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Eine andere Brille
GettyImages/Liudmila Chernetska

Eine andere Brille

Ein Beitrag von Dr. Christine Lungershausen, Evangelische Pfarrerin, Eschborn
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Ich brauche unbedingt eine neue Brille. Die Gläser in der alten Brille haben Kratzer und die Dinge in der Ferne werden immer verschwommener, die in der Nähe kleiner. Der Optiker misst meine Augen und bietet mir dabei auch verschiedene Filter an, gegen das blaue Licht des Computers oder gegen die UV-Strahlung des Sonnenlichts.

Ein Filter für die Selbstverständlichkeit

Ich komme ins Nachdenken und überlege, ob man mit einem besonderen Filter auch die Selbstverständlichkeit herausfiltern könnte. Dann könnte ich besser sehen, wie wenig sich in meiner Umgebung von selbst versteht.

Mir fällt das Kissen auf dem Sessel des Optikers ins Auge und ich denke an mein eigenes Kopfkissen. Wie selbstverständlich liegt eines in jedem Bett. Aber mein Nacken und meine Kopfnerven erinnern sich noch schmerzend an Nächte, in denen ich kein Kissen hatte und deshalb eine gerollte Jacke nehmen musste.

Selbstverständliche Dinge entdecken und achten

Ich denke weiter an meine morgendliche Tasse Kaffee. Sie ist mir ebenso dringlich wie selbstverständlich. Ohne Tassen würde mir das edle Gebräu zwischen den Fingern davonlaufen. Solche Gefäße gab es belegt zuerst um 10.000 vor Christus in Japan. Von da aus verbreitete sich die neue Technik der Keramik über Europa. Ich denke an meine Tasse nun herzlich dankbar – nicht nur wegen des duftenden Inhalts, der mein waches Selbst hervorlockt. Wenn mir meine neue Brille alles scheinbar Selbstverständliche vor Augen führen könnte – was würde ich alles Wertvolles entdecken!

Während der Optiker ein Formular ausfüllt, sehe ich hinunter zu meinen warmen Winterstiefeln. Wie viele Menschen der Kriegsgeneration hätten sich darüber zutiefst gefreut, weil sie keine hatten. Was für ein Luxus ist meine heutige Selbstverständlichkeit, für kaputte Winterschuhe einfach neue kaufen zu können.

Mir wird ganz schummerig durch diesen Filter, den ich mir für meine neue Brille gerade vorstelle: Plötzlich sehe ich, wie wenig sich vieles in meiner Umgebung von selbst versteht. Mir wird warm ums Herz. Und an den Füßen.

Dankbar sein für alles, was uns so selbstverständlich scheint

Beim Bezahlen der neuen Brille fällt mir im Portemonnaie meine Krankenversichertenkarte ins Auge: Sie ist im weltweiten Vergleich alles andere als selbstverständlich. Längst nicht alle Menschen können bei Schmerz oder Erkrankung zu einer Ärztin gehen, die sich mit ihnen darum kümmert. Noch eine Selbstverständlichkeit fällt mir ein, die hier eine ist, aber woanders gar nicht: Wenn eigene Kinder oder Enkel mit einer Behinderung leben, haben sie hier einen rechtlichen Anspruch auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und an politischen Entscheidungen.

Der Filter vor meinem inneren Auge macht mich dankbar: Ich entdecke so vieles, das unselbstverständlich ist. Ich sehe es nun mit großem Dank. Das wärmt mir Herz, Magen und Seele.

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