Fremde werden Freunde
Wenn ich an den Roman „Moby Dick“ denke, hab ich ehrlich gesagt nicht die dicke Erwachsenenausgabe im Kopf. Sondern eine gekürzte Jugendbuchversion. Die hab ich als Schüler in einem Rutsch gelesen. Mich hat diese Geschichte von Hermann Melville absolut fasziniert, der übrigens heute vor 200 Jahren geboren wurde.
Der Roman handelt von einem jungen amerikanischen Matrosen namens Ismael. Er heuert auf einem Segelschiff an, das auf einer aberwitzigen Irrfahrt um die halbe Welt einen geheimnisvollen weißen Wal namens Moby Dick jagt. Und dies nur aus einem Grund: Der ebenso charismatische wie verrückte Kapitän Ahab will sich an dem Tier rächen. Er hat nämlich bei einer Attacke auf den Wal ein Bein verloren. Auf die Mannschaft warten zahllose dramatische Ereignisse, die einem ziemlich viele kluge Einsichten über das Leben und die Welt vermitteln.
Für mich ragt dabei eine Stelle heraus, die vor der eigentlichen Reise spielt: Sie hat mich als Kind besonders fasziniert, und auch heute denke ich immer wieder mal an sie zurück. Darum geht es: Bevor Ismael auf dem Boot anheuert, muss er in einer Seemanns-Herberge die Schlafstelle mit einem unheimlichen Fremden teilen, den er zunächst nicht zu Gesicht bekommt: dem Südsee-Insulaner Queequeg. Geschickt erzählt der Roman, wie Ismael erst wahre Horror-Vorstellungen von seinem Kojen-Genossen entwickelt – bis sich herausstellt: Queequeg hat zwar ein wildes Aussehen. Aber er ist eine Seele von Mensch. Aus Fremden werden Freunde, die gemeinsam mit Käpt´n Ahab auf die Reise gehen.
Ob mir die Schilderung der Begegnung zwischen Queequeg und Ismael geholfen hat, später mutiger auf Fremde zuzugehen? Ich kann mir das durchaus vorstellen. Deshalb denke ich heute, an seinem 200. Geburtstag, mit einem dankbaren Gefühl an den Moby-Dick-Autor Melville. Und ich nehme mir vor, mir diesen Mut zu bewahren. Denn ich habe ihn oft als große Bereicherung empfunden: Immer wieder habe ich ganz konkret erfahren, wie aufgrund einer kleinen Portion Mut aus Fremden Freunde werden können.