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Barmherzigkeit üben
Pixabay/Mircea Iancu

Barmherzigkeit üben

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Wenn ich zum Einkaufen gehe, sitzt vor dem Supermarkt ein Mann mittleren Alters. Eine Decke schützt ihn vor der Kälte und vor sich hat er eine kleine Holzkiste mit ein paar Münzen aufgestellt. Das ist das Zeichen für die Vorübergehenden, sie könnten dort eine Gabe hineinlegen. Er fordert niemanden auf, ihm etwas zu geben. Das hat einen Grund, denn in Deutschland ist das sogenannte „stille Betteln“ erlaubt, während laute Appelle als Nötigung ausgelegt werden könnten. Deshalb wünscht der Mann vor meinem Supermarkt nur einen „Guten Morgen“, um auf sich aufmerksam zu machen, sonst sagt er nichts.

Organisierte Bettelei?

Mir gehen einige Gedanken durch den Kopf, wenn ich an ihm vorbei in den Laden gehe. Er kommt nicht aus Deutschland, das ist zu erkennen, nach seinem Akzent zu urteilen vielleicht aus Rumänien. Da wittere ich organisierte Bettelei, die von Banden gewerbsmäßig betrieben wird. Ganz schlimm, weil die Armen noch ausgenutzt werden. Und ich denke an die Sozialhilfe, die Notleidenden doch das dringend Erforderliche gibt. Da müsste Betteln doch unnötig sein. Und noch anderes geht mir durch den Kopf: Wahrscheinlich gibt der das gesammelte Geld nur für Alkohol aus oder kauft davon Zigaretten, und so weiter. Es gibt viele Gedanken, die mich in der Begegnung mit armen Menschen beschäftigen.

Angst, das Gefühl der Barmherzigkeit zu verlieren

Wenn ich dann aus dem Supermarkt wieder herauskomme, lege ich ihm trotzdem Geld in sein Kistchen. Und das hat einen besonderen Grund, der gar nicht so direkt mit dem bettelnden Mann zu tun hat, jedenfalls nicht nur. Ich gebe die Gabe, um mir selbst einen Gefallen zu machen. Ich tue es aus lauter Sorge, das Gefühl der Barmherzigkeit verlieren zu können. Das Leben ist in der letzten Zeit hart geworden. Immer häufiger ertappe ich mich dabei, die Hiobsbotschaften nicht mehr an mich heranzulassen. Die Barmherzigkeit hat sich dann irgendwo in meiner Seele zurückgezogen, zugeschüttet von Ängsten und Ausreden.

Das Elend dieser Welt ausblenden

Ich möchte das Elend dieser Welt am liebsten ausblenden. Das geht ganz leicht: einfach keine Nachrichten mehr anschauen, Krimis meiden, stattdessen schöne Musik hören, Bücher lesen und sich mit Freunden treffen. Das geht schon. Aber wenn ich meine Augen auf diese Weise vor dem Elend verschließe, geht auch vieles verloren. Zum Beispiel mein Gefühl für Situationen, in denen barmherziges Verhalten angesagt ist. Und irgendwann kommt mir dann die Barmherzigkeit abhanden.

Das Herz öffnen, verändert das Leben

In der lateinischen Sprache heißt sie misericordia. Übersetzt bedeutet es: das Herz senden oder das Herz öffnen. Ich finde, das ist ein schöner Ausdruck, weil er zeigt, wie diese Haltung mir selbst zugutekommt. Wenn ich mein Herz öffne, verändert das mein Leben, es schenkt Hoffnung und ein bisschen Freude.

Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass die Barmherzigkeit in allen Religionen als oberste Tugend gilt: Dem Herzen folgen, das muss tatsächlich geübt werden, damit es Barmherzigkeit weiterhin gibt.

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