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Dynamik, Kraft und Verbundenheit
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Dynamik, Kraft und Verbundenheit

Dr. Michael Gerber
Ein Beitrag von Dr. Michael Gerber, Bischof von Fulda
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Liebe Hörerinnen und Hörer,

herzlich grüße ich Sie heute am Pfingstmontag aus Fulda. Nach alter Tradition feiern wir in Deutschland zwei Tage lang das Pfingstfest. Für uns in Fulda steht heute ein großer ökumenischer Gottesdienst bei der Landesgartenschau an. Dort lädt das „Himmelszelt“ der evangelischen Kirche Besucherinnen und Besucher zum Verweilen und zum Gebet ein. Mit dem Gebet um den Heiligen Geist ist zutiefst die Sehnsucht und die Bitte um die Einheit verbunden. Hören wir den pfingstlichen Hymnus „Veni sancte spiritus“ in der Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart.

Mozart "Veni sancte spiritus" KV 47 - Arnold Schönberg Chor Wien

Zwei ambivalente Lesungen prägen das Pfingstfest

Am Pfingstfest werden wir mit zwei Lesungen konfrontiert, die eine eigentümliche Spannung aufweisen. Da ist auf der einen Seite die Lesung aus der Apostelgeschichte mit der Schilderung des Pfingstereignis 50 Tage nach Ostern: Menschen aus allen damals bekannten Regionen kommen nach Jerusalem. Die Wallfahrt nach Jerusalem spielt für gläubige Juden aus aller Welt bis heute eine große Rolle. Menschen mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen begegnen sich. Bei jenem Pfingstereignis, von dem die Apostelgeschichte berichtet, hören die Pilger von den Aposteln, wie sie von Jesus erzählen. Erstaunt – so heißt es – stellen die Pilger fest: „Wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.“

In einem Gegensatz dazu steht der Lesungstext aus dem Buch Genesis. Er ist ebenfalls für das Pfingstfest vorgesehen, genauer gesagt für den Vorabend des Pfingstsonntages. Von dieser Erzählung haben bestimmt viele von Ihnen schon gehört, es ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Historisch belegbar ist diese Geschichte nur schwer. Doch ich glaube, dass sich in diesem alten biblischen Text eine wichtige Grunderfahrung spiegelt, die wir auch aus unseren Tagen kennen: Menschen sind zunächst begeistert für eine gemeinsame Vision. Symbol dafür im Buch Genesis ist der große Turm, der gebaut werden soll. Doch dann kommt es zur Auseinandersetzung und zur Krise des großen Projektes. Die Gemeinschaft fällt auseinander. Die Menschen verstehen einander nicht mehr. Sie sind in ihren eigenen Sprachzirkeln unterwegs oder – wie wir heute sagen würden, sie bewegen sich in ihren eigenen Blasen.

In gewisser Weise verweist das auch auf die Situation der Frauen und Männer, die mit Jesus unterwegs waren. Seit dem gewaltsamen Tod am Kreuz haben sie sich zurückgezogen.

Es heißt, dass sie die Türen verschlossen hatten. Das geschah wohl auch aus purer Angst, dass das, was ihrem Meister passiert ist, auch ihnen blühen könnte. Eine Gemeinschaft, die von außen sehr stark unter Druck geraten ist, igelt sich ein. Das ist eine zutiefst menschliche Reaktion. Wir können sie immer wieder beobachten. Wo Menschen unter Druck geraten, wo ihr Tun so stark angezweifelt wird, da ziehen sie sich zurück. Sie reduzieren ihre Kontakte auf diejenigen, auf die sie sich absolut verlassen können. Sie sind vor allem mit denen in Kontakt, die, bildlich gesprochen, die gleiche Sprache sprechen. Das Pfingstfest hat also eine Wurzel in dieser zutiefst menschlichen und bis heute immer wieder zu beobachten Erfahrung.

Musik: Telemann - Orchestersuite “La Bizarre"- Akademie für Alte Musik Berlin

So stelle ich mir Jerusalem an diesem ersten Pfingstmorgen vor. Irgendwo in einem Raum sitzen ausgegrenzt (abgeschlossen) die Frauen und Männer, die noch nicht ganz begreifen können, was da mit Jesus genau passiert ist. Und draußen, auf den Straßen der Stadt Jerusalem, da pulsiert das Leben. Wir begegnen Menschen, gläubigen Juden, aus allen Herren Ländern, die nach Jerusalem gekommen sind. Das ist ein ganz deutlicher Kontrast zum geschlossenen Kreis der Jünger.

Und doch bildet viele Jahrhunderte vor diesem Pfingstereignis ein solch deutlicher Kontrast auch den Urimpuls überhaupt für die Wallfahrt der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen nach Jerusalem. Im zweiten Kapitel des Jesajabuches formuliert Jesaja eine Vision, die auf diese Völkerwallfahrt verweist. Da heißt es:

Am Ende der Tage wird es geschehen: der Berg des Hauses des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge. Das ist ein Hinweis auf Jerusalem. Und dann heißt es weiter: Viele Völker gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom Zion zieht Weisung aus und das Wort des Herrn von Jerusalem.

Dieser Text bei Jesaja ist in einer Zeit entstanden, in der Jerusalem und das Volk Israel bildlich gesprochen am Boden lagen. Wenige Jahre zuvor war Jerusalem samt Tempel durch die Babylonier zerstört worden. Die Elite des Volkes war im Exil und es fehlte die Perspektive, wie es weitergeht. Mit großer Wahrscheinlichkeit erinnert vom Wort her der Turmbau zu Babel nicht zufällig an das Reich der Babylonier. Wenn es da am Ende der Lesung heißt, dass nach der Sprachverwirrung die Menschen über die ganze Welt zerstreut wurden, dann finden wir im griechischen Text der Bibel, in der so genannten Septuaginta an dieser Stelle ein Verb, in dem das griechische Substantiv „Diaspora“ anklingt. Das ist der Ausdruck, der das Leben des jüdischen Volkes in dieser Zerstreuung gekennzeichnet. Bereits in den Jahrzehnten vor der Deportation der Elite nach Babylon gab es solche Erfahrungen der Zerstreuung.

Druck von außen und die Erfahrung, eine Minderheit geworden zu sein: In dieser Situation spricht vieles dafür, sich zurückzuziehen, sich im eigenen Lebensumfeld nur noch auf die ganz Getreuen zu verlassen. Doch jetzt wird es interessant. Denn genau in dieser Situation von Druck und Zerstreuung entsteht mitten im Volk Israel die Vision einer Weite. Genau in dieser Situation und angesichts der Trümmer der eigenen Stadt gibt es den Impuls für eine ganz andere Dynamik. Nicht der Rückzug in die eigene Blase, in den eigenen Sprachzirkel ist angesagt.

Nein, auf der ganzen Linie Weite, Weite, Weite. Dieser Ort, der jetzt noch in Trümmern liegt, der wenig wohnlich wirkt, genau diese zerstörte Stadt Jerusalem soll ein Ort werden, der Menschen zusammenführt. Der eben zitierte Text von Jesaja zeugt von einem Mentalitätswechsel, der so einfach nicht erklärbar ist.

In der Abgeschiedenheit und Enge - Weite und Gemeinschaft zulassen

Eine ähnliche Dynamik zeigt sich Jahrhunderte später wieder bei den Frauen und Männern, die einst Jesus nachgefolgt waren. Für mich ist das die grundlegende Dynamik des Pfingstfestes. Dort, wo nach menschlichem Ermessen es völlig plausibel ist, sich zurückzuziehen in die eigenen vier Wänden, genau dort begegnet uns eine Vision der Weite. Woher kommt das?

Die Jünger Jesu werden später sagen: Nein, nicht wir haben aus eigener Kraft den inneren Schalter umgelegt. Da hat uns in diesem Moment noch einmal eine ganz andere Kraft ergriffen. Das war eine Kraft wie ein Brausen, wie Feuer und jede und jeden von uns hat es berührt. Diese Dynamik kam nicht aus uns selbst. Aber – wir haben diese Dynamik zugelassen, wir haben uns in diese Bewegung hineingestellt.

Wie der zitierte Abschnitt am Anfang des Jesajabuches bringt auch Psalm 122 diese Dynamik zum Ausdruck. Von der Freude, nach Jerusalem zu Pilgern, vom Frieden, von den Brüdern und Schwestern, also von einer Verbundenheit ist hier die Rede. Es ist ein Psalm, den die Pilger auf ihrem Weg immer wieder gebetet haben und den gläubige Juden auf ihrer Wallfahrt nach Jerusalem bis heute beten. Hören wir die Vertonung dieses Psalms von Antonio Vivaldi.

Musik: A. Vivaldi - "Laetatus sum" - Concerto Italiano

Betrachtet man diesen Wandel in der Dynamik, so ist das, was wir an Pfingsten feiern, für uns heute mehr als aktuell. Die großen Spannungen, die wir erleben, ob globalpolitisch, ob im Blick auf den Klimawandel und viele andere dringende Probleme: Sie können bisweilen den Effekt erzeugen: Ziehen wir uns zurück, schauen wir, dass wir hier irgendwie gut durchkommen. Wie viele Enttäuschte gibt es auch in unseren Tagen? Es sind Menschen, die oft nach vielen schmerzvollen Erfahrungen sagen: Die Vision vom geeinten Europa, von einer solidarischen Welt, das trägt doch nicht. Ich mache mein Ding, schauen wir, wie wir irgendwo durchkommen.

Pfingsten erzählt genau von der gegenteiligen Dynamik. Pfingsten erzählt von der Erfahrung, jener Frauen und Männer damals. Sie erleben: Genau dort, wo der Druck und die Spannungen unzumutbar groß sind, genau dort wird uns eine Weite geschenkt. Genau dort erfahren wir den Impuls nach außen, den Impuls einer Verbundenheit mit jenen, die auf den ersten Blick so anders sind als wir, genau dort erfahren wir den Impuls einer Verantwortung füreinander.

Nochmals zurück zum Propheten Jesaja. Im 54. Kapitel greift das Jesaja Buch diese Vision von der Weite nochmals auf. Hier geschieht das eingebunden in ein originales Bild. Dieses Bild spielt derzeit beim Zugehen auf die große weltkirchliche Synode der katholischen Kirche im kommenden Herbst in Rom eine wichtige Rolle. Da heißt es bei Jesaja: Mach den Raum deines Zeltes weit. Spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen! Mach deine Zeltseile lang und deine Zeltflüge fest.

Die Kirche heute braucht Weite – Rom hat das formuliert

Im zentralen Vorbereitungsdokument, das im vergangenen Oktober im Vatikan veröffentlicht wurde, wird gesagt, dass dieses Zitat als Verweis auf eine inklusive Kirche gedeutet werden kann, also eine Kirche, in der Menschen ganz unterschiedlicher kultureller Prägungen einen Platz finden. Als ich jenes Dokument, das Sie im Internet unter dem Stichwort „Mach den Raum deines Zeltes weit“ finden, erstmals gelesen habe, hat es mich sehr berührt. Die Kirche erlebt ja derzeit sehr viel Druck und einiges davon ist berechtigt. Aber ich sehe auch die Gefahr, dass das in der Kirche Mentalitäten fördern kann, die auf Einigelung setzen, auf das Unterwegssein nur noch mit den ganz Getreuen. Dagegen setzt das Papier aus Rom: Es geht eben um diese Weite. Der Text aus Rom nennt zugleich die Probleme, die uns als Kirche einholen, deutlich beim Namen. Es besteht kein Zweifel, dass wir uns diesen Problemen weiterhin stellen müssen.

Das ist meine Sehnsucht für dieses Pfingsten 2023 und für die Monate, die jetzt folgen. Dass wir gerade angesichts der gewaltigen globalen Spannungen und der spürbaren Zerrissenheit in unserer Welt und in unserer Kirche dennoch genau in dieser Welt und in unserer Kirche Orte erleben können, an denen diese pfingstliche Dynamik spürbar ist. Eine Dynamik, die Kraft gibt, sich den Problemen und den dunklen Seiten in großer Verantwortung zu stellen. Eine Dynamik, die zugleich mit dafür sorgt, dass Menschen ganz unterschiedlicher Prägung eine Heimat finden und vor allem eine lebendige Erfahrung machen, wie ein Miteinander, ein gemeinsames Gehen möglich ist. Hören wir zum Abschluss die Vertonung des 84. Psalms von Josef Rheinberger. Da heißt es im Psalm: Selig die Menschen, die Kraft finden in dir, die Pilgerwege im Herzen haben. Ziehen sie durch das Tal der Dürre, machen sie es zum Quellgrund und Frühregen hüllt es in Segen.

Ich wünsche Ihnen in diesen Tagen gesegnete Wege in der Dynamik des Heiligen Geistes.

Musik: J. Rheinberger „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ - Kammerchor Stuttgart

Musikredaktion: Regionalkantor Thomas Wiegelmann, Bad Orb

 

 

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