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„Die Welt steht Kopf“ von Demenz und anderen Schleiern
Bild: unsplash / Trevin Rudy

„Die Welt steht Kopf“ von Demenz und anderen Schleiern

Norbert Mecke
Ein Beitrag von Norbert Mecke, Dekan, Evangelischer Kirchenkreis Melsungen
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Es ist eine gigantische Zahl: 1,8 Millionen Deutsche sind von Demenz betroffen. Kaum einer von uns, der nicht mindestens einen Angehörigen, eine Bekannte oder einen Nachbarn vor Augen hat, dem die Krankheit das Erinnerungsvermögen vernebelt und die Alltagsroutinen raubt.

Demenz - kann zum Weinen sein

Demenz kann zum Weinen sein: Ich sitze als gut 20-jähriger bei Großmutter im Pflegezimmer. Sie hat mich fröhlich mit Namen begrüßt und gefragt: „Wie geht´s, mein Junge?!“. 30 Minuten später klopft es. Mein Vater, also ihr Sohn, kommt in den Raum – und sie zeigt auf ihn und fragt mich: „Was will der Fremde in meinem Zimmer?!“ Da flossen bei meinem Vater und mir die Tränen.

Demenz - kann auch mal humorvoll sein

Demenz - kann auch mal humorvoll sein: Wer sind Sie? Was machen Sie beruflich? Wo kommen Sie her? Diese Fragen habe ich in der letzten Stunde der hochbetagten Frau aus der Gemeinde beantwortet, die ich als Pfarrer besuche. Aber ihre Demenzerkrankung legt Mal um Mal unerbittlich den Schleier über das noch eben Gehörte. Sie wisse auch nicht genau, wer, was und wo sie sei, sagt sie, und das würde uns ja dann verbinden. Im Fünfminutentakt erkläre ich ihr, dass sie heute 92. Geburtstag hat. Jedes Mal bildet sich mit verschmitzten Grübchen ein wunderschönes Schmunzeln: „So alt wird kein Schwein, junger Mann. Dann können Sie mir ja gratulieren!“ Getan, fröhlich gedankt bekommen, wieder vergessen – aber die Herzlichkeit im Raum verfliegt im Unterschied zur Erinnerung nicht. Als ich von dem erzähle, was ich aus ihrer Lebensgeschichte weiß, greift sie meine Hand und sagt: „Sie kennen mich ja besser als ich! Sie wissen, wer ich bin – oder?“ Als dieser Satz das dritte Mal fällt, klingt er sehnsüchtig: vielleicht aber auch nur in mir. 

Gut jemanden zu haben, der weiß wer ich bin

Gekannt zu sein und jemanden zu haben, der weiß, wer ich bin, selbst dann, wenn ich mich verliere – das wäre einen Glückwunsch wert! Ein Hoffnungssatz der Bibel lautet: „Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber – ganz bei Gott – werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“(1Kor 13,12)

Und als würde Gott meine Gedanken mit einem Schuss himmlischen Humors bestätigen, sagt die alte Dame beim Abschied unvermittelt: 

„Ich weiß ja nicht, was Sie so machen, aber aus Ihnen wäre auch ein guter Pfarrer geworden!“ 

Demenz – „die Welt steht Kopf“ – mit diesem Satz beschreibt die deutsche Alzheimergesellschaft mit einem treffenden Bild, was Demenz für Betroffenen und Angehörige bedeutet.

Welche Gefühle Demenz umfasst und hervorruft

Wenn ich einen Kopfstand mache, kann ich schnell rot anlaufen. Bei Demenz auch. Vor Angst, ob es mich mal trifft. Oder, ob und wie lange ich das schaffe mit einem dementen Angehörigen. Es macht traurig, was da zwischen den Fingern zerrinnt. Und wütend: dass sich das Blatt nicht wendet, die Erkrankung schlimmer wird. Wie sich die Rollen, die doch so sicher schienen, zwischen Kindern und Eltern neu ausbalancieren – plötzlich ist der Sohn oder die Tochter Verwalter, Buchhalterin, Anwalt der Realität, Einkäufer und Haushaltsmanagerin. Dabei haben früher die Eltern sie immer so souverän versorgt. Schmerzlich. Anstrengend. Wenn manchmal eine ganze Welt verloren geht: Ohnmacht. Da ist der Scham, wenn jemand kaschieren will, was ihm abhandenkommt an Vermögen. Und da ist das Schuldgefühl, wenn einem der Geduldsfaden reißt. Demenz stellt die Frage, wie gnädig wir mit uns und anderen umgehen, wenn der Kopf macht, was er will. Und was gibt Betroffenen und Angehörigen Halt?

Nichts ist sicher lehrt uns diese Krankheit

Denn das lehrt uns doch diese Krankheit und die 1,8 Millionen Betroffenen in unserem Land oder der eine Nachbar, die Freundin oder Angehörige:
Nichts ist sicher. Nichts, was wir wissen oder können. Wir haben uns nicht in der Hand. In der Bibel ist das eine zutiefst geistliche Einsicht: Ein Mensch kann sich ganz verlieren. Hier in der Zeit und in Ewigkeit – wenn er nicht in guten Beziehungen steht, wenn er keinen hat, der weiß, wer er ist und war und bleibt. Wenn jemand fehlt, der mir von außen Halt und Liebe gibt, wenn mir alles entrinnt. Manchmal jetzt in den Irrungen und Wirrungen des Lebens, manchmal für uns sichtbar bei Dementen und ganz und gar im Sterben und Tod. Der Tod ist ja nicht nur etwas Körperliches, ein Stopp der Funktionen meines Leibes. Er ist die letzte Beziehungslosigkeit. Da bin ich mir ganz genommen und den anderen auch. Wo bin ich eigentlich zu Hause, wenn  mir alle Behausung und Beziehung genommen ist? 

Die Sehnsucht nach Zuhause 

„Ich will nach Hause!“ – wie oft habe ich im Park am Seniorenheim schon verirrte demente Menschen mit dieser Sehnsucht getroffen? Einfach losgelaufen. Zur Mutter, zum Vater, zu einem Ort – wer weiß wo. „Ich will nach Hause!“ 

Doch das Zuhause gibt es nicht mehr. Vater und Mutter sind schon lange gestorben. Da tut es gut, nichts zu erklären, sondern einfach die Person an die Hand zu nehmen und zu sagen: 

„Kommen Sie wir gehen dahin, wo Sie daheim sind! Da hin, wo man sie kennt!“

An Gott gebunden, gehe ich nicht verloren

„Komm mit mir dahin, wo Du daheim bist und bleibst! – Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen – schon eingerichtet für Dich!“, sagt Jesus einmal sinngemäß. (Joh. 14, 2)

Keiner geht verloren, der in diesem Vertrauen auf Gott zuhause ist. An Gott gebunden gehe ich nicht verloren.

Demenz lehrt: Wir sind uns schnell gleicher als viele oft denken. Die Professorin wie der Arbeiter, die Chefin wie der Angestellte, der vermeintliche Macher wie der „kleine Mann“. Wir stehen auf dem gleichen schwankenden Boden. Wir brauchen liebevolle Beziehungen, die Halt geben, und ein wohlwollendes Umfeld. 

Brückenbauer gesucht

Wir brauchen das schon jetzt, um gut leben zu können. Und erst recht bei eigenem Kraft- und Denkverlust: Wir brauchen Menschen, die Brücken bauen: in meine Welt, wenn mir ihre verloren geht. Die mich nicht als „irre“ abstempeln, sondern annehmen, bei Flausen im Kopf, bei Honig im Kopf. 

Menschen haben Jesus als so eine Brücke Gottes in unsere – mitunter irre und auf dem Kopf stehende – Welt erlebt. Er erzählt davon, dass unsere Persönlichkeit, unsere Identität mit Gott verknüpft ist und bleibt. Dafür geht er in die Häuser. Und stellt Himmel und Erde auf den Kopf, indem er Gottes bedingungslose Liebe vorlebt: Das Stärkste ist die Liebe, die alles gibt. So ist Gott zu mir. In allem. Trotz allem.

Gottes Liebe - Raum und Zuhause 

Ich erkenne nur stückweise: mich, Gott. Aber vertraue, dass ich von Angesicht zu Angesicht Gott bekannt bin. Seine Liebe bleibt – als Raum, in dem ich lebe, als Zuhause, von dem ich herkomme, und zu dem hin ich auf dem Weg bin.

Ich weiß: Das schützt nicht vor Demenz und macht den Umgang damit nicht leichter. Aber es macht mich gelassener, das Stückwerk, das Fragment zu sein, das ich nun mal bin und das sich im Altern noch mehr zeigen wird: 

Und wenn die Hände, das Herz und einmal der Verstand noch so leer sind oder sein werden – Gott webt mich fest ein in seine Geschichte. Dass weiß schon das Alte Testament, wenn dort von Gott gesagt wird: 

Gottes Zusage: „ich vergesse dich nicht“

„Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen und seinem Schicksal überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde – ich vergesse dich niemals!“ (Jes. 49, 15)
Da kennt einer mich und Dich und die Menschen, um die wir uns Sorgen machen - und stellt das Leben immer wieder vom Kopf auf die Beine. 
 

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