrerin, Stockstadt
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In diesem Jahr kümmern sich bei uns vor allem junge Leute um den Volkstrauertag, in Stockstadt am Rhein, wo ich lebe. Sie sind 13 oder 14 Jahre alt, es sind die Konfirmandinnen und Konfirmanden. Beim Volkstrauertag geht es darum, an das Leid zu erinnern, das Krieg und Gewalt bringen.

Eine Zeitzeugin erzählt

Was das für sie bedeutete, hat Edith Westerfeld-Schumer den Jugendlichen gestern erzählt. Edith Westerfeld ist heute 98 Jahre alt. Sie lebt im Städtchen Wilmette, einem Vorort von Chicago. Aber geboren ist sie in Stockstadt, wo heute die Konfis leben. Sie hat das den Jugendlichen über Videokonferenz erzählt: Von ihrer Kindheit in Stockstadt und ihrer Flucht aus Deutschland.

Edith Westerfeld-Schumer sitzt mit ihrem schönen schneeweißen Haarschopf vor dem Computer und schaut in die Kamera. Sie lächelt nicht. Denn was sie zu berichten hat, gibt keinen Grund dazu. Edith erzählt ganz ruhig, wie sie im März 1938 als 12-jähriges Mädchen ihre Heimat in Stockstadt verlassen musste.

Mitten im Dorf an der Hauptstraße wohnte ihre Familie damals, die Eltern mit den Töchtern Edith und der älteren Schwester Betty. Es war eine angesehene und alteingesessene Familie, direkt gegenüber wohnte der Bürgermeister. Sie hatten einen Landhandel und ein stattliches Haus, sogar eine Haushaltshilfe und ein Kindermädchen: Mina.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ändert sich ihr Leben

Aber seit 1933 regierten die Nationalsozialisten und das Leben wurde immer schwerer für die Familie. Denn sie waren Juden.

Edith erzählt, dass ihre Eltern sich viele Sorgen machten. Und wie sie als jüdisches Kind im Sommer nicht mehr das Schwimmbad betreten durfte. Dann kommt doch ein kleines Lächeln in ihr Gesicht. Ihr Kindermädchen Mina, stellte einfach ein paar große Kübel mit Wasser im Garten auf. So konnten sie sich abkühlen und ein bisschen Spaß haben. Aber irgendwann durfte auch Mina nicht mehr zu ihr kommen. Denn Mina war Christin und die Nachbarn beschimpften sie, wenn sie zu Westerfelds ging.

Die Eltern haben sehr klar die Gefahren für ihre Kinder gesehen. Und sich schweren Herzens dazu entschlossen, ihre beiden Töchter in Sicherheit zu bringen.

Rettung in Amerika

Mit Hilfe einer jüdischen Organisation[i] haben sie erst ihre ältere Tochter Betty und ein Jahr später ihre jüngste Tochter Edith nach Amerika geschickt. Edith erzählt den Konfis, wie traurig sie war, von ihrer Schwester getrennt zu sein und wie sehr sie ihre Eltern vermisst hat. 1938, als sie ganz allein wegmusste, hatte sie nicht glauben können, dass dies ein Abschied für immer wird. Denn ihre Eltern wurden später Opfer der Verfolgung und starben in Konzentrationslagern.

Die Konfirmandinnen und Konfirmanden sind berüht von Ediths Erzählungen

Die Konfirmanden und Konfirmandinnen hören Edith aufmerksam zu. Sie selbst sind jetzt 13 und 14 Jahre alt, also kaum älter, als Edith damals war.

Nach dem Interview sind sie erst einmal sehr still. Dann fragen sie nach: Warum haben die Menschen das damals gemacht? Warum haben die Nachbarn bei all dem mitgemacht oder zugeschaut, ohne was zu sagen? Und sie sagen zu Edith, wie froh sie sind, dass sie überlebt hat. Und dass sie ihnen heute davon erzählt, was damals mitten in unserem Ort geschehen ist.

Nach dem Gespräch setzen sich die Konfis hin, stecken die Köpfe zusammen: Sie wollen am Volktrauertag in der Kirche anderen davon erzählen.

Musik

Was es für ein Kind bedeutet, seine Heimat zu verlassen weil es dort Verfolgung oder Krieg gibt, haben die Konfirmanden und Konfirmandinnen gestern sehr eindrücklich gehört. Aus Stockstadt sind jüdische Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus zu Flüchtlingen geworden, haben ihre Heimat und ihre Liebsten und oft auch ihr Leben verloren.

Es ist ein ganz besonderer Moment, als die Konfis sogar mit einer Betroffenen von damals sprechen können. Edith, die mit 12 Jahren aus Stockstadt vor den Nazis fliehen musste. Die Jugendlichen hören mit großem Respekt auf Edith. Sie erinnern sich gleichzeitig an die Menschen damals, die verfolgt wurden.

Auch heute müssen Kinder und Jugendliche aus ihrer Heimat flüchten

Was sie mit Edith erleben, geht über die Geschehnisse damals hinaus. Sie denken dadurch auch an heute. Sie werden aufmerksam für Erfahrungen, die andere Kinder heute machen. 

Denn viele der Jugendlichen haben auch Kinder in ihren Klassen, die ihre Heimat wegen Krieg und Verfolgung verlassen mussten. Deren Erfahrungen unterscheiden sich von dem, was Edith und andere im Holocaust erfahren haben. Das ist unvergleichlich.

Aber es gibt Berührungspunkte. Da sind ukrainische Jungen und Mädchen, die ihre Heimat verlassen mussten, weil Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt. Sie müssen Deutsch lernen und sich zurechtfinden. Das geht auch Kindern aus anderen Ländern so, die aus anderen Gründen hier zur Schule gehen. Sie alle müssen sich hier eingewöhnen, die deutsche Sprache lernen und sich hier einleben.

Die Jugendlichen erzählen von ihren Mitschülern, die ähnliche Erfahrungen haben

Die Konfirmanden und Konfirmandinnen schauen jetzt neu auf diese Kinder. Manche von ihnen kennen sie ja inzwischen schon besser. Eine hat zum Beispiel eine syrische Mitschülerin. Sie spricht sehr gut deutsch. Aber manchmal fehlt sie in der Schule, weil sie ihre Eltern zu Arztterminen oder Behördengängen begleitet um zu übersetzen, denn sie tun sich viel schwerer damit Deutsch zu lernen.

Ein Konfirmand spielt mit einem ukrainischen Jungen zusammen Fußball. Nach dem Training haben sie schon mal zusammen gequatscht. Da hat der Junge erzählt, dass sie ihre Großeltern zurückgelassen haben und er seine Freunde vermisst. Aber am schlimmsten ist für ihn, dass sein Vater nicht zu ihm auf den Fußballplatz kommen kann, wenn sie ein Spiel haben. Früher war er immer dabei und hat ihn angefeuert. Aber sein Vater musste in der Ukraine bleiben und kämpfen. Dem Konfi merke ich an, wie es ihm beim Erzählen den Hals zuschnürt.

Die Jugendlichen schauen nun anders auf ihre Mitschüler

Während die Konfis den Volkstrauertag vorbereiten, wird ihnen bewusst: Jede und jeder bringt aus einem anderen Land ganz viele Erinnerungen an sein früheres Zuhause mit. Einige Jugendliche wollen in den nächsten Wochen ihre Mitschüler einmal fragen: Wie geht es dir hier? Vermisst du eigentlich etwas von früher? Und was wünschst du dir für die Zukunft?

Musik

Heute am Volkstrauertag werden die Konfis viele in unserer Stadt erinnern an das, was früher geschehen ist an Verfolgung, Leid und Krieg. Sie haben eine Ahnung davon bekommen: Was damals geschehen ist, hat auch mit uns zu tun. Wir sind eingewoben in die Geschicke und die Geschichten unserer Vorväter und Mütter. Davon kann sich niemand freimachen. Selbst die Konfis, die mehrere Generationen von der Zeit des Faschismus und dem Weltkrieg entfernt sind.

Die Konfirmandinnen und Konfirmanden gestalten das Gedenken zu Volkstrauertag

Heute werden wir uns über die Generationen hinweg in der Kirche versammeln.

Bei uns ist der Bürgermeister dabei. Und die Menschen, die sich im Bund der Vertriebenen zusammengeschlossen haben oder im Sozialverband VdK. Die Konfirmanden und Konfirmandinnen sind natürlich da, dazu Eltern und andere Leute aus Stockstadt.

Die Konfis haben sich gut vorbereitet. Sie wollen drei Aspekte in der Kirche vortragen:

Eine Gruppe erzählt, was sie von Edith Westerfeld gehört haben. Der Frau, die als jüdisches Mädchen in Stockstadt lebte, ihre Familie und ihr Zuhause verlor.

Eine zweite Gruppe berichtet davon, wie sie als Jugendliche heute berührt wurden von dieser Begegnung mit Edith. Wie sie betroffen sind vom Schicksal jüdischer Menschen früher. Dass so etwas hier, in ihrem Wohnort, stattgefunden hat.

Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen

Die dritte Gruppe will zeigen, was wir heute tun können. Damit nie wieder Menschen so etwas erleiden müssen.

Gut, dass sie das machen! Es macht Mut, genau hinzuhören, wenn heute beleidigend gesprochen wird. Wenn durch Vorurteile Menschen in Schubladen landen und nicht als Personen mit einer eigenen, wertvollen Lebensgeschichte gesehen werden.

Die Konfis haben sich der Vergangenheit gestellt und zeigen, was das heute bewirken kann. Als Jugendliche und noch mehr als Erwachsene sind wir nicht nur verantwortlich für unser eigenes Tun und Lassen. Wir haben Verantwortung, dass sich Geschichte nicht wiederholt.

Über die Zeit verbunden

Am Ende werden wir die Kirche verlassen und nach draußen gehen. Drei Kränze werden am Erinnerungsdenkmal aufgestellt. Der Männergesangverein singt noch ein Lied. Ich vermute, wir werden nachdenklich nach Hause gehen. Ich werde für mich den Gedanken festhalten: Wir sind verbunden. Über die Zeiten und weltweit. Mit der Vergangenheit und in einer hoffentlich guten und friedvolleren Zukunft.

 


[i] Jewish Children‘s Service

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