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Die Welt - ohne oder mit Menschen?
Bild: pripyat_pixabay

Die Welt - ohne oder mit Menschen?

Prof. Dr. Thomas Hieke
Ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Hieke, Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Manchmal stelle ich mir eine Welt ohne Menschen vor. Was wäre, wenn die Menschen von diesem Planeten Erde verschwinden würden?

Der Gedanke löst bei mir Gruseln und Faszination aus. Im Internet gibt es atemberaubende Bilder: ein verrostetes Schiffswrack, das über und über mit vielen Bäumen bewachsen ist. Oder ein alter VW Käfer, aus dem Birken herauswachsen. Oder ein Autoscooter in einem verlassenen Vergnügungspark: Die Pfosten sind von Büschen zugewachsen, der Boden ist mit Moos und Flechten bedeckt. Die Natur holt sich ihren Lebensraum zurück. Pflanzen, Blumen und Bäume nehmen in Besitz, was die Menschen hinterlassen haben.

Fasziniert und erschrocken

Das sehe ich auf solchen Bildern und bin fasziniert und erschrocken. Meine Gedanken schweifen weiter: Wenn wir unseren eigenen Lebensraum zerstören, werden die Menschen verschwinden – aber nicht die Bäume, Pflanzen und Tiere. Die Welt wird nicht untergehen, wenn der Mensch nicht mehr da ist. Die Natur wird sich nach langer Zeit erholen und langsam, aber beharrlich erblühen.

Musik 1: Naturgeräusche / Vogelgezwitscher: „Birds from Bohemian Switzerland“ (https://freesound.org/people/GirlWithSoundRecorder/sounds/489570/)

Eine ebenso harte wie tröstliche Antwort

Wenn der Mensch seinen Lebensraum so zerstört hat, dass die Welt nicht mehr von Menschen bewohnbar ist – wer wird dann Gott noch preisen? Wer wird Gott in Chorälen Lob singen? Die Bibel gibt auf diese Frage eine ebenso harte wie tröstliche Antwort. In einem Psalm im Alten Testament heißt es:

Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes
und das Firmament kündet das Werk seiner Hände.

Ein Tag sagt es dem andern,
eine Nacht tut es der andern kund,

ohne Rede und ohne Worte,
ungehört bleibt ihre Stimme.

Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus,
ihre Kunde bis zu den Enden der Erde.
Dort hat [Gott] der Sonne ein Zelt gebaut.

Sie tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam;
sie frohlockt wie ein Held, ihre Bahn zu laufen.

Am einen Ende des Himmels geht sie auf
und läuft bis ans andere Ende;
nichts kann sich vor ihrer Glut verbergen.
Kosmos und Natur loben Gott mit einer Welt umspannenden Botschaft

So beschreibt die erste Hälfte des 19. Psalms das Lob Gottes durch den Kosmos und die Natur. Das Loben erfolgt ohne Menschen und ohne menschliche Worte. Kosmos und Natur loben Gott auf ihre je eigene Weise, in ihrer eigenen Sprache, nicht in Worten, und doch mit einer die Welt umspannenden Botschaft.

Erst am Ende kommen die Menschen dran

Ein anderer Psalm, Psalm 148, geht ins Detail und fordert in zwei Teilen zum Lobpreis Gottes auf: vom Himmel her – und von der Erde her. Alles lobt Gott – oben am Himmel: Sonne, Mond, Sterne, Feuer, Hagel, Schnee und Nebel, und unten auf der Erde: Fruchtbäume und Zedern, wilde und zahme Tiere … Erst am Ende des Textes kommen die Menschen dran. Psalm 148 stellt die Welt dar als eine Entwicklung, in der jedes Geschöpf und jedes Phänomen seine Berechtigung hat – erst am Ende kommt der Mensch. Ich lese Ihnen diesen Psalm 148 in seiner ursprünglichen Fassung vor: Sie hat zum Thema, wie alles, was jemals erschaffen wurde, die Gottheit preist, die alles erschaffen hat. Der Name Gottes, das geheimnisvolle Wort aus den vier Buchstaben J-H-W-H, wird darin wiedergegeben mit dem Wort „Adonaj“.

Lobt Adonaj vom Himmel her,
lobt ihn in den Höhen:

Lobt ihn, all seine Engel,
lobt ihn, all seine Heerscharen,

lobt ihn, Sonne und Mond,
lobt ihn, all ihr leuchtenden Sterne,

lobt ihn, ihr Himmel der Himmel,
ihr Wasser über dem Himmel!

Loben sollen sie den Namen Adonajs;
denn er gebot und sie waren erschaffen.

Er stellte sie hin für immer und ewig.

Lobt Adonaj von der Erde her:
ihr Ungeheuer des Meeres und alle Tiefen,

Feuer und Hagel, Schnee und Nebel,
du Sturmwind, der sein Wort vollzieht,

ihr Berge und all ihr Hügel,
ihr Fruchtbäume und alle Zedern,

10 ihr Tiere alle, wilde und zahme,
ihr Kriechtiere und ihr gefiederten Vögel,

11 ihr Könige der Erde und alle Völker,
ihr Fürsten und alle Richter der Erde,

12 ihr jungen Männer und auch ihr jungen Frauen,
ihr Alten mit den Jungen!

13 Loben sollen sie den Namen Adonajs,
denn sein Name allein ist erhaben,
seine Hoheit strahlt über Erde und Himmel.

Dreißig Wesen sollen Gott preisen – nur acht davon sind Menschen

Dreißig Wesen sollen in diesem Gedicht aus der Bibel Gott preisen – von den Engeln über Sonne und Sterne bis hin zu Bergen und Vögeln sind es zweiundzwanzig nicht-menschliche Wesen. Nur acht Einträge sind auf den Menschen bezogen: von den Königen und Richtern bis zu den Alten und Jungen.

Der Mensch ist nur ein kleiner Teil dieser Welt

Mir sagt das: Die Rolle des Menschen in der Welt müssen wir auch von der Bibel her neu denken. Die Bibel sagt das, was die Wissenschaft über die Entstehung der Welt und des Menschen weiß: Der Mensch ist nur ein kleiner Teil dieser Welt und nur ein kleiner Teil von Gottes Schöpfung.

Musik 2: aus: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“, aus: Joseph Haydn, Die Schöpfung (CD: Joseph Haydn, „Die Schöpfung“, Chor und Orchester der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Leitung: Felix Koch, CD 1, Track 14).

Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung

Ich will mir eine Welt ohne Menschen nicht vorstellen wollen – aber wenn ich mir die Welt mit Menschen denke, muss ich die Frage beantworten: Was ist der Mensch? Ich halte das für die Kernfrage der Gestaltung unserer Gesellschaft. Was zählt der Mensch in der Politik und in der Wirtschaft? Was ist der Einzelne in Kirche, Schule und Militär? Unser Verhalten gegenüber unserer Mitwelt und unseren Mitgeschöpfen hängt ab von unserer Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? „Die Krone der Schöpfung“ – nein, das steht nicht in der Bibel. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung.

Gott gibt dem Menschen den Herrschaftsauftrag

Freilich: In Psalm 8 staunt die betende Person über Gottes Handeln: „Du (Gott) hast ihn (den Menschen) nur wenig geringer gemacht als Gott … du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände“ (Ps 8,6–7). Der Psalm verweist zurück auf das Schöpfungsgedicht am Anfang der Bibel. Dort wird der Mensch als letztes Schöpfungswerk am sechsten Tag und als Abbild Gottes männlich und weiblich geschaffen. Und der Mensch erhält den Herrschaftsauftrag.

Dieser Auftrag ist kein Freibrief

Doch dieser Auftrag Gottes an die eben geschaffenen Menschen ist kein Freibrief dafür, mit dieser Welt nach Belieben umzugehen. Es ist dem Menschen nicht erlaubt, sich in übergroßer Gier einfach alles zu nehmen, was er gern möchte. Oft wird der biblische Text auf die Zeile „Macht euch die Erde untertan“ verkürzt. Diese Sicht ist falsch und gefährlich. Leider gehört diese Passage am Beginn der Bibel zu den am meisten fehlgedeuteten.

Als Stellvertreter Gottes wird der Mensch zur Rechenschaft gezogen

Die Rede vom „Abbild Gottes“ bedeutet: Der Mensch ist Stellvertreter Gottes auf Erden. Das Abbild meint genauer die „Statue“: Wie das Abbild des Pharao an den Außengrenzen den Machtbereich des ägyptischen Königs in der Antike anzeigte, wie die Statue des römischen Kaisers dessen Macht in den Provinzen repräsentierte, so repräsentiert der Mensch Gott auf Erden. Das bedeutet: Hier wird dem Menschen Macht und Verantwortung übertragen, für die der Mensch aber auch zur Rechenschaft gezogen wird. Der Auftraggeber, Gott, fragt den Stellvertreter, den Menschen: Was machst du da?

Die Verantwortung, die Welt im Gleichgewicht zu erhalten

Welchem Stellvertreter, welcher Repräsentantin ist es denn erlaubt, das Werk und den Bereich dessen, den er oder sie vertritt, zu ruinieren und zu zerstören? Botschafterinnen und Gesandte, die Schaden bringen für das Land, für das sie ausgesandt sind, werden abgezogen! „Herrscher“ ist der Mensch über die Erde nicht in einem absolutistischen Sinn, dass ihm alles erlaubt wäre. Im Gegenteil: Wenn wir als Menschen unsere Rolle als Stellvertreter Gottes wirklich ernst und wahr nehmen würden, dann müssten wir alles, aber auch wirklich alles dafür tun, dass diese Welt im Gleichgewicht und erhalten bleibt!

Musik 3: aus: Bernard Huijbers / Huub Oosterhuis: Herr, unser Herr (CD: Atem meiner Lieder, Schola der Kleinen Kirche Osnabrück, Ltg. Ansgar Schönecker, CD 1,5).
 

Gott hat uns eine Anleitung dazu gegeben

Gott hat den Menschen als Stellvertreter eingesetzt und ihm dazu eine Anleitung gegeben. In der ersten Hälfte von Psalm 19 preist die Schöpfung Gott – das Firmament und die Sonne loben Gott. In der zweiten Hälfte des Psalms geht es um die Weisung und Gebote Gottes. Sie werden jetzt gepriesen, es heißt über sie:

Die Weisung Adonajs ist vollkommen,
sie erquickt den Menschen.
Das Zeugnis Adonajs ist verlässlich,
den Unwissenden macht es weise.

Die Befehle Adonajs sind gerade,
sie erfüllen das Herz mit Freude.
Das Gebot Adonajs ist rein,
es erleuchtet die Augen.

Alle Tiere sind unsere Mitgeschöpfe und als solche zu achten

Die Weisung Adonajs ist die Tora, die fünf Bücher des Mose. Die Tora beginnt mit dem Gedicht über die Schöpfung. Hier wird der Mensch zum Stellvertreter Gottes mit entsprechender Verantwortung gemacht – aber auch in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Gott segnet zuerst die Wassertiere und die Vögel. Dann macht Gott die Landtiere, das Wild, das Vieh und die Kriechtiere – und es war gut. Schließlich erschafft Gott die Menschen und segnet sie. Im Zusammenhang heißt das: Alle Lebewesen sind gut und gesegnet. Alle Tiere sind Mitgeschöpfe, zum Leben berufen und dazu, sich zu vermehren. Nirgendwo steht, dass es dem Menschen erlaubt sei, diese Geschöpfe Gottes einzusperren, auf kleinstem Raum, in Massentierhaltung zur Fleischproduktion. Was Menschen in ihrer Profitgier mit Tieren machen, ist – aus biblischer Sicht und aus meiner Sicht – ungeheuerlich und eine große Sünde. Der Blick auf die Schöpfungstexte der Bibel korrigiert die Rolle des Menschen in dieser Welt: Als Stellvertreter Gottes hat der Mensch eine große Verantwortung. Aber er darf nicht durch sein gieriges Wirtschaften die natürlichen Grundlagen zerstören.

Mein Einsatz ist anstrengend – aber er entspricht dem Auftrag Gottes

Gott hat den Menschen geschaffen und eingesetzt, diese Erde zu bewahren und zu schützen. Für mich bedeutet das: Ich will meinen ökologischen Fußabdruck verringern, schonender umgehen mit den Ressourcen, weniger verbrauchen, bewusster einkaufen, Lebensmittel und andere Güter. Ich will mein Geld so verwenden, dass es zum Wohlergehen dieser Welt und anderer Menschen und der Tiere geschieht. Es ist viel Nachdenken gefragt. Das ist anstrengend. Aber es entspricht meiner Rolle als Stellvertreter Gottes auf Erden.

Musik 4: aus: Arvo Pärt (*1935), Sarabande (CD: Pärt, Orchestral works 4, Ulster Orchestra, Takuo Yuasa).


Ich hoffe, dass wir es mit Gottes Hilfe schaffen, die Erde zu bewahren

Manchmal stelle ich mir eine heile Welt vor – eine Welt, in der alle Menschen gemeinsam daran arbeiten, dass alle Wesen, das Klima, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen sehr gut miteinander auskommen. Diese Welt ist möglich – Gott hat dem Menschen dazu genug Verstand gegeben. Was könnten wir nicht alles erreichen, wenn wir die Gier und die Angst vor den anderen überwinden – wenn wir zusammen-, statt gegeneinander arbeiten. Wahrscheinlich muss uns Gott dazu helfen – und ich will diese Hoffnung nicht aufgeben. Und ich hab die Hoffnung, dass Gott unter uns Menschen weilt, dass alle Frieden halten, Mensch und Mensch, Mensch und Tier. Dass keiner mehr dem anderen Schaden zufügt, dass die Kriege aufhören – ich will es sehen und hoffe darauf. Ich erhoffe mir, dass die Sanftmütigen die Erde besitzen und Gerechtigkeit herrscht. Ich will diese Hoffnung nicht aufgeben und daran mitarbeiten.

Musik 5: aus: Jutta Bitsch: Vision (CD: Mit allen Augen. Schöpfungsoratorium von Jutta Bitsch, Canticum novum, Neue Philharmonie Westfalen, Leitung: Michael Schmutte, Track 12).

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