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Die Revolution der Schafe

Die Revolution der Schafe

Helmut Schlegel
Ein Beitrag von Helmut Schlegel, Franziskanerpater, Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter, Frankfurt
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Ich liebe Schafe und Schafherden. Darum hat mich das Foto so angesprochen, das mir eine Freundin von ihrem Urlaub an der Nordsee geschickt hatte. Eine Schafherde hatte besonders wohlschmeckende Gräser entdeckt und den Fahrradweg, an dem sie wuchsen, gänzlich blockiert. Die armen Radler mussten absteigen und warten. Und fotografieren. Ich schmunzelte: Die kuscheligen Tiere, seit Jahrtausenden Symbolträger für Geduld, Sanftmut und Folgsamkeit, können auch bockig und widerständisch sein, dachte ich. Gut so!

Eine Stunde später – im Gottesdienst – fiel es mir auf: Drei Mal „Agnus Dei – Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt. Erbarme dich unser. Gib uns den Frieden“. Und vor der Kommunion noch einmal: „Seht das Lamm Gottes“. Kirchensprache. Verstehen Menschen von heute solche Worte: Lamm Gottes, Opferlamm, Hirten und Schafe? Sind die Bilder nicht sogar gefährlich? Wie Schafe ihren Hirten, so sollen gute Untertanen ihrer Obrigkeit folgen. Oft genug wurde das so gelehrt und praktiziert. Zu oft. Was solche Sätze anrichten können, zeigt ein Blick in die deutsche Geschichte. Oder in die katholische Kirche. Mir wurde schmerzlich bewusst, wie weit entfernt viele politische Systeme von der Vision Jesu sind. Und das gilt auch für eine hierarchische, männerbeherrschte Kirche.

Im Jahre 1713 hat Johann Sebastian Bach das Lied „Schafe können sicher weiden“ komponiert. Es ist ein Stück aus der so genannten Jagdkantate „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“. Eines der profanen Werke aus der Feder des großen Barockkomponisten. Uraufgeführt als festliche Tafelmusik für den Fürsten Christian von Sachsen-Weißenfels am Abend seines 31. Geburtstages. Eine wunderschöne Komposition. Der Text allerdings irritiert mich: „Schafe können sicher weiden, wenn ein guter Hirte wacht. Wo Regenten wohl regieren, kann man Ruh und Friede spüren. Und was Länder glücklich macht.“ Ich mag Schafe und gönne ihnen gute Weiden, aber derart feurige Lobgesänge auf Regenten sind mir eher suspekt. Hören Sie das Lied in einer Instrumentalversion.

Musik 1: Johann Sebastian Bach: „Schafe können sicher weiden...“ (aus der Jagdkantate) - CD „Spark“ – Songs in Other Words, Nr. 1

196 Mal ist in der Bibel die Rede von Lämmern oder Schafen. Da sind großartige Texte dabei. Aber auch solche, die mich erschrecken oder ärgern. Der Prophet Jesaja schreibt: Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg.“ (Jes 53, 6)

Oft ist in der Bibel die Rede vom eigensinnigen Schaf, das sich von der Herde absetzt und allein seinen Weg finden will. Ich kenne solche Warnungen aus meiner Kinderzeit: Ein braves Kind gehorcht geschwind. Richte dich nach dem, was die anderen tun. Halte dich an die Gebote Gottes und der Kirche. Es mag ja auch Richtiges an solchen Ermahnungen sein. Ohne Zweifel sind wir gerade heute in Gefahr, einem bedrohlichen Individualismus zu huldigen. Dabei sind die Werte der Gemeinschaft und der Solidarität in Gefahr. Der Ego-Trip dient weder unserem persönlichen Glück noch dem sozialen Frieden. Ich mag diesen erhobenen Zeigefinger trotzdem nicht. Ich sehe im Schutz der Privatsphäre eine der großen Errungenschaften der Neuzeit. Und ich bin dankbar für die Menschenrechte, die uns Meinungsfreiheit und auch Religionsfreiheit zugestehen.

Da gefällt mir das Gleichnis Jesu vom guten Hirten viel besser. Dieser verlässt seine Herde und geht dem verlorenen Schaf nach. Wörtlich heißt es dann: „Und wenn er es gefunden hat, legt er es mit Freuden auf seine Schultern; und wenn er nach Hause kommt, ruft er die Freunde und die Nachbarn zusammen und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.“ (Lk 15, 5f.) Mit dem Hirten meint Jesus Gott selbst, der keinen Menschen verloren gehen lässt. Ich finde, mit diesem Gleichnis stellt Jesus das Bild vom unterwürfigen Schaf auf den Kopf und lobt den Menschen, der selbstbewusst und mutig durchs Leben geht, auch wenn er sich dabei irrt oder verläuft. Der Hirte Gott belohnt nicht die gedankenlosen Kopfnicker. Nein, er liebt auch die Widerständigen. Und er liebt die schwarzen Schafe ebenso wie die weißen.

Musik 2: Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger - The Passion of Musick, Nr. 2, John Adson, Adson's Masque

„Der Schäfer ist wieder da!“ – Das war eine gute Nachricht für uns Kinder. Ich bin in Oberschwaben südlich der Donau aufgewachsen. Wenn es dem Winter zuging, kamen Schäfer mit ihren Herden von der Schwäbischen Alb herunter. Im Flachland Oberschwabens war es noch nicht so verschneit wie auf der Höhe. Der Schäferwagen mit den kleinen Fenstern und der stets verschlossenen Türe kam uns vor wie eine geheimnisvolle Schatzkiste. Der Schäfer hielt sich meist im Freien auf, trotz der Kälte. Zwischen ihm und den Schafen gab es klare Absprachen. Und der schwarze Hund war verantwortlich dafür, dass sie gehalten wurden. Ackerfelder waren tabu. Die Bahngleise waren auch tabu. Und beim Überqueren der Straße musste es schnell gehen. Das wussten die Schafe und ein Pfiff für den Hund sagte mehr als Schreie oder Gestikulieren.

Ich weiß noch, dass der Schäfer uns erklärte: „Meine Schafe nehmen den Bauern nichts weg. Sie fressen nicht nur Gras, sie lassen auch etwas da. Meine Schafe scheiden mit dem Kot unzählige Samen aus, die hier keimen und Wurzeln fassen. Schaut euch die vielen Gräser an, die hier wachsen. Und im Frühjahr kommen tausende von Bienen und Käfer“.

„Der Schäfer ist wieder da.“
– Leider ist das heute auch in meiner Heimat eher selten geworden. Die Preise für Wolle und auch für Lammfleisch sind auf einem Tiefpunkt angekommen. Eine Katastrophe – nicht nur für die Wanderschäfer. Eine Katastrophe für unser Ökosystem. Wo es vor Jahren noch tausende Wildkräuter gab, wo es vor Insekten nur so wimmelte, da haben nicht nur die Pestizide, sondern auch der Niedergang der Schafszucht verheerende Folgen. Die Artenvielfalt ist bedroht. Und wir fühlen uns ganz ohnmächtig vor dieser Bedrohung.

Musik 3: Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger - The Passion of Musick, Nr. 9, Time from „English Dancing Master“, Parson's Farewell

Sind wir tatsächlich ohnmächtig gegen das Artensterben und den Klimawandel? Viele Schülerinnen und Schüler haben uns aufgeweckt mit ihrer Bewegung „Fridays For Future“. Freitag für Freitag demonstrieren sie in den Städten – inzwischen weltweit. Auf dem Evangelischen Kirchentag zu Dortmund sprach Luisa Neubauer, der Kopf der deutschen Bewegung, und mahnte ihre Zuhörer mit eindringlichen Worten: "Ich sehe die jungen Menschen, (...) die fragen: Sind wir noch zu retten? Und wir wissen es nicht. Wir müssen uns davon verabschieden, dass andere Menschen für uns die Welt retten werden."

Und weiter sagte sie: „Liebe Menschen, die Sie sich mit Religion, Glaube, Gott, Frieden, Schöpfung, Hoffnung beschäftigen, werdet zu unseren Verbündeten! Schließt euch uns an, werdet zu denjenigen, die die Welt selbst retten, die die Ärmel hochkrempeln. Die sich nicht aufhalten lassen von Leuten, die Angst vor der Zukunft haben.“ Luisa Neubauer beendete ihre Rede auf dem Evangelischen Kirchentag mit einem Satz, der mich aufhorchen ließ: „Es wäre nicht das erste Mal, dass die Kirche an einer Revolution beteiligt ist.“ (zitiert nach BR 24).

Ja, das stimmt ja: Ohne die Kirche mit ihren Montagsdemonstrationen hätte es wohl keinen Mauerfall gegeben, damals 1989. Dreißig Jahre später traut diese junge Frau, die damals noch gar nicht gelebt hat, den Kirchen wieder eine revolutionäre Kraft zu. Das beeindruckt mich. Andererseits waren es ja oft die Kirchen, die gewarnt oder gebremst haben, wenn etwas nach Revolution roch. War es nicht das Bild vom „gehorsamen Schaf“, das die Gläubigen zum Stillhalten aufforderte? War es nicht der Apostel Paulus, der seine Gemeinden ermahnte: „Wer sich (...) der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. (Röm 13,1f.)

Wie gut, dass eine junge Generation heranwächst, die sich von solchen Warnungen nicht einschüchtern lässt. Ich wünsche und hoffe, dass sie mutig ihren Weg geht. Dass sie auch weiterhin einer Obrigkeit, die halbherzige Entscheidungen trifft, die Stirn bietet. Und ich bete dafür, dass sie mit ihren Freitagsdemos eine immer größere Resonanz finden und Ähnliches bewirken können wie damals bei der Friedlichen Revolution 1989.

Musik 4: Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger - The Passion of Musick, Nr. 12, Traditional Irish Time, Sheehan's Reel

Mit dem Bild von Schafen und Lämmern verbinde ich noch ein anderes Wort, das uns heute eher gefährlich ist als dass es hilft: „Opfer“. – „Du Opfer“ ist ein ganz übles Schimpfwort unter Jugendlichen. Das bedeutet: „Du bist ein Looser, ein Versager.“

In der religiösen Praxis allerdings – und das gilt für fast alle Religionen – ist das Opferbringen gängige Praxis. In alten Zeiten wurden die Opfertiere – sehr oft Schafe oder Lämmer – auf den Altären geschlachtet. Das Opfer sollte die Gottheit gnädig stimmen. Jesus allerdings wollte nichts wissen vom Opfer – schon gar nicht von Tieropfern. „Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“ (Mt 9,13), schleudert er den Pharisäern entgegen, die kritisieren, dass er sich nicht an ihre Kultvorschriften halte.

Aber die Frage geht noch weiter: Gibt es überhaupt etwas, was ich Gott geben könnte und was ihn gnädig stimmt? Braucht es heute Opfer, die wir bringen sollten? Ganz gewiss: Dies ist ja auch eine entscheidende Frage in der Klimakrise. Was kann jede und jeder einzelnen von uns tun? Gewiss macht es Sinn, auf viel Fleisch oder häufige Flugreisen zu verzichten. Solche Opfer müssen wir bringen und ich bin überzeugt, dass auch der Schöpfergott sie von uns fordert. Um unserer eigenen Zukunft und der unserer Mitgeschöpfe willen. Trotzdem find ich das Wort Opfer schwierig. Und ich bin überzeugt: Gott liebt uns auch, ohne dass wir etwas leisten.

Besonders schwer tue ich mir mit der Vorstellung vom Opfertod Jesu. Kann es sein, dass unser Gott, den wir barmherzig nennen, den Sühnetod seines eigenen Sohnes zur Bedingung für unsere Erlösung macht? In der Theologie habe ich gelernt, dass der Sühnegedanken aus dem mittelalterlichen Rechtsverständnis kommt. Ein Verbrechen fordert nicht nur Strafe, sondern Wiedergutmachung, wurde gesagt. Das haben die Theologen dann auch auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch übertragen. Die Sünde beleidigt Gott, das erfordert Wiedergutmachung. Weil aber der Mensch in seiner Schwachheit die Sühneleistung für seine Sünden gar nicht erbringen kann, tut dies der Sohn Gottes. Ich will diesem Gedankengang eine gewisse Logik nicht absprechen, aber er stimmt einfach nicht mit dem Gottesbild Jesu überein. Jesus spricht nirgendwo davon, dass Gott seine Gnade an Opfer knüpft. Gnade – lateinisch gratia – ist gratis. Geschenkt. Ja, manchmal spüre ich etwas von diesem Geschenk und der fröhlichen Leichtigkeit des Glaubens. Auch und gerade beim Gesang vom „Lamm Gottes, das unsere Sünden hinwegnimmt“ – so wie hier im Agnus Dei von Mozart.

Musik 5: Wolfgang Amadeus Mozart Agnus Dei - (Coronation Mass) Missa Brevis in C Major - KV 317

Ja, es klingt sehr zuversichtlich – das Agnus Dei aus der Messe von Mozart – und so möchte ich es eigentlich auch singen und beten: dankbar und mit Genuss. Denn in diesem Gebet vom Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, steckt ja auch ein großes Vertrauen.

Was Jesus für mich so einzigartig macht, ist sein unerschütterliches Vertrauen. Für ihn ist Gott nichts anderes als Liebe. Er sagt das nicht nur. Er legt Kranken die Hände auf und heilt sie. Er spricht eine des Ehebruchs bezichtige Frau frei. Und dem Verbrecher, der mit ihm gekreuzigt wird, sagt er das Paradies zu. Sein Tod ist die Konsequenz der Liebe. Er läuft nicht weg angesichts seiner Gegner. Er befiehlt dem Jünger, der ihn bei seiner Gefangennahme verteidigen will, das Schwert wegzustecken. Keine Gegenwehr. Er leistet den Widerstand der Gewaltlosen. Den Widerstand des Lammes.

In diesem Sinn kann ich das Agnus Dei hören und singen. In diesem Sinn kann ich beten: „Du nimmst hinweg die Sünde der Welt“. Hinweg das „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Hinweg das Kriegsspiel: Starker Wolf und schwaches Lamm. Vielleicht ist auch das die Kraft, von der die Fridays-For-Future-Aktivistin Luisa Neubauer beim Kirchentag gesprochen hat: „Es wäre nicht das erste Mal, dass die Kirche an einer Revolution beteiligt ist“. Auch die Revolution in der DDR damals geschah ja friedlich, leistete gewaltlosen Widerstand. Es gibt sie wirklich: Die Revolution des Lammes.

Musik 6: Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger - The Passion of Musick, Nr. 27, Henry Purcell, Prelude in D Minor, ZN 773

Schafe sind weder dumm noch unterwürfig. Schafe sind – ja, ich wage es zu sagen: revolutionär. Sie verändern die Welt – mit Ausdauer und gewaltlosem Meckern. Und sogar mit ihrem Mist.

Vor ein paar Jahren habe ich den Kriminalroman „Glenkill“ von Leonie Swann gelesen. Ein Schafskrimi, sehr lustig, aber mit ernstem Hintersinn. Miss Maple heißt die Protagonistin, und die Autorin behauptet, es sei das klügste Schaf der Herde und vielleicht sogar der ganzen Welt. Miss Maple – Sie hören richtig: nur ein kleiner Buchstabe trennt sie von Agatha Christie‘s berühmter Detektivin Miss Marple! – Miss Maple also macht sich auf die Suche nach dem Mörder ihres Hirten George. Mit einer Spürnase, wie sie wohl nur Schafen zu eigen ist, geht sie allen Zeichen und Hinweisen nach, die sie zwischen Schäferkarren und Weideplätzen, zwischen Felsenklüften und Dorfschenke erschnüffeln kann. Die ganze Herde wird eingeweiht und anders als es bei Menschen üblich ist, halten die Tiere dicht. Ja, sie betätigen sich alle als Detektive, und schließlich gelingt es, den Mörder ihres geliebten Schäfers zu entlarven.

Der Roman ist nicht nur witzig und genial geschrieben, er entlarvt auch treffend unseren menschlichen Hochmut. Die Rede vom „dummen Schaf“ ist selbst dumm - und arrogant zugleich. Und mehr noch: es ist vielleicht eine der größten Sünden der Menschheit, dass wir uns bis heute über die Tier- und Pflanzenwelt erheben. Die Geschichte von Miss Maple und ihren Mitschafen zeigt auf humorvolle Weise: Auch wir werden nur als Partnerinnen und Partner der anderen Geschöpfe überleben.

So gefällt mir das Bild dann doch: Das Agnus Dei, Lamm Gottes, Symbol des österlichen Aufstands. Dafür hat Jesus gelebt. Dafür ist er gestorben und auferstanden. Dafür lohnt es sich zu leben. Auch heute.

Musik 7: Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger - The Passion of Musick, Nr. 28, Henry Purcell, Dance for Chinese Man and Woman

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