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Ich war noch niemals in New York - Aufbrechen im Alltag
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Ich war noch niemals in New York - Aufbrechen im Alltag

Anne-Katrin Helms
Ein Beitrag von Anne-Katrin Helms, Evangelische Pfarrerin, Erlösergemeinde Frankfurt-Oberrad
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Ansgar Wucherpfennig
Es gibt Zeiten, da finde ich meinen Alltag richtig öde. Da kann dann noch nicht einmal der Frühling etwas dran ändern, jetzt, wenn alles blüht. Beim Frühstück rühre ich in meiner Tasse, denn der Kaffee hat schon wieder den gleichen faden Geschmack wie seit Wochen. Ich denke an die Sitzung, die mich erwartet, an die gleiche Frage, an der wir schon seit Monaten sitzen und einfach nicht vorankommen, weil wir immer wieder aneinander vorbeireden. Dann gehe ich über den Gang mit den grauen Türen und den sterilen Lampen zu meinem Büro, ich schalte unfroh den PC an und es öffnet sich mir eine lange Liste von Verwaltungsmails, die noch nicht bearbeitet sind.

Dem Alltag entfliehen - der Sehnsucht Raum geben

Dann denke ich mir manchmal: Endlich das Alte hinter sich lassen und mal was Anderes sehen und andere Menschen kennenlernen. Endlich mal dem Alltag entfliehen und der Sehnsucht Raum geben.

Anne-Katrin Helms
Mich erinnert das an ein Lied von Udo Jürgens aus den 80iger Jahren. Es heißt: „Ich war noch niemals in New York!“ und beginnt mit einer sehnsuchtsvollen Mundharmonikamelodie.

Musik: Udo Jürgens: Ich war noch niemals in New York

In Udo Jürgens Lied wird von einem Familienvater erzählt, der auf dem Weg zum Zigarettenkaufen überlegt, ob er sein kleinbürgerliches, enges Leben hinter sich lässt und einfach ganz weg geht.

„Und auf der Treppe dachte er
Wie wenn das jetzt ein Aufbruch wär'
Ich müsste einfach gehen für alle Zeit.“

Und dann gibt er seiner Sehnsucht nach Weite und Abenteuer Ausdruck und singt:

„Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii
Ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans
Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei
Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen.“

Ich mag den Schlager von Udo Jürgens. Die Mundharmonika am Anfang des Liedes spielt mir die Sehnsucht nach Weite und Freiheit ins Herz. Wir Menschen haben viele große und kleine Lebensträume. Sie schlummern in Köpfen und Herzen knapp unter der Oberfläche. Mit dem Lied von Udo Jürgens kommen sie ans Licht.

Mehr Zeit im Alltag

Ansgar Wucherpfennig
Da kann ich gut mit, einfach mal Ausbrechen. Seit Jahren schon würde ich mir gern mehr Zeit nehmen für die Musik. In den Ferien gelingt es mir ganz gut, aber im Arbeitsalltag finde ich meist nur Randzeiten. Ich träume davon, einfach mal ein paar Wochen irgendwo mit dem Saxophon und ein paar anderen Musikfreaks an das Meer zu fahren, den ganzen Tag zu üben, dass auch die schwierigen Passagen endlich mal richtig sitzen, Musik zu hören, und zu überlegen, was wir uns von ihnen abschauen können, und in den Pausen das Meer zu genießen, Baden und lange Strandspaziergänge.

Ausbrechen - gerade wenn alles zu viel wird

Manchmal träume ich auch davon, tatsächlich diesem Impuls nachzugeben und meinen Alltag hinter mir zu lassen. Verrückt zu sein, so wie Udo Jürgens singt, und allen Pflichten und Zwängen zu entfliehen. Gerade dann, wenn mir mal wieder alles viel zu viel wird. Zu viel an zähen Diskussionen bei der Arbeit, an Anträgen, Gutachten oder auch Kleinkrams im Haushalt. Zu viel auch an den aussichtslosen Nachrichten aus der Politik: Anschläge, global warming, Rechtsradikale. Und zu wenig Inhalt, Perspektive und blauer Himmel in meinem Leben. Und dennoch mache ich weiter.

Eine große Sehnsucht

Anne-Katrin Helms
Auch ich denke mir oft: Hilft ja nichts. Einfach weitermachen – das ist auch schon etwas. Jedenfalls besser, als aufzugeben und den Kopf in den Sand zu stecken.

Nur manchmal, zwischendurch: Da kommt die ganze große Sehnsucht in mir hoch. Nach einem neuen Aufbruch. Danach, dass sich doch nochmal alles zum Guten wendet. Dass wir mutig Neues anpacken.

Zu anderen Zeiten schien der Mut zum Aufbruch größer

Ansgar Wucherpfennig
Mutig Neues Anpacken, … diese Stimmung habe ich schon in einigen Zeiten erlebt: in der Erneuerung in der katholischen Kirche bis Mitte der 80er Jahre, in der Umweltbewegung, in der politischen Wende 1989. Heute scheint mir diese Aufbruchstimmung weit weg. Die Sehnsucht, dass sich alles zum Guten wendet und der Mut, den diese Sehnsucht wachsen lässt – beides ist wie verschüttet, begraben unter Sorgen.

Aufbruch braucht Vertrauen

Aber wie lässt es sich Mut wiedergewinnen, den eigenen Sehnsüchten nachzugeben, sie anzupacken für die Zukunft? Ich bin überzeugt: es braucht dafür vor allem ein elementares Lebensvertrauen: dass der Boden unter meinen Füßen trägt, der Himmel mir nicht auf den Kopf fällt, Menschen es gut mit mir meinen und Gott auch. Aber ein solches Vertrauen lässt sich nicht einfach vorschreiben. Keiner kann befehlen: Jetzt vertraut doch mal, lasst uns mutig aufbrechen!

Deshalb frage ich mich oft: Wie kann ein neuer Mut entstehen?

Musik:  Ack van Rooyen and the Metropole Orchestra:  My Ideal

Anne-Katrin Helms
Für mich als Christ hat die Frage nach neuem Mut in schweren Zeiten viel zu tun mit der Geschichte von der Auferstehung Jesu und der Kraft, die in dieser Geschichte steckt. Die trage ich auch heute, drei Wochen nach Ostern, mit mir.

Eine Geschichte von verlorenem Vertrauen

Dabei beginnt auch diese Geschichte mit verlorenem Vertrauen. Die Frauen und Männer, die Jesus gefolgt waren, hatten nach seinem Tod allen Mut verloren. Und schlimmer noch. Im ältesten Evangelium nach Markus ist es so: Als einige Frauen nach drei Tagen zum Grab kommen, ist das Grab leer. Der Leichnam Jesu ist weg.

Aber im Grab sitzt einer. Ein Engel vielleicht. Im Evangelium nach Markus heißt es einfach Ein junger Mann. Der sagt den Frauen, dass Jesus auferstanden ist und schickt sie mit dieser Botschaft zu den anderen Jüngern. Denen sollen die Frauen sagen: „Jesus, der Auferstandene geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen.“

Doch die Frauen sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich. So endet die Geschichte im Markusevangelium in der Bibel.

Ein offenes Ende

Ansgar Wucherpfennig
Über dieses Ende des Evangeliums ist in der bibelwissenschaftlichen Forschung in vergangenen Zeiten viel diskutiert worden. Manche meinten, dass dieses abrupte Ende nicht alles ist. Sie gingen davon aus, dass das Evangelium länger sein müsste und das ursprüngliche Ende verloren gegangen ist. Auch die ersten Christen konnten dieses Ende mit Schrecken wohl nicht als frohe Botschaft begreifen. Deshalb haben sie das Markusevangelium auch schon ganz früh erweitert und ein versöhnlicheres Ende angefügt mit Geschichten, in denen Menschen dem auferstandenen Jesus begegnen. Heute nehmen allerdings die meisten Bibelwissenschaftler an, dass das Evangelium vermutlich doch ursprünglich damit geendet hat: Die Frauen fliehen vom Grab. Trotzdem bleibt auch in mir eine Sehnsucht nach einem guten Ende. Und wie die ersten Christen überlege auch ich: Was ist denn danach passiert? Haben die Frauen vielleicht doch die Botschaft des Engels weitererzählt? Sind die Jünger tatsächlich zurückgegangen nach Galiläa? Dorthin, wo sie ursprünglich hergekommen sind.

Das Ende deutet auf den Anfang

In den letzten Jahren hat mich eine neue Erklärung für das abrupte Ende im Markusevangelium überzeugt. Wenn die Frauen den Jüngern am Schluss sagen sollen: Geht nach Galiläa, dort wird euch Jesus erscheinen, dann ist das eigentlich eine Botschaft für diejenigen, die das Evangelium lesen. Sie sollen zurückblättern zum Anfang des Evangeliums. Denn da hatte alles in Galiläa begonnen, da hatte Jesus die Jünger aus ihrem Alltag herausgerufen. Die ersten vier Jünger haben ihre Fischernetze am Ufer und ihre Boote im See liegen lassen. Sie sind Jesus gefolgt und haben dabei ihr Leben neu gefunden. So sollen auch die Leserinnen und Leser des Evangeliums jetzt am Ende, wenn sie das Evangelium gelesen haben, zurück in ihren Alltag gehen und sich da von Jesus rufen lassen. Mit Jesus sollen sie ihr Leben neu entdecken. Die Geschichte von Jesus im Evangelium ist nur ein Anfang, der sich jetzt im Leben der Leserinnen und Leser weitergehen soll.

Zurück zum Alltag?

Anne-Katrin Helms
Das finde ich eine interessante Erklärung. Aber so ganz einfach finde ich sie auch nicht. Im Evangelium wird es ja nicht direkt den Leserinnen und Lesern gesagt. Die Frauen sollen es eben den Jüngern sagen. Zurück zur alten Arbeit als Fischer am See von Genezaret? Früh in der Nacht Aufstehen, die Sorge um das tägliche Essen, der alte Ärger mit den Leuten von nebenan. Das ganze neue Leben vorbei und alles wieder Alltag? Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Aussicht den Jüngern gefallen hat.  

Der Alltag ist nun anders

Andererseits: Nun ist doch alles anders. Denn wenn die Jünger jetzt zurückkehren nach Galiläa, dann tragen sie die Erlebnisse mit Jesus weiter. Sie waren mit ihm aufgebrochen, haben erlebt, wie sich mit ihm ihr Leben verändert. Sie haben erlebt, wie Blinde wieder sehen konnten, wie lange Kranke wieder gesund geworden sind. Ein paar Brote haben eine riesige Menge Menschen satt und zufrieden gemacht. Mit seinen Worten hat Jesus ihnen eine neue Hoffnung gegeben, aus ihrem grauen Alltag auszubrechen und dem Himmel nahe zu sein. Wenn die Jünger nun also nach Galiläa in ihren Alltag zurückkehren, dann verändert.

Ich glaube, so lässt sich das Ende des Evangeliums verstehen. Der Engel schickt die Jünger dorthin zurück, wo alles begonnen hat. Doch sie sollen diesen Ort und ihren Alltag jetzt neu sehen und zwar im Licht der Begegnung mit Jesus.

Und das gilt auch für mich, wenn ich heute diese Geschichte höre. In meinem eigenen Alltag: Mit der Botschaft von Jesus erscheint auch der in neuem Licht.

Musik: Und Jürgens: Ich war noch niemals in New York

„Ich war noch niemals in New York“ – der Mann in diesem Lied entscheidet sich am Ende gegen seine Sehnsucht und gegen die Freiheit. Er bricht nicht auf nach New York, sondern geht „wie selbstverständlich heim durchs Treppenhaus mit Bohnerwachs und Spießigkeit“.

Er kehrt zurück in seine Welt, aus der er losgegangen war. Ich finde: das Lied endet frustriert, so nach dem Motto: Ein Aufbruch lohnt nicht, dazu habe ich auch nicht den Mut. Dann ertrage ich eben den eintönigen Alltag mit seinen Routinen und Gewohnheiten.

Die Jünger Jesu sind nun verändert

Auch die Jüngerinnen und Jünger kehren nach dem Tod Jesu und seiner Auferstehung zurück in ihren Alltag. Aber anders als der Mann im Lied, müssen sie ihn nicht ertragen.

Die Jünger sind nicht mehr die Alten. Sie sind verändert, wenn sie zurückkommen. Vielleicht nicht sofort, aber mit der Zeit konnten sie wieder mit der Zuversicht Jesu leben. Sie konnten seinen Blick teilen und damit ihr Leben wieder neu entdecken. Ob sie den auferstandenen Jesus in Galiläa wiedergesehen haben, so wie es ihnen der Engel am Grab gesagt hat, das wissen wir nicht. Vielleicht brauchten sie das gar nicht mehr. Mit allem, was sie fortan getan und gesagt haben, sind sie Jesus nachgefolgt, auch wenn er jetzt nicht mehr bei ihnen war. Und weil sie ihm gefolgt sind, haben sie sich selbst gefunden. Sie entdecken, dass ihre Sehnsucht nicht in der Weite, sondern in der Tiefe des Lebens gestillt wird.

Sehnsucht stillen in der Tiefe des Lebens

Ansgar Wucherpfennig
Meine Sehnsucht wird nicht in der Weite, sondern in der Tiefe meines Lebens gestillt. Ich muss dafür nicht nach New York oder Hawaii. Stattdessen entdecke ich Jesu Botschaft und die Freiheit, die darin liegt, hier – in meinem Alltag. In den kleinen Dingen. Besonders vor Augen geführt hat mir das ein Film von Wim Wenders, der in diesem Jahr gelaufen ist: Perfect Days. Er handelt vom Alltag eines Mannes in Japan, der in Tokio Toiletten putzt. Jeder Tag beginnt und endet nach dem gleichen Schema, mit dem gleichen Rhythmus: Der Mann steht auf, packt seine Bettmatte ordentlich zusammen, legt sie weg. Er nimmt sein Frühstück, steigt in sein Auto und fährt dann eine Toilette nach der anderen ab. Am Ende des Arbeitstages wäscht er sich gründlich im Bad. Jeden Tag dasselbe Eigentlich keine schöne Arbeit und ein fader Alltag. Aber von Anfang an hat mich beeindruckt, mit wie großer Liebe und Sorgfalt der Mann jede einzelne Toilette putzt. So, dass ich es sogar ein kleines Vergnügen fand, ihm dabei zuzuschauen. Langsam habe ich dann bemerkt: So sehr seine Tage im Film einander gleichen, an jedem Tag gibt es doch etwas Neues zu entdecken.

Ein Stück Himmel im Alltag

Am Ende des Films hört der Mann von Nina Simone „Feeling Good“, und so ging es mir auch: Ich habe mich am Ende des Films richtig wohl gefühlt: nicht in New York, nicht auf Hawai oder in San Francisco, auch nicht in Tokio, sondern in meinem eigenen Leben. Der Film hat mich mit meinem Alltag fröhlich gemacht. Auch wenn es ständig die gleichen Menschen und Dinge sind. Wenn ich ihnen Liebe und Sorgfalt widme, kann ich darin ein Stück Himmel finden.

Den Alltag vor Ort anders anschauen

Anne-Katrin Helms
Ich muss nicht nach New York fliegen oder nach Hawaii, auch nicht nach San Francisco, um neue Perspektiven zu bekommen. Das Glück und die Erfüllung liegen weder in der Weite noch im immer noch Mehr. Sie liegen darin, wie ich auf das Leben schaue. Das geht an jedem Ort. Auch da, wo ich tagein, tagaus lebe. Auch in dem kleinen Stadtteil Oberrad, am Rand von Frankfurt, in dem ich arbeite.

Wenn ich dort Menschen besuche, merke ich, wie sich dabei eine ganze Welt auftut. Wenn ich mich wirklich auf sie einlasse, öffnet sich mein Herz. Dann bewegen mich die Lebensgeschichten, die mir Menschen anvertrauen.

Ein neuer Aufbruch im eigenen Leben

Selbstverständlich kommt in mir auch manchmal die ganz große Sehnsucht hoch. Aber ich habe verstanden, dass Jesus mich nicht in die weite Welt schickt, weil sich die Erfüllung der großen Sehnsüchte im Kleinen finden lässt. Für mich muss es kein großer Aufbruch sein, weder nach New York, noch nach Hawaii oder San Francisco.

Auch in meinem Leben gibt es Möglichkeiten, die ich nicht zu träumen gewagt habe. Dafür will ich die Augen öffnen, so wie die Jüngerinnen und Jünger. Ich glaube: das ist ein Aufbruch, wie er Gott gefällt.

Musik: Nina Simone: Feeling Good

 

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