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Geschichten schenken Geborgenheit
Pixabay/Aline Dassel

Geschichten schenken Geborgenheit

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Musikkonzeption: Kantor Uwe Krause

Im Urlaub in Griechenland besuchte ich eine Klosterkirche (Moni Panagia Gouverniotissa auf Kreta). Es ist eins von diesen uralten Gemäuern, die von außen unscheinbar und etwas marode aussehen, aber im Inneren prächtig ausgestattet sind. Diese hat sogar Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert. Das ist typisch für die Kirchen der orthodoxen Christen. Die bemalten Wände spielen eine besondere Rolle, denn sie sollen die Besucher in eine andere Welt versetzen. Wer die Kirche betritt, bekommt schon einen Vorgeschmack auf die Herrlichkeit des Himmels und das Gefühl, als könne er oder sie der Welt wenigsten für einen Moment entfliehen.

Bildergeschichten an der Wand

Etwas ratlos stehe ich da in der Mitte der dunklen Kirche und versuche, die einzelnen Bilder zu entschlüsseln. Sie stellen Szenen aus der Bibel dar. Und die sind nur zu verstehen, wenn man die Geschichten kennt, die sie erzählen. Auf einem Bild erkenne ich ein Schiff und daneben im Wasser einen Mann. Er ist etwas untersetzt und paddelt wie wild in den Wellen. Es ist Petrus, der Jesus folgen und über das Wasser gehen wollte, und dabei in den Wellen versinkt. (Matthäus 14,22) D

Petrus scheitert an seinem Vorsatz

Die Szene wirkt nicht bedrohlich, eher kurios. Ich muss jedenfalls beim Anblick des ehrwürdigen Apostels, der unfreiwillig im Wasser landet, schmunzeln, weil er so erfrischend unbeholfen wirkt und mich an die Touristen am Strand erinnert. Sein Versuch, Jesus nachzuahmen, ist bei dieser Gelegenheit misslungen. Ich mag die Geschichte aus dem Neuen Testament, sie wirkt auf mich aufmunternd: Wenn ich sie betrachte, muss ich mich nicht über die Fehlversuche im eigenen Leben ärgern. Petrus führt es hier vor, wie man mit besten Vorsätzen aufbricht und dann doch immer wieder im kalten Wasser landet. Diese ernüchternde Erfahrung kommt mir bekannt vor. Ich kann mich gut einfühlen. Und wenn ich dieses Bild anschaue, kann ich sogar lächeln, über diesen etwas tollpatschigen Petrus und auch über mich selbst.

Gemalte Geschichten für die Gläubigen

In orthodoxen Kirchen sollen die Bildergeschichten helfen, Abstand von der Welt zu bekommen und in die Welt des Glaubens einzutreten. Von ganz oben in der Kuppel blickt Jesus als Weltenherrscher herab und wirkt fürsorglich. Und die Wände gleichen einer Bibel in Bildern, wie in einem Comic. Die Bilder sind gemalte Geschichten. Sie stammen aus einer Zeit, in der die meisten Menschen keine Bücher zur Verfügung hatten und auch nicht lesen konnten. Diese biblischen Texte sind hier gegenwärtig, ja sinnlich wahrnehmbar. So, als stünde ich mittendrin. Ich fühle mich inmitten dieser zum Leben erweckten Geschichten eingehüllt und geschützt.

Geschichten können trösten und Geborgenheit vermitteln

Geschichten haben diese eigentümliche Kraft: Sie können uns in schweren Situationen trösten und vermitteln Geborgenheit. Dabei ist es egal, ob diese Geschichten gemalt oder niedergeschrieben sind, ob sie gelesen oder erzählt werden. Und es muss auch keine orthodoxe Kirche sein. Der Ort ist nebensächlich, wichtig ist allein das Erzählen.

Musik: Loudovikos Ton Anogion, Dakry Tis Haras (το δάκρυ της χαράς) (Loudovikos Ton Anogion, Dafni Panourgia)

Jesus doziert nicht, sondern erzählt lieber Geschichten

Geschichten begleiten uns durch das Leben. Die ersten Geschichten reichen weit zurück in die Kindheit. Am Anfang sind es Kinderbücher und Märchen, an die sich die meisten Menschen gut erinnern können. Dann kommen die Geschichten aus der Bibel dazu: Solche, die davon erzählen, wie die Welt entstanden ist, wie Menschen durch die Wüste gewandert sind und dort wertvolle Erfahrungen gemacht haben. Erzählungen von Kranken, die geheilt wurden und solchen, die in der Not wundersame Hilfe erfuhren. Im Neuen Testament finden sich nicht nur Geschichten über Jesus, sondern auch solche von ihm. Er selbst bevorzugt das Mittel der Erzählung, wenn er in Gleichnissen und Parabeln zu seinen Jüngern spricht und nur selten im lehrreichen Vortrag. Jesus doziert nicht, er erzählt, um wichtige Dinge weiterzugeben.

Die meisten Menschen haben eine Lieblingsgeschichte

Die Geschichten, die uns durch das Leben begleiten, sind vielfältig, und auch die Erinnerungen unterscheiden sich. Auf jeden Fall haben die meisten Menschen sogar so etwas wie eine Lieblingsgeschichte, die ihnen wichtig ist. Ich habe Besucherinnen und Besucher des Museums Grimmwelten in Kassel nach ihren Erinnerungen gefragt. Das passt dort gut, denn in diesem Museum erlebt man den Reichtum der Grimmschen Märchen und Erzählungen.

Ja, auf jeden Fall Märchen von den Brüdern Grimm, Aschenputtel wurde mir regelmäßig erzählt, und das ist natürlich auch was, in die Rolle zu schlüpfen. …

Hanni und Nanni, ich habe alle Hanni und Nanni Bücher gelesen, aber ich habe sehr viele Geschichten gelesen und ich fand das auch immer toll, dass man in Geschichten in alle Welten schlüpfen kann und alles sein kann, was man möchte. …

Durch Geschichten kommen Erinnerungen wieder

Viele Geschichten, die ich vorgelesen oder erzählt bekommen habe, spielen auch noch heute eine Rolle, weil sie mich natürlich geprägt haben, sei es durch Gerüche, die beim Erzählen in meinem Kopf entstehen die ich dann wiederfinde, wenn ich koche oder wenn ich irgendetwas zu essen oder zu trinken in der Hand habe. Oder auch die Weitergabe an meine eigenen Kinder, oder an mein eigenes Kind, ist auch wichtig, weil ich halt weiß, wie gemütlich das auch ist, wenn sich jemand Zeit für mich nimmt und mir etwas erzählt weiß ich der nimmt sich jetzt Zeit nur für mich und ich finde, das ist etwas ganze Besonderes gerade heute. Und man kommt mal zur Ruhe und man denkt auch über die Geschichten nach und die prägen natürlich auch mein zukünftiges Handeln. …

Mir sind Geschichten sehr wichtig, in meiner Erinnerung sind es aber eigentlich mehr Geschichten, die ich gelesen habe, als Geschichten, die mir erzählt wurden. Aber wenn ich jetzt als Erwachsene die Wahl habe zwischen Geschichten lesen und Geschichten erzählen, erzähle ich die Geschichten eigentlich lieber, weil ich individuellere Schwerpunkte setzen kann und auch Emotionen besser rüberbringen kann und auch die Geschichten an das Kind, dem ich sie erzähle, anpassen kann.

Duch das Lesen oder Hören einer Geschichte kann sich die Blickrichtung ändern

Oft sind es Geschichten, die dem Leben eine Richtung geben. Ganz wichtig ist dabei der Wechsel der Blickrichtung. Beim Zuhören oder Lesen schlüpfe ich in eine andere Rolle und darf wenigstens für eine kurze Zeit spüren, wie es wäre, ein ganz anderer Mensch zu sein. Das macht den Zauber aus. Zugleich kann ich dadurch mit einer gewissen Distanz auf mein eigenes Leben schauen und fragen, ob das alles so auch in Ordnung ist:

Um einfach in eine andere Welt sich reinzukatapultieren, das finde ich sehr wichtig, ja um in eine andere Welt, in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Naja, das sind zum Teil natürlich auch biblische Geschichten, die immer weitergetragen werden, weil einfach meine Eltern sie schon im Kopf hatten; das sind persönliche Geschichten, aber das sind natürlich auch Hörspiele. Zum Beispiel hat mich in der Kindheit Benjamin Blümchen geprägt und in der Jugend dann Die drei Fragezeichen.

Ja, damals hat meine Oma mir sehr viele Geschichten erzählt, dazu muss ich sagen, dass sie blind war und alles aus ihrem Gedächtnis frei erzählt hatte, und das hat mich sehr geprägt. Zum Abschluss gab es immer ein Nachtgebet und damit war die Geschichte beendet.

Musik:  Engelbert Humperdinck, Abendsegen, aus: Hänsel und Gretel (Renee Fleming, Susan Graham, Royal Philharmonic Orchestra, Andreas Delfs)

Warum sind Geschichten so wichtig?

Warum sind Geschichten so wichtig? Und warum haben sie die Kraft, mein Leben zu verändern? Eine erste Antwort wäre: Weil sie Gefühle beinhalten und nicht nur sachliche Informationen bieten. Wenn ich jemanden trösten möchte, ist die Schilderung von Empfindungen unersetzlich, und beim Erzählen entsteht eine Gefühlslage, die der Seele Geborgenheit bietet. Das gilt für jede Beziehung, denn das Band einer Freundschaft oder Liebe besteht eben nicht aus Fakten, sondern aus einem Gemisch von Empfindungen. Dafür muss ich etwas von mir preisgeben, ich muss erzählen, von mir und aus meinem Leben.

Wir Menschen brauchen unbedingt Geschichten, weil wir selbst aus Geschichten bestehen!

Aber es gibt noch einen anderen Grund: Wir Menschen brauchen unbedingt Geschichten, weil wir selbst aus Geschichten bestehen! Wenn ich auf meine Jahre zurückschaue, blicke ich auf eine Summe von Episoden, die sich wie ein großes Mosaik zu einem Gesamtbild ergänzen. Bei genauem Hinsehen erkenne ich, dass es sich aus Begebenheiten zusammensetzt, die mal sorgfältig geplant waren, mitunter aber auch ganz unplanmäßig alles durcheinandergebracht haben. Man kann sie nicht erklären, aber davon erzählen. Und zu diesem Mosaik gehören unabdingbar jene Menschen, mit denen ich wiederum durch Geschichten verbunden bin.

Wir müssen erzählen, weil das Leben sich aus Geschichten zusammensetzt. Wenn ich meinen besten Freund vorstellen sollte, käme ich nicht im Traum auf die Idee, exakte Daten aufzuführen: Etwa Länge, Breite, Schuhgröße, Körpergewicht, Haarfarbe, das erscheint nebensächlich. Alles das, was man in den Computer eingeben kann, solche Angaben, die auf dem Personalausweis registriert sind, mögen für die Verwaltung wichtig sein, bei der Begegnung spielen sie keine Rolle. Biologische Angaben und naturwissenschaftliche Aspekte zählen nicht, wenn Menschen miteinander zu tun haben, wenn es um ihr Leben geht und um ihren Glauben.

Unser Leben erschließt sich aus unseren erlebten Geschichten

Um meinen Freund vorzustellen, würde ich stattdessen erzählen: Wie ich ihn kennengelernt habe, was uns beide miteinander verbindet, welche Musik er gerne hört, was er liest und welche Marotten er hat. Viele Geschichten sind das, und in der Summe ergibt sich daraus ein Leben. Auch mein eigenes Leben betrachte ich als eine Verknüpfung von Geschichten, die mich mit meinem Beruf, mit der Familie, ja mit der Welt verbinden. Alles das, was für mich wirklich wichtig ist, etwa die Wahl der Partnerin und des Berufs, meine Leidenschaft für die Oper und den Orient, mein Freundeskreis – alles das erschließt sich letzten Endes allein aus Geschichten.

Die Bibel ist voll von Geschichten über den Glauben

In Glaubensfragen ist das nicht anders. Auch in der Bibel begegne ich Personen, die wohl einen Namen haben, aber erst durch ihre Geschichten bedeuten sie mir etwas. Moses zum Beispiel ist derjenige, der sein Volk 40 Jahre lang durch die Wüste geführt hat. David ist der, der als Junge den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder bezwingen konnte, und dadurch zur Hoffnung seines Stammes wurde. Paulus ist der ehemalige Pharisäer, der bei Damaskus erblindete und so vom Saulus zum Paulus wurde. Und der namenlose Samariter war der Mann, der auf dem Weg nach Jericho dem hilflosen Opfer eines Überfalls half und auf diese Weise zum Symbol der fürsorgenden Hilfsbereitschaft wurde. Jede einzelne Geschichte habe ich unzählig oft gehört, als Kind, in der Jugendzeit und als Erwachsener. Sie alle haben mich geprägt. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn sie mir niemand erzählt hätte. Und immer wieder erlebe ich diese Geschichten anders, stelle sie in einen neuen Zusammenhang. So finden sie in mir eine Fortsetzung, bis ich selbst zum Teil von ihnen werde.

Das Erzählen von Geschichten ist lebensnotwendig, im Leben und im Glauben

Jedes menschliche Leben lässt sich erst begreifen, wenn man es als Summe von Geschichten betrachtet. Und deshalb ist das Erzählen nicht nur spannend, sondern tatsächlich lebensnotwendig. Geschichten sind die Säulen, auf denen das Leben ruht, und unser Glaube ebenfalls.

Musik: Cosmic Guitarman, Sigi Schwab und Peter Horton

Was ich beobachte über das Erzählen und was Geschichten bedeuten, wirkt sich darauf aus, wie ich den Glauben verstehe, und welche Vorstellung von Gott mich leiten. Auch hier geht es um eine Beziehung, und auch diese Beziehung lässt sich nicht aus Zahlen, Daten und Fakten erschließen. Mit dem Begriff des Glaubens bezeichnen wir die je eigene Geschichte eines Menschen, die ihn mit Gott verbindet. Sachliche Argumente dafür oder dagegen haben da keinen Platz, es macht auch keinen Sinn, darüber zu streiten. Die Suche etwa nach Beweisen dafür oder dagegen, ob es Gott gibt oder nicht, läuft ins Leere. Solche Diskussionen bleiben immer spekulativ, weil darüber gar keine gesicherten Aussagen gemacht werden können.

Jeder Mensch hat seine eigene Glaubensgeschichte

Aber ich kann erzählen, und zwar von Menschen, die ihrem Glauben gefolgt sind, und beschreiben, wie das ihr Leben verändert hat. Wie sie in ihrer ganz eigenen Geschichte mit Gott verstrickt sind. Und ich kann mich in diese Erzählungen selbst einfinden, beziehungsweise „reinkatapultieren“ wie es der Besucher aus dem Grimm-Museum ausdrückte.

So betrachte ich auch das Bild in der griechischen Klosterkirche, mit dem an Petrus erinnert wird. Es erzählt, wie er Jesus folgen wollte und ihm gleich auf dem Wasser gehen wollte. Das Anliegen kann ich nachvollziehen und ich habe Respekt vor seinem Versuch. Umso besser kann ich seine Enttäuschung verstehen, als er dann doch in den Wellen versinkt und damit seine Grenzen erkennen muss. Immer wenn ich an einem Vorhaben scheitere, erinnere ich mich an diese Geschichte und kann daraus Mut schöpfen, trotzdem weiterzumachen.

Die Geschichten in der Bibel, z.B. von Jesus, Petrus und Paulus können den eigenen Glauben prägen

Die Geschichten von Petrus und Paulus, von Jesus und seinen Jüngern sind mehr als bloß unterhaltsame Episoden: Sie sind Dokumente von Begebenheiten, die den Glauben eines Menschen ausdrücken, und auch meinen eigenen Glauben prägen können.

Musik: Heinrich Schütz, Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, (Ensemble Polyharmonique)

Von Gott erzählen und sich erzählen lassen, bietet Geborgenheit

Und das betrifft schließlich auch Gott selbst beziehungsweise mein Gottesverständnis: Ich weiß nicht genau, wer er ist, wo er ist und was er ist. Aber ich kenne die Geschichten, die Menschen mit ihm hatten und noch immer haben. Und nur so kann ich von Gott erzählen: Gott ist derjenige, der das Volk Israel aus der Sklaverei geführt hat. Gott ist Moses am Sinai erschienen und übergab ihm die zehn Gebote. Und – ganz wichtig – Gott hat Jesus von den Toten auferweckt.

Gott – das ist die großartige Geschichte, die er mit den Menschen hat. Und die Bibel, das ist die Sammlung der Geschichten, die Menschen über ihren Glauben weitergegeben haben. Weil jedes menschliche Leben nichts anderes ist als ein Mosaik seiner Geschichten, zusammengefügt aus Plänen und Zufällen, aus Gefühlen und Argumenten, deshalb ist das Erzählen geradezu lebenswichtig. In den Geschichten des Glaubens kommt das vor, was wirklich wichtig ist, und deshalb bieten sie Geborgenheit.

Musik: Claude Debussy: Petite Suite, I. En Bateau (Orchestre National des Pays de la Loire, Pascal Rophe)

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