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Einander sehen und achten
GettyImages/Drazen Zigic

Einander sehen und achten

Ein Beitrag von Dr. Christine Lungershausen, Evangelische Pfarrerin, Eschborn
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Ich sitze in einem beruflichen Meeting. Nach 3 Wochen zu Hause mit Stirnhöhlenentzündung huste und schniefe ich noch. Daher trage ich eine Maske. Die Viren muss ich nicht weiterverbreiten, denke ich. Und ich muss mir auch nicht gleich die nächste Infektion einfangen.

Eine Maske mit Nebenwirkung

Doch meine Maske hat eine Nebenwirkung: Ich ziehe damit die Blicke der anderen auf mich, was mir eher unangenehm ist. Deshalb erkläre ich meine Maske jedes Mal, wenn die Tür aufgeht. Die Eintretenden nicken oder sagen „Also für mich musst Du nicht…“ oder „Das ist aber doch jetzt durch“.

Wie gehen wir jetzt mit Krankheit und Ansteckungsmöglichkeit um?

Gerade als wir unser Meeting beginnen wollen, unterbricht eine Kollegin: „Sorry, ich bin irritiert. Wir haben eine unter uns, die sichtlich angeschlagen ist und eine Maske trägt, andere sind hörbar erkältet – aber ohne Maske. Wie gehen wir damit um? Ich weiß, wir sind irgendwie ‚nach Corona‘, aber wir haben noch nicht geklärt, wie wir jetzt mit Krankheiten und Ansteckungsmöglichkeiten umgehen.“

Solche Spannungen muss man aushalten

Jetzt sind alle angespannt, wie es weitergeht. Ich hasse solche Spannungen. Noch mehr, wenn sie sich um mich drehen. Doch dieses Mal gibt es eine unerwartete Wendung. Eine deutlich hörbar verschnupfte Kollegin fragt in die Runde: „Mir tut auch der Hals weh, ich kann aber arbeiten. Hat jemand eine Maske mit für mich, ich habe keine mehr. Aber ich will Dich, liebe Kollegin, auch nicht anstecken, denn dann muss ich dich wieder 2 Wochen lang vertreten. Das ist mir zu viel Arbeit.“

Die Kollegin hat die Situation entschärft – mit einer humorvollen Bemerkung und mit ihrer praktischen Bitte um eine Maske. Einige lachen erleichtert, eine zückt eine frische Maske, ein anderer sagt versöhnlich: „Na, gut, dass wir einander sehen und achten.“ Und ich atme erleichtert auf, nicht weiter der Störenfried zu sein.

„Gut, dass wir einander sehen und achten“

„Gut, dass wir einander sehen und achten“ - diese Worte hallen in mir nach. Sie erinnern mich an ein Wort aus dem Alten Testament: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gott sieht Menschen in ihren Konflikten, ihren Möglichkeiten, ihren Grenzen, ihren Hoffnungen – und interessiert sich für sie. Auf diesen Gott hoffe ich in meinen persönlichen Spannungen und Konflikten.

„Du, Gott, siehst die Arbeitnehmerin, die angeschlagen trotzdem zur Arbeit kommt. Sie lässt sich die fiebrige Nacht nicht anmerken, weil sie weiß, dass sie gebraucht wird.“
„Und du, Gott, siehst die Kollegin, die sich auskurieren muss und sich gleichzeitig darüber ärgert, dass sie anderen damit aufbürdet, sie zu vertreten.“

Vielleicht führt dieses Gefühl, gesehen zu werden, auch dazu, dass ich selbst die anderen besser sehen kann, sie besser mitbedenke – auch die Konsequenzen meines Handelns für sie. Wir sehen einander. „Denn Du bist ein Gott, der Dich und mich sieht.“

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