Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Gott wohnt in mir
Bildquelle: pixabay

Gott wohnt in mir

Anke Jarzina
Ein Beitrag von Anke Jarzina, Katholische Pastoralreferentin in der Pfarrei St. Peter und Paul in Wiesbaden
Beitrag anhören:

„Ich muss nicht in die Kirche gehen, um Gott zu begegnen.“ Diesen Satz hab ich schon ziemlich oft gehört. Ich hab ihn auch schon ziemlich oft gesagt, denn ich bin tatsächlich davon überzeugt: Ich brauch die Kirche nicht, um mit dieser höheren Macht in Kontakt zu kommen, die für mich Gott ist. Das klingt aus dem Munde einer Frau, die für die katholische Kirche arbeitet, fast schon aufrührerisch – aber: Das ist es gar nicht. Im Gegenteil. Ich weiß: Viele gläubige Menschen empfinden ähnlich. Auch die neue Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland hat gezeigt: Die Bedeutung von Kirche nimmt dramatisch ab. Viele Menschen haben auch gar keinen Bedarf nach Religion mehr. Ich kenne allerdings etliche, die auf der Suche nach Spiritualität sind – die aber sagen: Dafür brauch ich die Kirche nicht. Vor diesem Hintergrund find ich spannend: Die Erfahrung „Ich kann auch ohne Kirche glauben“ ist eine Art christliche Tradition – und das nicht erst seit der Neuzeit.

Du musst deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegengehen

Die Bibel erzählt: Sogar Jesus ist zum Beten nicht nur in die Synagoge oder den Tempel gegangen, sondern auch auf Berge oder an einsame Orte. Die allerersten Christinnen und Christen haben sich deshalb auch nicht nur zu Gemeinden zusammengefunden, es gab auch die sogenannten Eremiten: Menschen, die bewusst die Abgeschiedenheit der Wüste gesucht haben. Sie wollten dort sich selbst und Gott begegnen. Später waren es dann die Mystikerinnen und Mystiker, die das Göttliche auch außerhalb heiliger Mauern erfuhren. Zum Beispiel Bernhard von Clairvaux. Der berühmte Heilige hat einmal gesagt: „Du musst deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegengehen.“ Ich finde dieses Zitat toll. Denn: Bernhard von Clairvaux war immerhin ein berühmter Mönch. Das heißt, er hat mit anderen Ordensleuten in einem Kloster gelebt, täglich in der Bibel gelesen, in der Kirche gebetet und Messe gefeiert. Trotzdem war er der Überzeugung: Gott ist schon vor alldem da. Und der Weg zu ihm ist nicht weit: „Du musst deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegengehen.“

Das ermutigt mich. Denn es bedeutet: Selbst, wenn ich nicht in die Kirche gehen kann oder will, bin ich Gott nahe – denn er wohnt in mir.

Musik

Es kommt vor, dass mir Manches im Gottesdienst die Andacht raubt

Gott wohnt in mir! Was für eine frohe Botschaft! Denn, um ehrlich zu sein: Mir fällt es seit ein paar Jahren echt schwer, sonntags in die Kirche zu gehen und „normale“ Gottesdienste zu besuchen. Einerseits merke ich: Ich hab mich verändert – schließlich bin ich keine 20 mehr und glaube deshalb auch anders als früher. Andererseits gibt es leider zu oft auch Vieles im Gottesdienst selber, was mich unruhig macht und mir die Andacht raubt. Zum Beispiel: Wenn die Messe irgendwie lieblos durchgezogen wird. Wenn mir während einer Predigt das Gefühl gegeben wird: Ich glaube irgendwie falsch. Wenn Priester behaupten: Menschen, die leiden, seien selbst dran schuld, sie hätten einfach nicht genug gebetet. Dazu kommen dann noch meine Grübeleien zu längst überfälligen Strukturreformen, Geschlechterungerechtigkeit und Machtmissbrauch in dieser Kirche. Nein, erbaulich ist das nicht.

Die Gemeinschaft und die Atmosphäre fehlen mir oft

Ich gebe zu: Die Gemeinschaft und die Atmosphäre fehlen mir oft. Deshalb suche ich mir ab und zu gezielt besondere Gottesdienste aus: Taizégebete finde ich zum Beispiel klasse. Oder ich fahre in ein nahegelegenes Kloster, um den Nonnen beim Stundengebet zu lauschen.

Kirche kann Suchenden etwas geben – nicht nur im Gottesdienst

Aber: Obwohl es so schwierig geworden ist, bin ich noch in der Kirche, ich bin nicht ausgetreten - ich arbeite ja sogar für sie. Denn: Ich mache nach wie vor die Erfahrung: Kirche kann suchenden Menschen etwas geben. Sie kann die Verbundenheit mit Gott erlebbar und spürbar machen. Ja, das kann in einem Gottesdienst und in einer Kirche aus Stein passieren – aber eben nicht nur dort.

Gott finden bei Outdoor-Seelsorge in der Natur

Vor gut einem Jahr habe ich meinen beruflichen Schwerpunkt auf Outdoor-Seelsorge verlagern dürfen - im Dienst der katholischen Kirche. Ich gehe mit Menschen in die Natur und versuche, mit ihnen gemeinsam Symbole und Begriffe für ihre Erfahrungen zu finden. Viele erleben die Natur dabei als einen Raum, in dem sie sich selbst und ihren Gefühlen und Sehnsüchten, ihrem innersten Kern, begegnen. Oder, wie Bernhard von Clairvaux und viele andere Mystiker glauben: Wenn ich mir selbst begegne, dann begegne ich Gott – denn Gott wohnt in mir.

Ich gehe in die Kirche, weil ich da mal meine Ruhe hab'

Sind Kirchengebäude aus Stein also überflüssig? Ich glaube nicht. Ich erinnere mich gern an meine Oma, die mal gesagt hat: „Ich geh vor allem in die Kirche, weil ich da mal meine Ruhe hab.“ Was im ersten Moment ziemlich unfromm klingt, scheint mir auf den zweiten Blick genau das zu sein, was Bernhard von Clairvaux auch gemeint hat: Gott kann ich dann begegnen, wenn ich mit mir selbst in Kontakt komme. Im Alltag meiner Oma war schlicht und ergreifend kein Platz für diese Art von Selbstbegegnung. Dafür war dann die Zeit in der Kirche da, denn da durfte sie einfach sein, da wollte niemand was von ihr.

Diese Wirkung spüre ich manchmal, wenn ich in eine fremde Kirche gehe

Von dieser Wirkung spüre ich manchmal im Urlaub etwas: Wenn ich in eine fremde Kirche gehe, in der gerade kein Gottesdienst stattfindet, fühle ich mich dort sofort entschleunigt und beruhigt. Ich kann mich ausruhen, nachdenken. Mir bewusst machen: Gott ist da, er wohnt in mir. Und dann gehe ich gestärkt wieder hinaus und weiter.

Musik

Kirche bedeutet für mich: Zusammen unterwegs sein

Gott wohnt in mir! Aber: Diese Erfahrung spricht weder gegen Kirchengebäude noch gegen die Kirche als Institution. Kirche bedeutet für mich: Zusammen unterwegs sein und sich gegenseitig helfen, das Leben zu deuten. Einen Sinn suchen und ihn darin finden, dass ich nicht alleine bin. Dass Gott da ist und mitgeht, immer und überall. In diesem Geist fand schon in den 1960er Jahren das II. Vatikanischen Konzil statt, die berühmte Versammlung aller katholischen Bischöfe der Welt in Rom. Eine zentrale Aussage des Konzils ist, dass Christen als Weggemeinschaft und „pilgerndes Gottesvolk“ unterwegs sind (vgl. zum Beispiel Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ Nr. 1,  Ökumenismusdekret „Unitatis Redintegratio“ Nr. 6, Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ Nr. 7, Missionsdekret „Ad Gentes“ Nr. 2 u.a.).

Ich verstehe Kirche als lebendiges, bewegliches Gebilde

Ja, manchem ist das vielleicht zu wenig kirchliches Profil und Tradition. Aber: Genau so versteh ich Kirche: als grenzenloses, sozusagen fluides Gebilde, veränderbar, lebendig und beweglich. Und genau darin besteht auch ihr Profil! Das griechische Wort „katholos“, von dem sich „katholisch“ ableitet, bedeutet im ursprünglichen Sinn ja genau das: allumfassend, grenzenlos!

Gott begegnen kann ich in der Kirche, der Natur, der Musik…

„Ich muss nicht in die Kirche gehen, um Gott zu begegnen.“ Nein – aber ich kann. Nächsten Sonntag beginnt der Advent, bald ist schon Weihnachten. Und ich überlege gerade: Soll ich in dieser besonderen Zeit vielleicht mal wieder häufiger in die Kirche gehen? Es muss ja nicht die Sonntagsmesse sein. Vielleicht treff ich mich einfach mal abends dort mit ein paar anderen und singe Adventslieder. Oder gehe zu den Frühschichten, die in unserer Gemeinde angeboten werden. Aber ich bin noch unentschlossen. Kirche kann ein Ort der Gottesbegegnung sein. Aber ebenso kann es die Natur, Musik oder Zeit mit einem lieben Menschen sein.

Diesen Advent will ich mir Zeit nehmen, bei mir selbst anzukommen

Im Advent bereiten sich Christinnen und Christen auf die Ankunft Gottes in dieser Welt vor, auf die Geburt seines Sohnes Jesus. Advent bedeutet wörtlich „Ankunft“: Vielleicht nehme ich mir in diesem Advent erst einmal Zeit, bei mir selbst anzukommen. Dabei helfen mir Spaziergänge, Tagebuchschreiben, das Handy ausschalten oder weglegen. In die Sauna gehen. Tiefgründige Gespräche. Ich glaube: Ich freu mich auf diesen Advent, auf diese Ankunft bei mir selbst – ob mit Kirche oder ohne. Denn Gott ist auf jeden Fall dabei.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren