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Das Archiv der Lebensläufe
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Das Archiv der Lebensläufe

Sabine Müller-Langsdorf
Ein Beitrag von Sabine Müller-Langsdorf, Evangelische Pfarrerin, Zentrum Oekumene, Frankfurt
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Wer eine neue Stelle antreten möchte, muss einen Lebenslauf in die Bewerbungsunterlagen einfügen: Wann geboren, wo aufgewachsen, Schulbildung, Abschlüsse, berufliche Stationen, besondere Fähigkeiten, manchmal auch Familienstand, Konfession, Hobbies… Auf alle Fälle dient der Lebenslauf dazu, einem Arbeitgeber einen sachlichen Überblick über das Leben einer Person zu geben.

Die Herrnhuter Brüdergemeine

Eine ganz andere Form von Lebenslauf habe ich letztes Jahr bei einer Reise nach Herrnhut kennengelernt. Herrnhut ist eine kleine Stadt in der Oberlausitz, etwa 80 Kilometer östlich von Dresden. In Herrnhut haben sich vor 350 Jahren verfolgte evangelische Christen aus Böhmen angesiedelt. Sie wurden zur „Herrnhuter Brüdergemeine“. Heute sind sie bekannt durch die Herrnhuter Sterne im Advent und das kleine blaue Losungsbüchlein. Darin steht für jeden Tag des Jahres ein biblischer Satz, der per Los ausgewählt wird.

Lebensläufe des Glaubens

Weniger bekannt ist, dass in Herrnhut die größte Sammlung individueller Biografien archiviert ist. 25.000 Lebensläufe liegen in ihrer Bibliothek. Denn zum frommen Leben eines Christenmenschen der Brüdergemeine gehört es bis heute, einen Lebenslauf niederzuschreiben. Und da geht es nicht etwa um die Karriere, sondern um das Leben mit Gott.

Zur Beerdigung wird die Chronik des Lebens vorgelesen

Frauen wie Männer sind angehalten, gegen Ende ihres Lebens davon etwas aufzuschreiben. Manche Lebensläufe sind sehr kurz, ihnen merkt man an, dass die Schreiberin oder der Schreiber eigentlich nicht gerne schrieben. Andere Zeugnisse sind ausführlich und lang. Zur Beerdigung jedenfalls wird die Chronik dieses Lebens dann vorgelesen. Wenn sie zu lang ist, nur auszugsweise. Und es wird ein zweiter Teil hinzugefügt, den Angehörige geschrieben haben oder der Prediger zum Beerdigungsgottesdienst geredet hat. Beide Teile sind im Lebenslauf-Archiv der Brüder-Unität aufgehoben.

Das Leben als einen Lauf sehen, den man selber aufschreiben kann

Mich haben so viele Geschichten ganz normaler Menschen beeindruckt. Ein Fundus sicherlich auch für Historiker und Historikerinnen zur Alltagsbiografie und Lebensweise der kleinen Leute. Aber auch so viel gesammeltes Nachdenken über den eigenen Glauben. Mir gefällt der „Lebenslauf“-Gedanke. Nicht in dem Sinn, dass da am Ende ein Gott sitzt, der mich wie ein Arbeitgeber bewertet. Mir gefällt die Idee, mein Leben als einen Lauf zu sehen, den ich selber aufschreiben kann. Eine Geschichte, in der ich die Hauptperson bin, im Licht meines Glaubens an Gott. Gott weiß ich bei mir, Tag für Tag, mal nah, mal fern. Es könnte eine schöne Glaubensübung sein, den „Lebenslauf“ der Herrnhuter mal auszuprobieren. Mir Zeit zu nehmen für mich und mein Leben, zum Schreiben und Lesen meiner Glaubensgeschichte.

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