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Liebe in Zeiten des Schreckens
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Liebe in Zeiten des Schreckens

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Musikauswahl und Sprecher der Zitate: Kantor Jochen Faulhammer

 

Keine guten Zeiten für Liebe, sagte neulich ein Freund zu mir. Er könnte Recht haben. Keine guten Zeiten für Liebe. Wer die letzten drei Jahre noch im Blick und im Herzen hat, weiß um die Schwere der Zeit. Vor allem um die Ohnmacht. Wir waren ja wie ausgeliefert der weltweiten Krankheit. Wir konnten nur warten, bis es besser wird und leichter zu tragen war. Und dann kam der Krieg, der Überfall Russlands auf die Ukraine. Mit ihm erreichten uns Bilder, die viele von uns nur aus Büchern und Filmen kannten. Schreckliche Bilder von Zerstörung, Flucht und Vertreibung. Das waren keine Spielfilme, das war wirkliches Leben nicht weit von uns. Manchmal konnten wir persönlich helfen, manchmal konnten unser Land und Europa helfen - aber irgendwie war es nie genug. Der Krieg und die Brutalität Russlands lähmten viele Menschen, machten sie wieder ohnmächtig. Keine guten Zeiten für Liebe. Da stimmen manche zu.

Nur Zuwendung zu anderen macht das eigene Leben reicher und tiefer

Ich nicht. Jedenfalls nicht immer. Ich möchte heute Morgen von zwei Menschen erzählen, die immer versucht haben, einen Weg der Liebe zu finden - ganz gleich, wie die Welt gerade war und was sie selber erlebt hatten. Zwei Menschen, die nicht einfach geliebt haben, sondern sich manchmal Liebe geradezu verordnet und darüber geschrieben haben. Weil sie wussten: Nur Zuwendung zu anderen macht das eigene Leben reicher und tiefer.

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Manche wollen einfach, dass geliebt wird. Sie setzen alles daran. Sie schreiben, sie erklären, sie raten sich und anderen. Man könnte geradezu sagen: Sie verordnen die Liebe - sich und anderen. Weil sie fest davon überzeigt sind: Nur Zuwendung zu anderen Menschen macht das eigene Leben reicher und tiefer. So ein Mensch war Paulus, der Apostel.

Paulus hasste Christen

Seine Lebensgeschichte ist eigenartig. Er war Jude und zugleich römischer Staatsbürger, geboren in Tarsus, der heutigen Türkei, direkt am Mittelmeer. Von Beruf war er Zeltmacher. Da konnte man reich werden. Zelte wurden gebraucht in Zeiten, in denen man viel herumkam und es nur wenige Gaststätten gab. Ob Paulus reich war, wissen wir nicht. Was wir aber wissen: Er hasste Christen. Dieser neue Glaube war dem Juden Paulus ein Dorn im Auge. Er freute sich, wenn Christen verfolgt und womöglich hingerichtet wurden. Angeblich war er Zeuge, wie Stephanus für seinen Glauben an Christus starb. Paulus soll sogar „Gefallen“ gehabt haben an diesem grausamen Schauspiel der Steinigung (Apostelg. 8,1).

"Warum verfolgst du mich?"

Aber dann kam dieser andere Tag im Leben des Paulus. Er ist auf Reisen und sieht plötzlich „ein Licht vom Himmel“ (Apostelgeschichte 9). Er „fällt auf die Erde“ und hört eine Stimme, die ihn fragt: „Warum verfolgst du mich?“ Jesus selbst fragt ihn das. Und Paulus weiß wohl keine rechte Antwort auf diese Frage des Himmels. Später erzählt er, wie er diesen Moment empfunden hat. Ihm war, als würde er aus seinem alten Leben herausgerissen und in ein neues gestellt. Keine Verfolgung von Menschen mehr, sondern Zuwendung zu Menschen. Keine verächtlichen Worte mehr, sondern Sätze wie diesen: Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen (1. Korinther 16,14). Damit meint Paulus nicht nur andere, sondern auch sich selbst. Sein neues Leben in Liebe.

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Paulus und das Hohelied der Liebe

Paulus wird zu einem Apostel der Liebe. Auch in Zeiten des Schreckens für ihn selber. Mehr als einmal muss er ins Gefängnis, weil er sich den Mund nicht verbieten lässt. Jetzt, in seinem neuen Leben, will er möglichst alles richtig machen und davon erzählen, dass uns nur die Liebe vor den Schrecken des Lebens bewahren kann. Und weil Paulus auch noch hoch gebildet ist und wunderbare Worte finden kann, schreibt er ein Hohelied der Liebe. Das gehört heute zur Weltliteratur. Wenn wir sonst nichts von Paulus, Jesus und dem Christentum wüssten, würden diese Worte genügen. Sie sagen alles, was wir vom Leben wissen müssen - von einem Leben in Zuneigung:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

Paulus meint hier die Liebe als Kraft, die die Welt zusammenhält. Er beschreibt, wie die Liebe sich verhält:

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

Liebe hält länger als alles andere

Paulus ist überzeugt: Liebe hält länger als alles, was Menschen wissen oder sagen können:

Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.      

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. (1. Korinther 13)

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Glaube, Hoffnung, Liebe

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Das sind Worte wie kostbare Perlen. Auch wenn wir vielleicht diesen Worten des Paulus nicht sofort und auch nicht immer glauben können, so können wir sie doch immer hören und uns daran erfreuen. In ihnen liegt, finde ich, eine tiefe Wahrheit: Nur die Liebe, die Zuwendung zu anderen macht mein eigenes Leben reicher und tiefer. Nur Zuneigung und Fürsorge zu anderen hilft mir, selber nicht zu verbittern.

Der US-amerikanische Schriftsteller Raymond Carver erzählt auch von der Liebe

Das bewegt auch den anderen Menschen, von dem ich Ihnen heute Morgen erzählen möchte. Es ist der US-amerikanische Schriftsteller Raymond Carver (1838 - 1988). Er lebte und wurde bekannt in den 1980er Jahren mit kurzen Geschichten über den Alltag von Menschen. Wie sie leben, wie sie an der Welt leiden, wie sie zu lieben versuchen und dabei scheitern oder glücklich werden. Carver hat einen nüchternen Blick auf einfache Leute, die mehr scheinen wollen, als sie sind, und viel mehr fühlen, als sie sagen können. Er selber wurde nur 50 Jahre alt. Seine Geschichten aber sind jung geblieben, vor allem diese hier. Sie heißt: „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“.

"Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden"

In der Geschichte sitzen zwei Ehepaare an einem Küchentisch. Sie haben sich verabredet, wollen Essen gehen, haben aber noch Zeit - zum Reden, vor allem aber zum Trinken, zum viel Trinken. Die eine Frau spricht von ihrer früheren Beziehung und davon, wie ihr ehemaliger Mann ihr noch lange nachgestellt hat, auch mit Drohungen. Diese Drohungen zeigen ihr überraschenderweise auch die Größe seiner Liebe. Sie schwärmt geradezu von den Drohungen, an denen sie seine echte Liebe gespürt haben will.

Ihr jetziger Mann aber, ein Arzt, weist das zurück. Er sagt: Es ist keine Liebe, wenn man seiner ehemaligen Frau noch jahrelang droht und nachstellt. Liebe sei Fürsorge - wie er selber sie zeigt, soll das wohl heißen. Damit sind die vier Personen beim Thema der nächsten Stunde: Liebe. Ein Dauerbrennerthema, über das viel geredet und noch mehr gesungen wird. Wie in dieser Geschichte, in der die Worte mit der Anzahl der Getränke zahlreicher werden. Darum löst sich jetzt auch die Zunge des Arztes. Er hört kaum mehr zu, außer auf seine eigenen Worte. Aber in seinen vielen Worten schimmert plötzlich so etwas wie eine tiefe Wahrheit.  

Den Partner sehen wollen -  auch noch nach vielen Jahren

Der Arzt hat nämlich auf seiner Station etwas erlebt, was ihn staunen lässt und was er immer weiter erzählen muss, während er immer weiter trinkt. Der Arzt hat im Krankenhaus ein älteres Ehepaar beobachtet, Jahrzehnte verheiratet, das nach einem Autounfall - am ganzen Körper verletzt und verbunden - im selben Zimmer liegt. Sie liegen so, dass es keinem von beiden möglich ist, den anderen im Bett nebenan zu sehen. „Ich sage euch“, sagt der Arzt, „dem Mann brach es das Herz, weil er seinen Kopf nicht drehen und seine Frau nicht sehen konnte.“ Der alte Mann im Krankenzimmer hat nur einen Wunsch: Man möge sein Bett so drehen, dass er seine Frau sehen kann.

Dem Arzt ist das unbegreiflich. Die Tiefe dieser Liebe, der Seelenschmerz, der ja mit den Verletzungen des alten Mannes nichts zu tun hat. Sein wahrer Schmerz ist, dass er seine Frau nicht sehen kann, mit der er schon so lange verheiratet ist. Während der Arzt um Fassung ringt und noch ein paar Schlucke zu sich nimmt, ruft er den drei anderen am Küchentisch zu: „Versteht ihr, was ich sagen will?“

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Der wahre Schmerz des Verunglückten ist, dass er seine Frau nicht sehen kann, mit der er schon so lange verheiratet ist. „Versteht ihr, was ich sagen will?“, fragt der Arzt dann die anderen. Aber die anderen verstehen ihn nicht. Der Arzt selber versteht nicht, was er da Wahres gesagt hat mit schon sehr lockerer Zunge. Trotzdem hören wir aus seiner Fassungslosigkeit, wie in dem Krankenzimmer plötzlich eine Liebe sichtbar und spürbar wird, die Hingabe und Sehnen zugleich ist, auch noch nach vielen Jahren des Zusammenlebens. Der Arzt hat wohl doch eine Ahnung, wenn er am Schluss feststellt: Ich hörte mein Herz schlagen. Ich hörte die Herzen der anderen.

Liebe ist heilsam und sorgt sich

Liebe ist aber nicht nur das Schlagen des Herzens, sondern eine wertvolle Erkenntnis. Sie steht gar nicht da in der Geschichte, schimmert aber zwischen den Worten und den vielen Gläsern mit Alkohol hindurch: Liebe ist heilsam. Weil sie die Bedürftigkeit erfühlt - die eigene und die der anderen. Liebe erfühlt auch die Schrecken des anderen. Und Liebe sorgt sich. Indem sie sich sorgt, ist sie heilsam, bringt sie ein wenig Linderung. Wenn man schon so bewegungslos ist wie das alte Ehepaar, dann will man sich wenigstens ansehen können; sich also gegenseitig seines Lebens versichern. Weil man sich doch umeinander sorgt, einander liebt.

Mit Liebe versichern wir einander, dass wir da sind und wirklich leben. Nur Fürsorge zu anderen hilft mir, selber nicht zu verbittern. Ich helfe mir, wenn ich anderen helfe. Gerade in Zeiten des Schreckens.

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Liebe ist eine Lebenseinstellung

Liebe ist mehr als ein Gefühl. Sie ist eine Haltung im Leben, eine Lebenseinstellung. Das hat Paulus verstanden und in Worte gefasst. Aus dem Leben Jesu hat er gelernt: Für Menschen ist einer wie Jesus nicht heilsam, weil er heilt. Er heilte ja nur einen Bruchteil der Menschen, denen er begegnet ist. Jesus ist heilsam, weil er die Bedürftigkeit von Menschen erkennt. Und die ist manchmal grenzenlos. Jeden Tag wieder öffnet sich eine neue Tür zur Bedürftigkeit. Jeden Tag wieder fühlen Menschen hier oder da einen Stich und spüren, was ihnen womöglich fehlt, was sie zu brauchen meinen und was sie unbedingt noch erreichen wollen. Beinahe jeden Tag wieder gibt es ein Gefühl des Mangels. Gerade in Zeiten des Schreckens. Und die Seele findet kaum noch Ruhe.

Es sei denn, ein anderer versteht das. Wer verstanden wird, für den wird vieles leichter. Sogar Schmerz. Das ist der Grund, warum die Zuneigung des alten Mannes im Krankenzimmer nur ein Ziel hat: Ich will meine Frau sehen, ansehen können. Ich kann an ihrer Lage nichts ändern, ich kann sie nicht heilen, vielleicht nicht einmal trösten - ich kann sie aber sehen in ihrer Not. Und kann durch Ansehen und Sehen womöglich erkennen lassen, dass ich ihre Not verstehe und teile.

Man kann einen anderen Menschen besser verstehen, wenn man seinen Mangel kennt

„Echte Liebe“ versteht, dass kaum ein Mensch sich selber genügt. Jeder und jede möchte geachtet werden, besonders in einem: wie bedürftig er oder sie ist. Ganz gleich, was jemand tut; und ob wir das gut finden oder nicht, ob das Tun eines anderen hilft oder nicht. Einen anderen Menschen versteht, wer seinen Mangel erkennt.

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Liebe ist heilsam, weil sie um unseren Mangel weiß. Jesus ist ja auch ein Wort für Gottes Liebe zu uns Menschen. Jesus hat Liebe überhaupt verkörpert. Alle vier Evangelien im Neuen Testament erzählen von einem Jesussatz, der vielleicht nicht so beliebt ist in Zeiten, in denen Menschen oft sich selbst verwirklichen, sich selbst behaupten möchten um beinahe jeden Preis. Jesus sagt (Lukas 9,24):
Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Eigenliebe ist nötig, aber sie muss auch erfühlen, was andere nötig haben

Das Leben erfüllt sich nicht allein durch Eigenliebe, so nötig sie auch ist. Das Leben erfüllt sich und heilt, wenn die Eigenliebe auch noch erfühlt, was andere nötig haben. Und sei es nur, sie anzusehen und zu verstehen, woran es ihnen mangelt. Verstehen heißt nicht, dass ich billige, was sie tun. Aber doch ahne, warum sie es tun; auch das Falsche.

Niemand kann sich nur alleine heilen. Heilsam ist, dass ich verstanden werde in meiner Not mit mir und den Schrecken der Welt. Nur wer verstanden wird, fühlt sich geachtet, vielleicht geliebt; und kann sich ändern. Mit Liebe versichern wir einander, dass wir da sind und wirklich leben. 

"Die Liebe höret nimmer auf"

Die Liebe höret nimmer auf.“ Dieser Satz aus dem biblischen Hohenlied der Liebe ist die große Hoffnung vor allem in Zeiten des Schreckens. Dass immer Menschen da sind, die nicht nur auf ihr eigenes Wohl achten und wie sie selber unbeschadet durchs Leben kommen - sondern auch die im Blick behalten, die nicht mehr mitkommen, warum auch immer. Ihnen beizustehen, ihnen fürsorglich zu begegnen lindert nicht nur deren Schrecken, sondern auch meine eigenen.

Meine Zuwendung zu anderen macht mein eigenes Leben reicher und tiefer. Es ist ein Geschenk Gottes, dass es immer und überall Menschen gibt, denen die Not anderer nicht egal ist. Weil sie überzeugt sind: Ich lebe, damit Liebe das letzte Wort hat.

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