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Nina Simone: Ain´t Got No, I Got Life
Pixabay/Valéria Rodrigues

Nina Simone: Ain´t Got No, I Got Life

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Songtext: Nina Simone - Ain´t Got No, I Got Life

Nina ist 35 Jahre. Eine junge Frau. 
Sie ist selbstbewusst. Erfolgreich. Schön.
Sie steht auf der Bühne.
Ihr Kleid glitzert im Licht der Scheinwerfer.
Tosender Jubel. Das Publikum kann es kaum erwarten, sie endlich singen zu hören.

Gespannte Stimmung im Publikum

Die große Stimme der Nina Simone, eine Jazz- und Soulsängerin aus den USA.
Nina wartet noch eine Weile.
Ernst schaut sie ins Publikum.
Der Applaus nimmt ab. Die Stimmung ist gespannt.
Ihre Augen wandern hin und her, so als ob sie etwas suchen würde.
Dann setzt sie sich an den Flügel und beginnt zu spielen.

Ain't got no home, ain't got no shoes
Ain't got no money, ain't got no class
Ain't got no skirts, ain’t got no sweater
Ain't got no perfume, ain’t got no beard,
Ain’t got no man.

18 Zeilen beginnen mit den gleichen Wörtern

Der Beat des Liedes ist mitreißend. Nina Simone singt davon, was vielen Schwarzen Menschen in den USA bis in die 60er Jahre verwehrt ist: das Ansehen der eigenen Person, der Zugang zu Schulbildung, zu Geld, zu Arbeit. Der Rhythmus und die Melodie wiederholen sich. Es ist wie ein Hamsterrad, das sich dreht. 18 Zeilen beginnen mit den gleichen Wörtern: Ain’t got no.
Das bedeutet so viel wie: Ich habe das nicht.

Ain't got no mother, ain't got no culture,
Ain't got no friends, ain't got no schooling
Ain't got no love, ain't got no man
Ain't got no ticket, ain't got no pocket
Ain't got no god
Autorin spricht das auf Musik:
„Ain’t got no mother, ain’t got no culture, ain’t got no friends.“ 
Keine Mutter, keine Kultur, nicht mal Freunde, kein Kleid, keine Fahrkarte. Leute schaut mich an. Ich habe Nichts.

Der Text des Liedes spiegelt Nina Simones Erfahrungen wider

Der Liedtext drückt aus, was Nina Simone selbst erlebt hat. Sie wächst mit ihren Eltern und sieben Geschwistern in North Carolina auf. Ihre Mutter ist Predigerin einer Schwarzen Methodistengemeinde. Ganz früh, mit drei oder vier Jahren, beginnt Nina Simone Klavier zu lernen. Als 14-jährige sollte sie einmal vor einem weißen Publikum vorspielen. Ihre Eltern mussten als Schwarze hinten sitzen, das war Ende der 1940er Jahre so üblich. Nina Simone erzählt in einem Interview: „Ich habe bei diesem Vorspiel so lange mit dem ersten Ton gewartet, bis meine Eltern endlich vorn sitzen durften.“

Sie demonstriert mit Martin Luther King

Der Song „Ain’t Got No / I Got Life“ kommt 1968 raus. Da ist Nina Simone 35 Jahre alt und Teil der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Sie demonstriert Anfang der 60er Jahre Seite an Seite mit Martin Luther King und ist 1968 schon weltberühmt. Sie tritt in New York und Paris auf, sie trägt teure Kleider, hat viele Freunde und Menschen, die sie fördern.

Für „Stimmlose“ Sprachrohr sein

Nina Simone ist mit ihrer Musik berühmt geworden. Sie will Sprachrohr sein für die, die diese Privilegien nicht genießen können: Weil sie zum Beispiel in einfachen Verhältnissen aufwachsen, weil sie kein musikalisches Talent haben und kein Netzwerk an Beziehungen. Stellvertretend für viele Schwarze fragt sie: Was ist der Sinn, dass ich mich nicht frei ausleben kann und in allem ganz auf mich geworfen bin? Wenn ich den Eindruck habe, dass mir nicht mal Gott beisteht? Was hält mich da am Leben? 

But what have I got?
Let me tell ya what I've got
That nobody's gonna take away

Ihre Fragen aus dem Song - noch heute aktuell

Was habe ich überhaupt? Worauf kann ich mich verlassen, was mir niemand nehmen kann? 
Nina schreit diese Fragen ins Publikum.

Diese Fragen bewegen mich auch, 55 Jahre später, im Sommer 2023.

Im Juni hat ein Pfarrkollege von mir die Abschlusspredigt auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Nürnberg gehalten.

„Black lives always matter!“

Quinton Ceasar war der erste Schwarze Pfarrer, der am Schluss des Kirchentags in einem so prominenten Gottesdienst gepredigt hat. Tausende von Zuschauern haben seine Predigt vor Ort oder zu Hause an den Bildschirmen gehört. Er hat davon erzählt, wie er als Mensch und auch als Pfarrer mit Schwarzer Hautfarbe in Deutschland diskriminiert wird. Und dann hat er in die Menge gerufen: „Black lives always matter!“ Schwarze Leben zählen immer.

Rassistische Beleidigungen für Quinton Cesar

Quinton Caesar hat auf diese Predigt vor Ort in Nürnberg viel Beifall bekommen. Aber in den sozialen Medien haben hinterher viele Menschen über ihn hergezogen. Sie haben ihn rassistisch beleidigt. Damit haben sie ihre Freiheit, die eigene Meinung zu äußern, überzogen. Sie haben Quinton in seinem Recht und seiner Freiheit auf Leben unterdrückt. Das ging sogar so weit, dass er seine Kontaktdaten als Pfarrer kurzzeitig im Internet verbergen musste, weil er eine Morddrohung erhalten hat.

Was also bleibt vom Leben? Was bleibt von mir übrig, wenn ich ganz auf mich gestellt bin?

Nobody can take away
I got my hair, got my head
Got my brains, got my ears
Got my eyes, got my nose
Got my mouth
I got my smile

I got my tongue, got my chin
Got my neck, got my boobies
Got my heart, got my soul
Got my back
I got my sex

I got my arms, got my hands
Got my fingers, got my legs
Got my feet, got my toes
Got my liver
Got my blood

Was Nina Simone einzigartig macht

Nina Simone kommt jetzt in Schwung. Ihr ganzer Körper bewegt sich rhythmisch, aus ihrem Gesicht ist alle Sorge gewichen. Ihre Gedanken bewegen sich nicht mehr im Hamsterrad. Sie bricht aus der negativen Gedankenspirale aus und zählt alles auf, was sie einzigartig macht und was ihr niemand nehmen kann: Black power!
Mein Körper und meine Sinne, meine Haare, mein Kopf, mein Denken, mein Lächeln, meine Arme, meine Hände und Füße. Mein Blut – ja, ich habe Leben in mir.

„Ich danke Dir, dass ich wunderbar gemacht bin!“

Aus den Liedversen von Nina Simone höre ich ein biblisches Lied durchklingen, den Psalm 139. Da heißt es: Ich danke Gott dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. (Psalm 139,14)

Der Mensch, der diesen Psalm betet, weiß: Gott kennt mich schon, seit ich im Bauch meiner Mutter war. Deshalb brauche ich keine Angst haben vor denen, die gegen mich sind, die mich unterdrücken. Gott hat mich wunderbar gemacht und ist an meiner Seite. Ich kann in Freiheit und aufrecht durchs Leben gehen.

Nicht alle können das so sagen

Das lässt sich in meiner Position leicht sagen, als Frau mit weißer Hautfarbe, verheiratet und mit sicherem Einkommen. Menschen, die wie Quinton Caesar von Rassismus betroffen sind oder aus anderen Gründen diskriminiert werden, müssen sich jeden Tag diese Freiheit neu erkämpfen.

Leben in Freiheit ohne die Freiheit anderer zu gefährden

Ich glaube, wir werden als Menschen erst dann ganz frei, wenn wir diesen Schmerz miteinander teilen. Den Psalm 139 höre ich daher weniger Ich-bezogen. Es geht nicht darum, dass nur ich wunderbar gemacht bin. Gott hat alle Menschen geschaffen – in Vielfalt. Vor Gott sind alle Menschen sind gleich. Jeder Mensch atmet und lebt und darf, ja soll in Freiheit leben – ohne die Freiheit anderer Menschen zu gefährden.

I got life
I got my freedom
I got my life

Ein selbstbewusster Auftritt

Nina Simone verwandelt ihren Schmerz in ein Lied unbändiger Freiheit. Sie hat viele Jahre hart an diesem positiven Lebenslied gearbeitet. Jetzt ist sie berühmt und nimmt sich die Freiheit selbstbewusst als Schwarze Frau auf die Bühne zu treten. Mit ihrem Lied „Ain’t Got No / I Got Life“ zeigt sie aller Welt: Seht her! Wunderbar bin ich gemacht, das erkennt meine Seele. Davon will ich singen.

Dieser Song sollte auch heute gehört und gesungen werden

Ihre Stimme ist befreit, die Melodie steigt nach oben, der Rhythmus ist ganz frei, ohne Takt, so wie es im Jazz üblich ist.
Und wenn Nina Simone dieses Lied vor 55 Jahren so singen konnte, wieviel mehr sollte es heute in Deutschland gesungen und gehört werden, in Kirchenräumen und auf Marktplätzen, in Schulklassen und im Parlament: Alle Menschen sind gleich. Wunderbar von Gott gemacht. Das erkennt meine Seele.

I got life
I got my freedom
I got my life
Nobody can take it away
I got my life.

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