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Von Angesicht zu Angesicht
Bild: Tobias Dahlberg/ Pixabay

Von Angesicht zu Angesicht

Andrea Weitzel
Ein Beitrag von Andrea Weitzel, Katholische Schulseelsorgerin und Religionslehrerin, Hanau
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Irgendwann war der Schatten da. Er legte sich wie ein Schleier über alles. Farben verloren ihre Kraft. Formen ihre Kontur. Bald darauf schienen Gegenstände und Personen sich zu verdoppeln wie zwei schlampig aufeinander gelegte Folien des gleichen Bildes. Da war er also: der Graue Star in den Augen meiner Mutter. Er führte dazu, dass sie sich zurückzog. Sich zeitweise einschloss nicht nur in ihrer Wohnung, sondern auch in ihren Gedanken und Erinnerungen.

Und das können wir, die Familie, ihr von Mal zu Mal mehr ansehen. Ganz offensichtlich daran, dass ihre sonst so aufgeweckten und strahlend grünen Augen eintrüben. Wir besprechen, dem Grauen Star medizinisch Einhalt zu gebieten. Eine entsprechende Operation sei möglich, grundsätzlich unkompliziert und erfolgversprechend.

Durch eine OP die Augen im übertragenen Sinne wieder öffnen

Und so begleite ich meine Mutter zu ihrer Operation. In der Praxis begegnen mir, wie sollte es auch anders sein, etliche Menschen mit zugeklebtem Auge. Zum Teil noch etwas benommen vom gerade überstandenen Eingriff tasten sie sich an den Armen ihrer Angehörigen an den Wänden entlang. Daran hängen überall großformatige, wunderschöne Bilder von wachen, lächelnden Augen. Sie sind ein großer Kontrast, nicht nur zu den Augen meiner Mutter. Und ich ahne, in ihnen steckt auch die Verheißung einer Hoffnung. Unsere Hoffnung darauf, dass uns morgen schon unsere Mutter zumindest mit einem Auge viel klarer ansehen würde.

Während ich also warte und ein Gebet spreche, fallen mir die vertrauten Worte einer Bibelstelle aus dem 1. Korintherbrief ein. „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich nur unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“

Ist nun Dein Auge klar, wird Dein ganzer leib im Lichte sein (Matthäus 6,22)

Bis in den nächsten Tag hinein begleiten mich nun diese Gedanken. Dann ist es soweit und der Verband wird abgenommen. Von Angesicht zu Angesicht stehe ich meiner Mutter gegenüber und erkenne direkt die erhoffte wiedergewonnene Klarheit ihres Blickes. Und sie bestätigt es, wenn auch in etwas anderen Worten: Die rätselhaft gewordenen Umrisse ihrer Umgebung werden wieder schärfer. Gott sei Dank. Sie lächelt. Ich lächle zurück in der Gewissheit, dass sie mein Lächeln endlich wieder ebenso erkennen kann wie ich ihres. Da ist sie also wieder, meine Mutter!

In diesem Moment erkenne ich in meinem Herzen eine neue Facette dieser längst bekannten Bibelstelle. Das geschieht einfach mal fern aller wichtigen und absolut notwendigen Bibelwissenschaft. Denn das nächste Mal, wenn ich diese Worte aus dem Korintherbrief hören werde, werden sie um eine ganz persönliche Erfahrung reicher sein. Dann nämlich werde ich vor meinem inneren Auge meine Mutter vor ihrem Spiegel stehen sehen. Und sie wird mir aus ihren strahlend grünen Augen durch ihn hindurch zulächeln.

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