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Liebe vermag Grenzen zu überwinden
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Liebe vermag Grenzen zu überwinden

Karl Waldeck
Ein Beitrag von Karl Waldeck, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Ich drehe die Uhr kurz zurück: Gerade einmal vier Wochen ist es her – da war Weihnachten. Doch die Zeit kommt mir lange vor. Alltag ist geworden im nicht mehr ganz neuen Jahr 2024. Was bleibt von Weihnachten? Für mich sind es schöne Erinnerungen an zwei ruhige Gottesdienste, an die gemeinsame Zeit, die wir als Ehepaar und mit Freunden verbracht haben. Was ich mir wünsche: Die Liebe soll bleiben. Sie will ich in den nachweihnachtlichen Alltag hineinnehmen.

Martin Luther: Gott ist ein Backofen voller Liebe

Weihnachten gilt als Fest der Liebe; doch auf die Feiertage sollte die Liebe nicht beschränkt sein. Die Liebe hat ihren Ursprung in Gott. „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reicht von der Erde bis zum Himmel.“ So hat es Martin Luther bild- und sprachgewaltig gesagt. Aus Liebe zur Welt und zu uns Menschen hat Gott Jesus in die Welt gesandt: nicht als starken Gottesmann. Jesus ist als Kind im Stall zu Bethlehem geboren. Dem Menschen gilt Gottes Liebe, und der Mensch soll auf diese Liebe antworten.

Das Doppelgebot der Liebe

Das ist der Sinn des sogenannten doppelten Liebesgebotes. Der Mensch soll Gott lieben: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und ganzer Seele und mit aller Kraft und deinem ganzen Gemüt.“ Die Liebe von Gott und Mensch verbindet Himmel und Erde. Auch auf der Erde soll Liebe herrschen: von Mensch zu Mitmensch: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Gebot der Gottes- und Nächstenliebe auch im Alten Testament

Gottes Liebe zeigt sich unübertroffen zu Weihnachten; doch ist sie viel älter: Bereits der Ursprung der Welt, die Schöpfung alles Lebendigen ist ein Akt der Liebe Gottes. Auch das Liebesgebot ist älter als Weihnachten, und keine christliche Erfindung: Beide, das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, finden sich bereits im ersten Teil der Bibel, im sogenannten Alten Testament in den Büchern Mose.

Musik:  Louis Lewandowski, „Ewiger, bis an den Himmel reicht deine Huld“ 

Geliebt zu werden ist wertvoll

Die Liebe Gottes zum Menschen beginnt mit dem Anfang der Welt, das Liebesgebot hat eine lange Tradition. Es ist ein Klassiker. Ein Klassiker hat den Anspruch, auch heute noch wichtig zu sein, er hat die Kraft, auch unter sich wandelnden Bedingungen zu gelten. Mit Blick auf die Liebe ist das einleuchtend:  
Wer würde ernstlich etwas gegen die Liebe haben? Geliebt zu werden ist ebenso wie zu lieben höchst erstrebenswert. Die Liebe ist tatsächlich “die größte unter ihnen“, um es mit dem Apostel Paulus zu sagen: Er stellte die Liebe im Ranking noch vor Glauben und Hoffnung.

Warum es manchmal schwer fällt zu lieben

Doch es ist nicht leicht zu lieben. Woran liegt das? Vielleicht ist nicht klar, was Liebe ist und was sie vermag. Wenn im Alltag von Liebe die Rede ist, dann denken wir vor allem an ein Gefühl. Als wohl stärkstes Gefühl übersteigt die Liebe den Verstand – und ist kaum hinterfragbar. Das ist einerseits gut. Denn Nachdenken darüber, warum ich liebe, kann ein Gefühlskiller sein. Auch ist es möglich, dass ich durch bloßes Nachdenken auf die Frage, warum ich liebe, zu keinem befriedigenden Ergebnis komme.

Wo die Liebe fehlt

Die Liebe ist ein starkes Gefühl, das Größte überhaupt, das ein Mensch leben und erleben kann. Wenn die Liebe wirklich so erstrebenswert ist -frage ich mich: Warum gibt es in der Welt dann so wenig Liebe, warum gibt es so viel Lieblosigkeit? Schauen wir auf den Zustand der Welt – im Großen wie im Kleinen: Keine Liebe oder zumindest zu wenig! – Ich wünschte mir, dass man endlich dem Programm folgt: „Make love not war“ „Macht Liebe, keinen Krieg“ Stattdessen dringen täglich schon seit Jahren Kriegsnachrichten auf uns ein. Gegen die Macht der Gewalt hat die Liebe anscheinend keine und nur geringe Chancen.

Warum die Liebe oft fehlt

Dafür lassen sich gewiss Antworten und Gründe finden: politische und psychologische Faktoren, soziale und wirtschaftliche Gründe. Machtausübung über andere Völker sind etwa ein Motiv oder kurzfristig durchgesetzte wirtschaftliche Erfolge. Das gilt für die großen Konflikte dieser Welt. Doch das Fehlen von Liebe ist nicht allein ein gesellschaftliches Defizit. Liebe kann ja auch bei Paaren und in Familien fehlen. Damit komme auch ich ins Spiel. Ich stelle mir selbstkritisch die Frage: Was ist mein Anteil daran, dass es in meinem Leben und in dieser Welt nicht liebevoller zugeht? Meine vorläufige Antwort darauf: Was mich am Lieben hindert, ist weniger ihr Gegenteil, der Hass, als vielmehr ein Mangel an Empathie, an Mitgefühl. Gleichgültigkeit und eine Herzens-Trägheit im Denken, Reden und Tun lassen die Liebe im Alltag verkümmern. 

Musik: Marie Roos: „Nur die Liebe lässt uns leben“

Was und wen das biblische Liebesgebot umfasst

Die Liebe wird ersehnt und ihrerseits geliebt. Die Liebe hat viele Formen: zwischen Eltern und Kinder, die Liebe, die ein Paar verbindet, Liebe in der Familie. Doch das biblische Liebesgebot bleibt nicht im Privaten stehen; es fasst den Personenkreis, dem unsere Liebe gelten soll, weiter: Das Liebesgebot fordert dazu auf, Gott zu lieben – und den Nächsten. Den Nächsten - Das bedeutet grundsätzlich jeden Mitmenschen.  

Warum soll ich Gott lieben?

Doch sowohl die Liebe zu Gott wie auch die Nächstenliebe wirft Fragen auf: Warum soll ich Gott lieben und woher weiß ich, dass er liebenswert ist? Wo kann ich Gott und seine Liebe finden, wo erfahre ich ihn, damit ich ihn tatsächlich lieben kann? Für mich ist es Weihnachten, das Kind in der Krippe, in dem sich Gottes Liebe zeigt. Sie zeigt sich in Jesus, der ein großer Liebender war. Ich spüre Gottes Liebe auch in der Größe, der Kraft und Schönheit seiner Schöpfung.  

Was bedeutet Nächstenliebe konkret?

Nächstenliebe heißt: Grundsätzlich soll ich alle Menschen lieben, die Menschheit - jeden einzelnen und jede einzelne. Das ist dann doch sehr abstrakt und klingt auch überfordernd: Schon richtig: Der Kreis der Menschen, der mich umgibt, ist überschaubar. Die könnte ich lieben. Bei den Menschen, die über diesen Kreis hinausgehen, ist das schon schwieriger. Zudem scheinen nicht alle Menschen zumindest in gleicher Weise liebenswert zu sein. Und so frage ich mich oft, was Nächstenliebe bedeutet oder wie sie zu verstehen ist und was ich bedenken muss, wenn ich nach der Liebe lebe. 

Martin Buber: “Liebe deinen Nächsten. Er ist wie du.“

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Üblicherweise ist das biblische Liebesgebot in dieser Übersetzung bekannt. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat es auch so wiedergegeben: “Liebe deinen Nächsten. Er ist wie du.“ In meinem Mitmenschen begegne ich demnach jemandem, der mir gleich ist. Man kann es so sagen: Letztlich begegne ich im Nächsten mir selber – im Guten wie im weniger Guten. 

Worin wir Menschen uns grundsätzlich gleichen

„Dein Nächster. Er ist wie du“: Einerseits ist diese Erkenntnis naheliegend. Wir Menschen sind in gewisser Weise gleich - bereits biologisch: Die Zahl der Gene ist identisch. Schaue ich meinem Nächsten ins Gesicht, dann weiß ich: Das ist ein Mensch. Der Nächste – er ist wie du, unabhängig davon, dass es bei aller Gleichheit auch Unterschiede gibt: Augen-, Haut- und Haarfarbe, Gewicht und Größe. Und damit sind nur Merkmale genannt, die Menschen äußerlich unterscheiden. Geistige, seelische Merkmale und Unterschiede kommen hinzu. Dennoch ist es so, dass wir Menschen uns grundsätzlich gleichen: Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.

Musik: G.Ph. Telemann: Essercizii musici, Trio c-moll TWV 42:c2: Andante 

Sehnsucht einzigartig zu sein

Dein Nächster – er ist wie du. Das klingt einleuchtend; doch vielleicht hören wir diese Botschaft gar nicht so gern. Denn – Hand aufs Herz - wollen wir wirklich immer so wie unser Nächster sein? Nicht erst in unserer Zeit, aber gerade heute, gibt es für viele zumindest kaum etwas Erstrebenswerteres als einzigartig zu sein – in Abgrenzung und Unterscheidung von unseren Mitmenschen. Wir leben tatsächlich in einer Gesellschaft der „Singularitäten“, der „Einzigartigkeiten“ wie es der Soziologe Andreas Reckwitz formuliert hat.  

Das gilt zumindest für unsere westlichen Gesellschaften. Wir schätzen und kultivieren die Eigenarten, das Besondere, die Alleinstellungsmerkmale unserer Persönlichkeit. Wir wollen unverwechselbar sein. Das Ich hat vor dem Wir Vorrang. Doch wie steht’s dann mit der Gleichheit?  

 Wo Menschen verschieden sind

Gleichheit auf der einen, Verschiedenheit auf der anderen. Das gilt nicht erst für den Menschen heute. Auch in vergangenen Zeiten haben sich Menschen unterschieden: in ihrer Lebensweise, ihrer Sprache, Kultur oder Religion. Heute wird bei einem Gang durch unsere Städte unmittelbar deutlich, wie vielfältig, divers die Gesellschaft und die Menschen in Deutschland des Jahres 2024 sind. Vielfalt und die Einsicht „Der Nächste, er ist wie du“ gehen nicht so einfach zusammen. Manchmal frage ich mich: Wie kann es mir gelingen, Menschen auch in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit zu lieben, so wie es das Gebot der Nächstenliebe fordert? 

Von Verschiedenheit der Menschen berichtet auch Bibel

Der Nächste – er ist wie du – und zugleich auch verschieden. Nicht erst heute, seit alters her. Die Bibel berichtet davon, dass die Menschheit seit ihren Anfängen verschieden ist. Menschen unterscheiden sich auch zu biblischen Zeiten nach Geschlecht, nach der Sprache, sie unterscheiden sich in ihrer ethnischen Zugehörigkeit, in ihrem sozialen Status – Herr und Herrin, Magd und Knecht. Wie stand es denn um die Nächstenliebe in biblischen Zeiten? Es war schon damals eine gemischte Bilanz: Es gab Liebe, Freundschaft, Respekt. Auch damals ist friedliches Zusammenleben in Vielfalt möglich gewesen.

Nächstenliebe kann Grenzen überwinden

Doch es wird auch von gewalttätigen Konflikten berichtet: in Familien, zwischen Sippen und Völkern. Es geht um Besitz, um Macht, auch um Religion.

Verschiedenheit als Grund zur Ablehnung. Nicht zuletzt auf diesem Hintergrund ist das Gebot der Nächstenliebe wichtig – als Orientierung und Wegweiser. Nächstenliebe kann tatsächlich eine Brücke zwischen Menschen schlagen. 

Musik: Soeur Marie Keyrouz: „Baytun Maghara“

Es wäre doch so hoffnungsvoll und großartig, wenn praktizierte Nächstenliebe Gräben und Grenzen überwinden könnte: in den Konflikten dieser Welt, etwa im Nahen Osten, im Heiligen Land, dort wo das Gebot der Nächstenliebe erstmals formuliert und niedergeschrieben wurde! Genauso in Europa und in unserem Land. Denn ein Defizit an Liebe gibt es ja auch hier.   

Biblische Erzählungen von Nächstenliebe, die Grenzen überwindet

Nächstenliebe, die Grenzen überwindet - davon wird in der Bibel sowohl im Alten wie im Neuen Testament berichtet: Etliche Geschichten der Nächstenliebe habe ich vor Augen, nicht zuletzt Heilungsgeschichten: Die Sorge um Gesundheit und die Erfahrung von Krankheit verbindet Menschen, so unterschiedlich sie sonst auch sein mögen. Meine Gesundheit, gleich ob an Leib und Seele, ist gefährdet und zerbrechlich. Diese Erfahrung teilen wohl alle Menschen 

Heilungen im Neuen Testamen  - Zeichen grenzenloser Liebe 

Im Neuen Testament hören wir mehrmals, dass Jesus Menschen heilt. Deren Krankheitsbilder sind ganz unterschiedlich: Körperliche Krankheiten finden sich ebenso wie solche an der Seele, akute Beeinträchtigungen genauso wie chronische. Jesus heilt – auf wunderbare Weise. Und nimmt zugleich nicht für sich Anspruch, der Super-Doktor zu sein. Dass er heilt, ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass Gott den Menschen liebt, den Menschen mit Leib und Seele.

Auch Prophet Elisa heilt fremden Feldhauptmann 

Im Alten Testament gibt es nur eine Person, von dem berichtet wird, dass er Menschen auf wundersame Weise geheilt hat: der Prophet Elisa. Er lebte vor weit mehr als 2500 Jahren. An seiner Heilungsgeschichte sind nicht allein die Heilung, also der medizinische Erfolg, ungewöhnlich, sondern auch die Umstände der Heilung. Das gilt vor allem für die Person, die geheilt wird: Elisa heilt einen hochrangigen Militär, den Feldhauptmann Naaman. Er ist Aramäer – und Angehöriger einer Armee, die mit Israel in Konflikt steht.

Womit man damals Aussatz in Verbindung brachte

Warum sollte sich aber ein Fremder, einer, der auch die Religion Elisas nicht teilte, gerade an eine Propheten Israels wenden? Naaman ist in Not. Er ist aussätzig. Das ist nicht nur eine für den Betroffenen selbst höchst unangenehme Krankheit. Es ist eine Krankheit, die isoliert: Zum einen fürchtete man die Ansteckungsgefahr. Zum anderen brachte man Krankheit in der damaligen Zeit mit einem gestörten Verhältnis zu Gott in Verbindung. Wer konnte da dem Feldhauptmann helfen? Helfen kann Naaman, vermittelt von einem jüdischen Mädchen und in diplomatischer Abstimmung, der Prophet Elisa.

Prophet Elisa heilt durch Ferntherapie

Er heilt ihn auf wunderbare Weise durch Ferntherapie. Im 2. Buch der Könige, dort im 5. Kapitel, ist diese Geschichte nachzulesen. Zwei Menschen, die vieles trennte, die nicht nur räumlich voneinander entfernt waren, kommen durch die heilende Kraft der Liebe zusammen, sie überbrücken dabei alle Grenzen und Unterschiede. Diese alte, gute Erfahrung kann auch heute eine Ermutigung sein, Nächstenliebe zu leben und sich auf ungewöhnliche Wege einzulassen.

Hilfe über Grenzen hinweg: Der barmherzige Samariter 

Das ist ganz im Sinne der prominentesten Geschichte im Neuen Testaments, die von der die Grenzen überwindenden Kraft der Nächstenliebe die Rede berichtet. Jesus erzählt die Geschichte des Barmherzigen Samariters. Ein Mensch wird auf offener Straße überfallen. Halbtot bleibt er liegen. Doch nicht Angehörige der eigenen Religion, auch nicht Personen, die von Amts wegen einem Menschen helfen sollten, erweisen sich als Helfer, sondern ein Fremder, einer der nicht dem eigenen Volk und der eigenen Religion angehört, der hilft. Ein Fremder, den man sonst auf Abstand hält und auf den man sonst herabschaut: Zu Jesu Zeit war dies ein Samariter. Ein Helfer, mit dem man nicht rechnet. Überraschend, doch zugleich erhellend und ermutigend. Wie mögen die Samariter unserer Tage heißen? 

Auch ich kann Nächstenliebe üben

Geschichten – wie die Jesu vom Barmherzigen Samariter und die vom Propheten Elisa - sind ermutigend. Ihre Botschaft lautet: Grundsätzlich jeder und jede kann dem Gebot der Nächstenliebe folgen. Wo immer ich gebraucht werde, wo mir der Mitmensch als bedürftiger Nächster begegnet, da kann auch ich zum Helfer werden. Ein offenes Auge, offene Ohren, ein waches Herz – mehr brauche ich nicht, um konkret Nächstenliebe zu leben, um selbst ein Liebender oder eine Liebende zu werden.  

Musik:  Franz Schubert: Psalm 92 „Tow l’hodos“ (hebräisch) 

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