Ihr Suchbegriff
Muttertrost
Bildquelle Pixabay

Muttertrost

Gabriele Heppe-Knoche
Ein Beitrag von Gabriele Heppe-Knoche, Evangelische Pfarrerin, Kassel

Kurz bevor das Leben meines Vater zu Ende ging, sagte er im Krankenhaus bei einem Besuch: Mutter hat gerufen. Ich muss nach Hause. Und dabei stand er auf und wollte aus dem Krankenzimmer gehen. Er wusste damals genau, dass er immer mehr vergessen würde, dass er die Kontrolle über sich selbst schon seit einiger Zeit nicht mehr hatte. Er war unruhig und wollte immer wieder aufspringen und losgehen.

Mutter hat gerufen. Ich muss nach Hause. Es sind diese Worte und vielleicht noch zwei, drei Sätze mehr, die mir von ihm aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben sind. Sofort war mir klar, dass er mit zu Hause keinesfalls das Haus meinte, in dem wir so viele Jahre als Familie gelebt hatten und das er selbst gebaut hatte. Er meinte das Haus seiner Kindheit, in dem wir mit Großeltern, Onkel und Tante wohnten, bis es dann für alle dort zu eng wurde.

Seine Mutter war die unbestrittene Herrscherin in diesem Haus. Eine kleine, unscheinbare Frau, die immer ganz genau wusste, was sich gehörte und was nicht. Sie traf Entscheidungen und erwartete Gehorsam. Mein Vater erzählte uns Kindern immer lachend, wie sie bei irgendwelchen Streitereien unter den 8 Kindern zuerst ihn, den ältesten Sohn, packte und ihm eine Tracht Prügel verabreichte, bevor sie fragte, worum es ging. Er hat es ihr nicht übel genommen. Im Gegenteil. Da war immer ein großer Respekt zu spüren, wenn er von ihr sprach. Und als sie am Ende sterbenskrank war, ging er jeden Tag nach der Arbeit immer zuerst an ihr Bett.

Mutter hat gerufen. Ich muss nach Hause. – Sie ist ihm vorausgegangen. Seine Mutter war für ihn wie ein starkes Seil, das einer ins Wasser wirft, das man ergreifen und festhalten kann, wenn man zu versinken droht. Diese zentrale Lebensbeziehung hat ihn am Ende gezogen und hoffentlich auch gehalten. Der letzte Weg führt nicht ins Vergessen, sondern nach Hause. Einen tieferen Trost kann es nicht geben.

Meine Großmutter war eine fromme Frau. Vieles nahm sie als Gottes Willen und fügte sich. In meiner Erinnerung bleibt von ihr das Bild wie sie bei schweren Wolkenbrüchen, wenn die Straße hinter unserem Haus sich in einen schlammigen Fluss verwandelte, der Keller voll Wasser lief und die Blitze zuckten, mit ihrem Gesangbuch am Fenster sitzt. Welches Seil hat sie wohl am Ende gezogen? Was oder wer hat sie hinübergebracht auf die andere Seite, auf die wir zugehen? Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. So stellt Gott sich beim Propheten Jesaja vor. Die Jahreslosung für das Jahr 2016. Gott wie eine Mutter, die diese letzte Zuflucht bietet, die das Seil auswirft, an dem wir uns festhalten können. Wenn wir ans Ende kommen, ruft sie uns nach Hause.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren