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Die Notwendigkeit des Himmels
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Die Notwendigkeit des Himmels

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel

Es tut mir leid. Bis heute, nach über fünfzig Jahren noch. Ich würde mich gerne entschuldigen bei „Fräulein Elisabeth“. So hieß meine Kunstlehrerin. Alle nannten sie nur „Fräulein“, das machte man damals so. Vielleicht wollte sie es. Ich war nicht gut zu ihr. Sie war um die sechzig und schwer gezeichnet. Die Füße von Fräulein Elisabeth steckten in dicken Schuhen. Immer. Sie trug nur Röcke. Und immer dieselben schwarzen, hohen Schnürschuhe, die bis weit über die Knöchel reichten. Ihre Füße allein trugen sie nicht, deswegen die festen Schuhe. Sie gaben Halt. Von einer Krankheit der Füße wussten wir Kinder nichts, oder wollten es nicht wissen. Lieber machten wir uns lustig. Ich war kein guter Schüler, dafür ein lauter und manchmal böser. Oft war ich mir selbst im Weg. Das lässt man gerne an anderen aus. Fräulein Elisabeth war so ein Opfer. In Worten und Liedern. Sie trug es mit Fassung. Oder hörte weg. Wenn ich an sie denke, habe ich ein schlechtes Gewissen. Heute würde ich mich entschuldigen.

Das geht nicht. Fräulein Elisabeth lebt schon lange nicht mehr. Viele leben nicht mehr, denen man das Leben schwer gemacht hat. In der Schule, im Beruf, in den Familien. Eines Tages gehen sie und nehmen ihren Schmerz mit ins Grab. Wir anderen bleiben zurück mit der Schuld. Oder die Kranken - ihr halbes Leben haben sie gelitten, wohl wenig Freude gehabt. Dann sterben sie. So vieles gibt es, was das Leben nie ausgleicht. Liebe, die ohne Dank bleibt. Schmerzen, Scham und Schuld, die nicht ausgelöscht werden auf Erden. Die trägt man und trägt sie bis zum Ende. Wie gerne würde ich Fräulein Elisabeth sagen, dass mir meine Dummheit von damals leid tut. Das bisschen Leben auf Erden darf doch nicht alles gewesen sein. Die vielen Fäden, die lose herumliegen, müssen doch irgendwo hinführen.

In den Himmel, glaube ich. Erst da sind unsere Geschichten zu Ende. Der Tod beschließt mein Leben. Nicht aber die offenen Fragen. Die Schuld, unnötige Schmerzen; Liebe, die schön war, ohne dass jemand dafür dankte. Der Himmel ist nötig, um aus losen Fäden ein großes Ganzes zu knüpfen. Und ich endlich verstehe. Spätestens dann. Im Himmel sehe ich in einen Spiegel, der mir die Wahrheit über mich zeigt. Oft kenne ich sie ja längst, wie bei Fräulein Elisabeth. Im Stillen bitte ich sie hier schon, mir zu verzeihen. Dann trage ich weniger Last dorthin.

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