"Lass dich nicht verhärten"
Das schreckliche Verbrechen im Frankfurter Hauptbahnhof hat mich richtig sprachlos gemacht. Wie so viele andere Menschen um mich herum. Ein Mann stößt ein wehrloses Kind und seine Mutter vom Bahnsteig. Das Kind wird vom Zug überrollt und stirbt. Die Mutter ist schwer verletzt. Und wird sicher ein Leben lang unter dem maßlosen Schmerz leiden.
Ich war weit weg. Trotzdem lässt mich das nicht los. Freunden und Bekannten geht es auch so. Ich merke, wie ich zwar auch das übrige Weltgeschehen verfolge. Aber eigentlich dringen nur die Meldungen zu der Tat in Frankfurt richtig zu mir durch. Fakten, Analysen, Statements. Der Täter: ein Mann aus Eritrea. Offenbar paranoid und kurz vorher schon einmal gewalttätig. Tatort und Tatzeit: pure Alltagswelt für Millionen von Menschen. Das Motiv: völlig unklar.
In diesem Strudel aus Meldungen und Bewertungen gibt mir ausgerechnet der Bericht einer Augenzeugin etwas Halt. Ich hab ihn am Mittwoch in der Zeitung entdeckt und lese ihn seitdem immer wieder. Er hat auch im Internet viel Beachtung gefunden - und viele zustimmende und dankbare Reaktionen erhalten. Verfasst hat ihn die Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs. Sie war nur zehn Meter von Gleis 7 entfernt, als die Attacke passiert ist.
Wenige Stunden später hat sie die enorme Kraftanstrengung geleistet, über dieses traumatische Erlebnis zu schreiben. Und ebenso ergreifende wie kluge Worte gefunden: Für die Widerwärtigkeit der Tat. Für ihre tief empfundene Anteilnahme: vor allem natürlich für die Mutter, aber auch für andere Augenzeugen, die vom Schock überwältigt waren. Und dann formuliert sie am Ende noch eine eindringliche Bitte, die mir einfach aus dem Herzen spricht: Dass durch diese Tat das Klima in Deutschland nicht noch weiter vergiftet wird.
Mir ist beim ersten Lesen spontan ein Vers von Wolf Biermann eingefallen: „Lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.“ Denn ich hab gespürt: Obwohl sie so dicht am schrecklichen Geschehen war, hat sich Frau Schmidt-Friderichs eben nicht verhärten lassen. Sie denkt an die Einzelnen – und hat auch das Ganze im Blick. Für mich ist sie beim Umgang mit diesem entsetzlichen Geschehen ein Vorbild: Ich bin fassungslos, traurig und wütend. Aber ich will mich nicht verhärten lassen.