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Ich sehe was, was Du nicht siehst
Bild: Gerd Altmann / Pixabay

Ich sehe was, was Du nicht siehst

Ayleen Nüchter
Ein Beitrag von Ayleen Nüchter, Katholische Gemeindereferentin im Pastoralverbund St. Benedikt Hünfelder Land
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Was tun Sie, um sich die Zeit zu vertreiben, bis Sie beim Arzt aufgerufen werden? Es ist Dienstagvormittag und ich sitze mit meiner kleinen Tochter im Warteraum der Kinderarztpraxis. Neben vielem buntem Spielzeug liegen hier Broschüren über die Bedeutung der Zahnpflege der ersten Zähnchen und Hinweise, wie man vorgehen soll, wenn sich das eigene Kind an etwas verschluckt. Als die Tür aufgeht und ein Vater mit seinen zwei Kindern den Raum betritt, höre ich den einen Jungen sagen: „Die Spielsachen hier sind doch was für kleine Babys. Lass uns lieber ein Ratespiel spielen. Dann vergeht die Zeit immer am schnellsten. Komm, wir spielen: Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Schweigend schaue ich zu den Kindern rüber und lächle, weil der Name des Spiels unmittelbar Erinnerungen an meine Kindheit weckt. Das Praktische an dem Spiel ist, es lässt sich an jedem Ort – ob zu Hause im Wohnzimmer, beim Spazieren gehen oder auf langen Autofahrten spielen. Kleine Kinder können es spielen, aber auch für Jugendliche oder Erwachsene es ein schöner Zeitvertreib. Man braucht kein schönes Wetter, keinen Würfel oder gar Spielfiguren. Und während man es spielt, werden außerdem automatisch das räumliche Sehen und die Kommunikationsfähigkeit gefördert. Ehrlichkeit ist eine der Grundregeln. Zurück im Wartezimmer: Der ältere von beiden schaut sich im Raum um und sucht sich etwas aus, was sein Bruder erraten soll. Es dauert nicht lang und der größere Junge sagt entschlossen: „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist … dunkelbraun.

„Hmmm … der Rahmen des Fensters? Oder die Uhr, die an der Wand hängt?“ Der große Junge schüttelt immer und immer wieder mit dem Kopf. Nach mehreren Fehlversuchen ist das kleinere Kind ratlos und meckert. „Das, was du dir ausgesucht hast, ist viel zu schwer. Ich habe schon alles genannt, was hier im Zimmer dunkelbraun ist. Sag mir, was es ist.“ Breit grinsend erklärt der ältere Bruder: „Es sind deine Augen. Sie sehen dunkelbraun aus. Fast wie von einem Teddy.“ Schon erklingt die Stimme der Sprechstundenhilfe und meine Tochter und ich werden aufgerufen.

Ich hoffe und denke: Gott sieht in mir Dinge, die ich längst nicht sehe

Im Behandlungszimmer muss ich immer noch an die beiden Jungs denken, so ganz loslassen tut mich das Ratespiel der beiden Kinder im Wartezimmer jedoch nicht. Ich ertappe mich immer mal wieder dabei, manches an mir selbst zu übersehen oder zumindest nicht so zu sehen, wie es andere tun. Viel schlimmer noch: Unter uns gesagt dauert es beim Blick in den Spiegel oftmals nicht lange und ich finde etwas, das mich an mir stört. Mal sind es meine Haare oder ich bin unzufrieden mit meiner Figur. Doch es ist nicht nur das Äußerliche. Wie gern wäre ich disziplinierter im Alltag oder weniger empfindlich, wenn es um Kritik geht. Mir fällt auf, ich sehe mich mit anderen Augen an, ganz anders als mein Gegenüber. Mit Blick auf meinen Glauben bin ich fest davon überzeugt, dass es neben meiner Familie und meinen Freunden jemanden gibt, der etwas in mir sieht, dass ich nicht sehe; und das schon bevor ich denken und mich beurteilen konnte. Auf eine ganz konkrete Weise wurde mir das bei meiner Taufe vor 27 Jahren zugesprochen. Augenblicklich fällt mir mein Taufspruch ein, welcher auch heute noch von vielen Eltern für deren Kind bei der Spendung der Taufe ausgesucht wird: Die Zeilen aus dem Markusevangelium lauten: „Du bist mein geliebter Sohn / meine geliebte Tochter, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.“ Ich finde: Gott hat in diesem Moment zum ersten Mal zu mir gesagt: „Ich sehe etwas, was du nicht siehst, und das bist du.“

Musik

Gott hat mit jedem von uns einen Plan und das von der ersten Sekunde an

Beim näheren Hinterfragen, seit wann Gott uns Menschen schon im Blick hat, fällt mir eine Bibelstelle ein, die bereits vor Jahrtausenden von Gläubigen verfasst wurde. In den sogenannten Psalmen schrieben schon damals Frauen und Männer grundlegende Erfahrungen ihres Lebens nieder. Sie haben diese Eindrücke als Gebete, Lieder und poetische Zeilen formuliert. In Psalm 139 Vers 13 heißt es: „(…) Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke. (…) Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war.“(Psalm 139)

Diese Zeilen beschreiben vertrauensvoll, wie groß das Bewusstsein der Menschen schon vor ewiger Zeit dafür war, dass Gottes es ist, der uns schon von Sekunde eins als seine Werke geschaffen hat. Und auch heute noch vertraue ich als Christ darauf, dass sich Gott alles, was ich an mir manchmal in Frage stelle, mit viel Liebe zum Detail erdacht hat. Mehr noch: Ich bin davon überzeugt, dass Gott in mir etwas sieht, was ich nicht sehe. Sicher sieht er auch das, was ich nicht an mir mag oder wo ich gerne wegschaue. Er sieht meine Freude, meinen Stolz, meine Liebe zu anderen, aber er sieht genauso meine Verletzlichkeit und alles, was ich am liebsten nicht preisgeben möchte. Er sieht meine Angst und auch meine Wut. Doch, was er vor allem und ganz und gar ohne Maske und Filter sieht, ist mein Herz. Alles, was mich einzigartig macht, ist aus seiner Hand geschaffen. Bei dem Gedanken daran lässt allmählich der Druck nach, wenn es um meine Frisur oder Hosengröße geht. Ich muss sie mir nur immer wieder vor Augen führen: Die Zusage Gottes, dass ich genau so geliebt bin, wie ich bin. Gott schaut mich an und ist zufrieden, denn er selbst hat mich so gewollt. Das trägt mich in Momenten, in denen ich selbstkritisch bin, keine Geduld habe oder mein fehlender Mut mich lähmt. Vielmehr ändert dieses Bewusstsein meinen Blick auf den Umgang mit meinen Mitmenschen, die ja - genau wie ich - von Gottes Hand erdacht sind.

Musik

Die schönste Botschaft: Du bist einzigartig und so gewollt

Spannend finde ich, mal bewusst in meinen Mitmenschen nach besonderen Eigenschaften zu suchen oder nach deren Schönheit Ausschau zu halten. Gott sagt: Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist wunderschön. Egal, ob deine Haut von Narben gezeichnet oder dein Hautton heller ist, als du ihn dir eigentlich wünschtest. Gott sieht in jedem von uns Menschen etwas, was uns in seinen Augen einzigartig macht. Niemand lächelt so wie du. Dein Gesicht hat sonst niemand auf dieser Welt. Ich bin sicher, Gott könnte mir genau sagen, was mir selbst verborgen, aber für ihn offensichtlich ist. Das lässt mich staunen. Für Gott gibt es nichts, was er nicht sieht. Doch sein Blick auf mich und alle Menschen ist kein kritischer, nein – im Gegenteil: Wohlwollend schaut er auf mich mit allen Ecken und Kanten, Eigenarten und Fehlern.

Ich empfinde das geliebt sein, es als echtes Geschenk. Es beflügelt mein Selbstbewusstsein und macht die Zweifel klein, die doch das eine oder andere Mal entstehen. Ich würde sogar sagen; das Vertrauen auf das Angenommen-sein spornt mich an, immer wieder neu den Blick auf das zu fokussieren, was mir mit Beginn meines ersten Herzschlags geschenkt wurde. Meine Persönlichkeit mit allen Talenten, Begabungen, aber auch mit Dingen, die ich gerne an mir mag oder auch Eigenschaften, die mich an mir stören. Ich möchte nicht damit aufhören, an mir zu arbeiten. Mein Anliegen ist aber mehr noch: Ich habe die Chance, an jedem Tag wieder Neues an mir und meinem Gegenüber entdecken: Das will ich tun. Hinschauen auf das, was Gott in uns sieht. Bei jeder Taufe spricht der Pfarrer dem Täufling, während er das Wasser über den Kopf gießt, folgende Worte zu: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Hierbei macht er das Kreuzzeichen. Beim Kreuzzeichen berühren wir zuerst die Stirn. Wir denken an Gott Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Dann geht die Hand nach unten. Wir denken an Jesus Christus, der sich zu uns Menschen begeben hat. Er kam in einem Stall zur Welt. Und er stieg tief hinab in das Reich des Todes, um dann am dritten Tage aufzuerstehen. Zum Schluss geht unsere Hand nach links und nach rechts. Der Heilige Geist erfasst uns ganz, er hüllt uns wie in einen Mantel und schützt uns mit seiner Liebe und Kraft vor allem Bösen. Mit den Bewegungen während des Kreuzzeichens entsteht für mich jedoch ab heute zusätzlich ein kleiner Reminder dafür, dass ich als Mensch mit meinem Sein und mit meinem Körper bedingungslos gewollt und geliebt bin. Von der Stirn bis hin zur Brust, von links und rechts zu den Schultern gehöre ich als getauftes und vor allem als liebevoll erdachtes Kind zu Gott. Ich nehme mir vor, beim nächsten Gottesdienstbesuch dafür mal bewusst Danke zu sagen. Und wenn ich wieder mal mit mir selbst unzufrieden bin, denke ich einfach daran, wie Gott zu mir sagt: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist gut.“

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