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The Last Post
Bild: Pixabay

The Last Post

Dr. Annette Wiesheu
Ein Beitrag von Dr. Annette Wiesheu, Theologische Referentin des Bischofs von Mainz
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Es ist eine ergreifende Zeremonie, an der ich in meinem Osterurlaub in Belgien teilgenommen habe: Rund 200 Menschen versammeln sich dort an einem Tor in der Stadt Ypern. Junge Leute sind darunter, Schulklassen, genauso wie viele ältere Menschen, teilweise begleitet von ihren Kindern und Enkeln. Ich höre viele englische Stimmen. Punkt 20 Uhr kommen fünf Trompeter in traditionellen Uniformen. Sie spielen eine getragene Melodie. Danach folgt eine Schweigeminute. Und schließlich wird ein englisches Gedicht rezitiert, am Ende antworten die Versammelten: „We remember them – Wir erinnern uns an sie“.

An der Stelle eines alten Stadttors

Die Zeremonie hat mich sehr berührt. Jeden Abend wird sie dort abgehalten, seit fast 100 Jahren. Es ist eine Gedenkzeremonie für die Toten des Ersten Weltkriegs. Denn die Stadt Ypern und die Region Westflandern waren Schauplatz furchtbarer Kämpfe, Hundertausende starben hier in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern. Das Menen-Tor, an dem die Zeremonie stattfindet, ist eine der vielen Gedenkstätten in der Gegend. Es steht an der Stelle eines alten Stadttors, das die Soldaten passierten, wenn sie in den Kampf zogen. Bei Ypern haben vor allem britische Truppen gekämpft. Das Menen-Tor ist den fast 55.000 britischen Soldaten gewidmet, die vermisst blieben. Mit dem Zapfenstreich der britischen Armee „The Last Post“, den die Trompeter jeden Abend spielen, wird an sie und alle Toten des Krieges erinnert.

Diese Erinnerung ist lebendig

Für mich wird bei dieser Zeremonie spürbar: Wie tief sind die Wunden, die der Krieg schlägt. Keiner der Anwesenden, die heute zur Last Post-Zeremonie nach Ypern reisen, hat noch einen der Toten gekannt. Die Ereignisse liegen über 100 Jahre zurück. Aber die Erinnerung daran, dass Menschen, vielleicht jemand aus der Familie, im Krieg hier das Leben verloren hat, diese Erinnerung ist lebendig, auch Generationen später.

Über Generationen hinweg

Ich war vor einigen Jahren schon einmal in Ypern. Auch damals hat mich sehr berührt, wie allgegenwärtig hier die Erinnerung an den Krieg ist: In der täglichen Last-Post-Zeremonie, in den Soldatenfriedhöfen mit ihren langen Gräberreihen, in den Spuren, die die Kämpfe in der Landschaft hinterlassen haben: Bunker, Explosionskrater, Reste der Schützengräben. Bei meinem Besuch in diesem Jahr hab ich das noch stärker empfunden: weil in Europa wieder Krieg geführt wird, weil wieder Menschen einen sinnlosen Tod in den Kämpfen sterben müssen, weil Familien um sie trauern werden – über Generationen hinweg.

Es kann Versöhnung entstehen

Dennoch: Die Erinnerung an die Toten in Ypern gibt auch Hoffnung. Im Mittelpunkt steht das Gedenken, nicht der Hass auf den früheren Gegner. Die ehemaligen Kriegsparteien gedenken heute gemeinsam der Toten. Die tägliche Zeremonie am Menen-Tor ist zwar von britischen Gepflogenheiten geprägt, sie schließt aber alle Toten ein. Auch als deutsche Familie fühlen wir uns willkommen teilzunehmen. Das gibt Hoffnung: Es kann Versöhnung entstehen über den Gräbern. 

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