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Fronleichnam: Den Glauben auf die Straße tragen
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Fronleichnam: Den Glauben auf die Straße tragen

Dr. Peter Kohlgraf
Ein Beitrag von Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz
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Musikauswahl: Regionalkantorin Mechthild Bitsch-Molitor, Mainz

Ich erinnere mich gerne an meine katholische Kindheit und Jugend. Die guten Erfahrungen mit meiner Kirche waren für mich ein wichtiger Grund, dass ich Priester geworden bin. Mancher denkt jetzt vielleicht: Er muss von den guten Erfahrungen erzählen, er ist ja schließlich Bischof! Ganz so ist es nicht. Natürlich erlebe ich heute auch stärker als je zuvor die problematischen Seiten meiner Kirche.

Wir waren eine starke Gemeinschaft

Aber darin erschöpft sich das Kirche-Sein nicht. Ganz stark lebt in mir die Erfahrung mit Kirche in meiner Kindheit und Jugend. Welche Erinnerungen, welche Bilder kommen mir in den Sinn? Vor allem ein Gefühl von Vertrautheit, Gemeinschaft und Beheimatung. In meiner Gemeinde in einem Kölner Vorort war ich zuhause. Dazu gehörten die Menschen der Gemeinde, die Gottesdienste, die Kirche, in der ich getauft wurde, zur Erstkommunion und zur Firmung gegangen bin. Viele Jahre habe ich mich dort als Messdiener engagiert. Wir waren eine starke Gemeinschaft, wir waren viel zusammen unterwegs, haben gemeinsam Ferienfahrten gestaltet. Die Priester dieser Gemeinde waren mir lange Vorbild und Wegbegleiter.

Heute am Fest Fronleichnam, denke ich auch daran, wie wir jedes Jahr in einer großen Prozession durch die Straßen gezogen sind, als Messdiener war ich mittendrin dabei. Das war ein wunderbares Gefühl zu spüren: Ich gehöre dazu, ich bin Teil einer großen Gemeinschaft. Und ein bisschen wichtig konnten wir uns natürlich auch fühlen – mit dem Weihrauchfass in der Hand, ganz in der Nähe des Allerheiligsten, um das die vielen Menschen sich versammelten, im Zentrum der Prozession. 

Für mich waren das prägende Jahre, und ich kann sagen: Ich bin der, der ich bin, auch durch meine Kirche.

Musik 1: Frits Mehrtens: Singt Gott den neuen Lobgesang (CD: Singt Gott den neuen Lobgesang, Institut für Kirchenmusik / Bistum Mainz, Kantorei St. Alban, Mainz / Ltg.: Heinz Lamby; Blechbläser-Ensemble Heidesheim / Ltg. Andreas Hesping-Barthelmes CD 2 [38] 1:06).

Die vielen scheinbaren Widersprüche im Glauben

Der rheinische Katholizismus, in dem ich groß geworden bin, ist nicht starr, schon gar nicht fanatisch. Und gerade in einer gewissen Leichtigkeit nimmt er Gott ernst. Im Rheinland haben die Menschen kein Problem damit, die hohe komplizierte Theologie zu kennen – und gleichzeitig die traditionelle Volksfrömmigkeit aus vollem Herzen zu pflegen: Wettersegen, das Gebet um einen guten Ausgang des Karnevals, eine Verquickung von Fußball und Religion, die Verehrung von Reliquien, also den sterblichen Überresten der Heiligen, von denen sich die Menschen Schutz erhoffen. Man könnte sagen: Der katholische Rheinländer, so wie ich ihn kennengelernt habe, kann im Glauben viele scheinbare Widersprüche zusammenbringen. Oder er sieht die Widersprüche eigentlich gar nicht, weil die verschiedenen Andachts- und Gottesdienstformen auch nicht schaden können. Man weiß ja eben nie…

Die schöne Erinnerung an die festlichen Gottesdienste

Weitere Bilder steigen in mir hoch. Ich erinnere mich an die sogenannten „Maiandachten“, liebevoll gestaltete Gottesdienste zur Verehrung Marias, der Mutter Jesu. Die Muttergottes wird von vielen katholischen Gläubigen bis heute besonders verehrt. Manche haben kein Problem damit, vor ihr auch ein Kind zu bleiben. Ich erinnere mich an festliche Gottesdienste, mit großer Musik, und an einfache Liturgien, die mich in ihrer Schlichtheit angesprochen haben. Zum Katholisch-Sein gehören für mich Weihrauch und Blumen, Klang und Farbe, Licht und Schönheit. Verschweigen will ich auch nicht die Langeweile, die ich als Kind empfunden habe bei manchen Predigten, Hirtenbriefen oder auch beim Rosenkranzgebet. Aber das Lichtvolle überwog. Kurzum: Die Erfahrung des Katholisch-Seins hat für mich mit dieser Vielfalt der Facetten zu tun.

Mir ist bewusst: Viele Menschen haben andere Erfahrungen gemacht. Sie fühlten sich ausgegrenzt und nicht-zugehörig, nicht wenige haben Missachtung, sogar Gewalt und Missbrauch erlebt. Ich erzähle hier von meinen eigenen biographischen Erfahrungen, aber ich will diese anderen Themen nicht verschweigen. Auch manche Menschen meiner Gemeinde, von der ich erzähle, teilen meine Erfahrungen nicht. Aber für mich selbst war es vor allem ein Glück, in diesem katholischen Umfeld aufzuwachsen.

Musik 2: Tomás Luis de Victoria: Lauda Sion salvatorem (CD: Victoria, Missa dum complerentur, The Choir of Westminster Cathedral / Ltg. James O’Donnell; Orgel: Joseph Cullen [13] 3:21).

In der "Monstranz" durch die Straßen getragen

Ich erzähle von meinen Erinnerungen heute, am Fronleichnamstag. Der korrekte Name des Festes lautet „Hochfest des Leibes und Blutes Christi“. Und es ist wohl das katholischste aller Feste, gerade auch im von mir beschriebenen Sinn. In vielen Gegenden wird dieser Tag mit aller katholischen Farbenpracht begangen. Menschen schmücken die Häuser und Straßen, sie legen Blumenteppiche aus, durch die Städte und Dörfer ziehen Prozessionen, mit Blasmusik, mit Gesang und Gebeten der Gläubigen. Die Priester tragen oft prächtige Gewänder. In diesem Jahr, angesichts der Corona-Pandemie, ist dies vielerorts nicht möglich; aber in den kommenden Jahren werden wir es sicherlich wieder erleben.

Im Zentrum der Prozessionen steht eigentlich etwas ziemlich Unscheinbares: eine kleine Brotscheibe, die „Hostie“; sie wird in einem Zeigegefäß, der sogenannten „Monstranz“, durch die Straßen getragen.

Er will die wahre Nahrung sein...

Manche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen reiben sich verwundert die Augen. Denn die Bedeutung dieses Brotes ist ihnen womöglich längst fremd geworden. Oder sie hat sich ihnen nie erschlossen. Es geht nicht um irgendein Brot. An diesem Tag tragen glaubende Menschen das in die Öffentlichkeit, was für sie ihr Glaubensfundament darstellt. Als katholischer Christ bekenne ich: Auch heute ist Jesus, der Auferstandene, in diesem Brot gegenwärtig. Ich bete Jesus an in diesem Brot und ich danke ihm dafür, dass er die Menschen nicht verlässt. Ich danke ihm, dass er sich hingegeben hat, dass er für die Menschen gelebt hat und weiterlebt. Er will die wahre Nahrung sein, denn der Mensch lebt nicht allein vom Brot des Alltags. Dieses Bekenntnis und diesen Dank bringen katholische Christinnen und Christen am Fest Fronleichnam zum Ausdruck. Und wenn wir mit dem Brot durch unsere Städte und Dörfer ziehen, dann wollen wir Segen bringen und die Menschen segnen, d.h. ihnen die Liebe Gottes zusagen. Mit einem Fremdwort bezeichnen Katholikinnen und Katholiken dieses Brot als „Eucharistie“, übersetzt „Danksagung“. Sie sagen Dank für alle liebende Zuwendung Gottes. Oder sie sprechen von der „heiligen Kommunion“, als der „Gemeinschaft“ mit Jesus Christus. Diese Gemeinschaft, diese Kommunion ist ein Grund zu feiern, das Fest Fronleichnam zu feiern – mit großer Freude und Festlichkeit.  

Musik 3: Hans Leo Hassler: O sacrum convivium (CD: Hans Leo Hassler: Auß tieffer noth / Currende / Ltg.: Erik van Nevel [16] 3:38).

"Wie kann Jesus in einem Brot gegenwärtig sein?"

„Fronleichnam“ heißt übersetzt: der lebendige Leib des Herrn. Seinen Ursprung hat dieses Fest im Mittelalter. Besonders von frommen Frauen ging die öffentliche Verehrung der Eucharistie aus. Das Fest wurde wohl begründet von Juliane von Lüttich, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte. Sie hatte eine Vision: Sie sah die leuchtende Mondscheibe, die an einer Stelle aber einen dunklen Fleck hatte. Dieses Bild deutete sie so: Der Kirche fehlt im Jahreslauf ein Fest, an dem besonders die Eucharistie verehrt wird. Zu dieser Zeit gab es heftige theologische Auseinandersetzungen in der Kirche, wie die Eucharistie zu verstehen ist: Wie kann Jesus in einem Brot gegenwärtig sein? Verschiedene Meinungen trafen aufeinander. Die einen sagten, die Eucharistie sei eine Erinnerung oder ein Symbol für Jesus. Andere betonten dagegen, dass Jesus doch selbst beim Abendmahl gesagt habe: „Das ist mein Leib, das ist mein Blut“, und dieses Wort Jesu müsse selbstverständlich im wörtlichen Sinne ernst genommen werden. Das Fronleichnamsfest sollte die katholische Lehrmeinung festigen: Es geht nicht um die Erinnerung, sondern um das Bekenntnis zur wirklichen Gegenwart Jesu.

Fürbitten für große und kleinen Sorgen

Und noch etwas Anderes spielte für die große Verbreitung des Festes eine Rolle: Zur Entstehungszeit des Festes im 13. Jahrhundert und auch in den nachfolgenden Jahrhunderten haben viele Menschen nur sehr selten die heilige Kommunion empfangen. Ehrfurcht oder auch Ängstlichkeit waren der Grund dafür; sie fühlten sich nicht würdig. Aber sie wollten den Leib Christi wenigstens sehen, ihn anbeten in der Gestalt des Brotes. Diese Anbetung gehört bis heute zur katholischen Gebetspraxis in vielen Gemeinden, Gruppen und Klöstern, obwohl es jetzt für viele Menschen selbstverständlich ist, im Gottesdienst auch die heilige Kommunion zu empfangen. Die Eucharistie zu sehen – dieses Verlangen lässt später auch die Prozessionen aufkommen, die charakteristisch für das Fronleichnamsfest werden. Außerdem verband man mit den Prozessionen das Gebet und den Segen an verschiedenen Altären im Freien. Die Menschen beteten für ihre vielen Anliegen: Sie baten um eine gute Ernte, um Gesundheit in Zeiten der Seuche, um Frieden in Kriegszeiten. Sie hielten Fürbitte in ihren großen und kleinen Sorgen.

Musik 4: Anton Bruckner: Tantum ergo (CD: Choral Music of Hassler and Cornelius / The Exon Singers / Ltg.: Christopher Tolley [8] 2:20).

Das ist eine gute Entwicklung

Während der Prozession an Fronleichnam wird traditionell viel gesungen. Die Gesänge betonen die wahre Gegenwart Christi in der Gestalt des Brotes. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte vielerorts in Deutschland die Prozession auch einen anti-evangelischen Charakter. Gegenüber den Christen der anderen Konfession sollte der wahre Glauben herausgestellt werden. Evangelische Gemeinden reagierten nicht selten mit Störaktionen. So höre ich es immer einmal wieder von älteren Menschen, die von solchen Erfahrungen berichten. Das musste ich in den 1970er und 80er Jahren Gott sei Dank so nicht mehr erleben. Heute kommt es oft sogar vor, dass evangelische Gemeinden sich beteiligen oder die Glocken ihrer Kirchen läuten und damit die Festfreude der Glaubensgeschwister teilen. Das ist eine gute Entwicklung. Wir können uns als katholische und evangelische Gläubige respektieren und unterstützen, auch wenn wir nicht in allem einig sind und wir unsere je eigenen Formen und Traditionen pflegen. 

Die Reaktion der Menschen mit Gleichgültigkeit

Es ist nicht zu übersehen, dass die Begeisterung und das Verständnis für ein öffentliches Fest wie Fronleichnam heute abnehmen. Der Straßenschmuck wird in vielen Städten und Dörfern weniger, immer weniger Menschen gehen bei den Prozessionen mit. Es ist schon eine ganze Weile her, dass Passanten beim Vorüberziehen der Monstranz niederknieten oder das Kreuzzeichen machten. Heute reagieren Menschen oft mit Gleichgültigkeit, im besten Fall mit Neugier, im ungünstigsten Fall mit Kopfschütteln oder unfreundlichen Kommentaren, vielleicht mit Ärger, dass der Verkehr aufgehalten wird. Katholische Kirche ist eben für viele Menschen nicht mehr mit positiven Bildern oder Erfahrungen belegt. Manche finden, dass goldene Gefäße und Monstranzen eine nicht mehr zeitgemäße Prachtentfaltung sind; nicht selten können sie als reine Selbstdarstellung der Kirche und auch ihrer Amtsträger missverstanden werden. Sicherlich müssen wir immer neu nach stimmigen und überzeugenden Formen suchen. Aber ich werbe auch für echte Toleranz. Ich finde es trotz allem wichtig, dass wir als Gemeinschaft unseren Glauben nach draußen tragen, dass wir für unseren Glauben sozusagen demonstrieren.

Die Botschaft bleibt!

Denn Religionen haben auch einen öffentlichen Charakter. Und die Botschaft des Fronleichnamsfestes will allen Menschen Mut machen. Ob jemand so glaubt oder nicht: Die Zusage einer Liebe, die allen Menschen gilt, darf nicht verschwiegen werden. Ich halte es für wichtig, in die Öffentlichkeit zu tragen, was der Kern meines Glaubens ist, und auch die Quelle des Engagements so vieler in diesem Falle katholischer Christinnen und Christen. An Fronleichnam wird deutlich, dass die Kirche eine Glaubensgemeinschaft ist, die sich in öffentlicher Verantwortung sieht. Und Fronleichnam ist ein Fest der Freude. Ich werbe an einem solchen Tag dafür, religiöse und kulturelle Vielfalt neu wertschätzen zu lernen. Davon lebt auch unsere Gesellschaft. Ich hoffe, dass die katholische Farbenpracht vielleicht auch manchem Menschen etwas Freude und Hoffnung ins Herz gibt. Auch wenn Fronleichnam in diesem Jahr in kleineren Formen gefeiert werden muss: Die Botschaft bleibt. Und ich halte die Botschaft des Tages für zeitlos aktuell und bedenkenswert, nicht nur für katholische Menschen: Der Mensch lebt nicht vom Brot des Alltags allein, sondern von der Seelennahrung, die dieses Fest schenkt.

Musik 5: Christopher Tambling: Panis angelicus (CD: Geistliche Chorwerke | Butz The Embassy Singers / Ltg..: Andrew Sims; Orgel: Caroline Roth [4] 2:28).

 

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